Tippelt über Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte

IASLonline


Rudolf Tippelt

Sozialisations-, Enkulturations-
und Bildungsinstanzen in der DDR
und den Neuen Bundesländern

Kurzrezension zu
  • Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band VI. 1945 bis zur Gegenwart. Zweiter Teilband, Deutsche Demokratische Republik und Neue Bundesländer. Hg. von Christoph Führ u. Carl-Ludwig Furck. München: C.H. Beck 1998. XXIV, 468 S. 15 Abb. 39 Tab. Geb. DM 188,-.
    ISBN 3-406-42931-9.


Der vorliegende Band des insgesamt auf 6 Bände angelegten Projekts Handbuch der Deutschen Bildungsgeschichte erfüllt mit seiner umfassenden Einführung, den neun inhaltlichen Kapiteln und der Schlußbetrachtung sowie eines informativen Anhangs die hohen Erwartungen, die durch die bereits vorliegenden Bände des Handbuchs der Deutschen Bildungsgeschichte gegeben sind. Die meisten Autoren des vorliegenden Handbuchs haben bereits vor 1989 einschlägige Arbeiten zur Bildungsentwicklung der DDR vorgelegt. Ohne Zweifel verfügt das Autorenteam über breite Erfahrung und hohe inhaltliche Kompetenz: Den Herausgebern ist es gelungen, neben etablierten westdeutschen DDR-Experten wie S. Baske, W. Mitter, F. Busch, H. Siebert, D. Waterkamp auch Autoren aus der ehemaligen DDR, die bereits in den 70er Jahren in Forschungsinstitutionen bildungshistorische Arbeiten vorlegten, für die Mitarbeit zu gewinnen, z.B. G. Geissler oder U. Wiegmann in der Akademie der pädagogischen Wissenschaften und D. Wiedemann im Zentralinstitut für Jugendforschung.

In der Einführung von S. Baske, L. Reuter und K. Dienst wird über die gesellschaftlichen Grund- und Rahmenbedingungen, die rechtlichen Grundlagen, die administrativen Bedingungen und über die Bildungspolitik in ihrem Verhältnis zu den Kirchen sehr detailliert informiert. Unverkennbar ist bei S. Baske ein totalitarismus-theoretischer Ansatz, der bei den analysierten Entwicklungen den totalitären Führungs- und Steuerungsanspruch der SED betont. Baske sucht die fundamentalen Voraussetzungen für alle Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens in den Prinzipien der marxistisch-leninistisch bestimmten Gesellschaftsordnung und sieht die Integration in ein Bündnissystem, das unter der Führung der Sowjetunion die kommunistisch regierten Staaten zusammenschloss, als die wesentliche Voraussetzung für die Gestaltung auch des Bildungs- und Erziehungsbereichs.

Der vorliegende Band zeigt, dass diese Ausgangsthese heute für verschiedene Bereiche differenzierter formuliert werden kann. Die thematisch weit gefächerte Sekundärliteratur, das multidisziplinäre Spektrum moderner Bildungsforschung und auch die Ergebnisse benachbarter Forschungen in der Sozialgeschichte haben in den 90er Jahren die Interpretationsbasis zur Bildungsgeschichte erheblich erweitern können. Die sehr interessante Skizze zur bildungshistorischen Forschung in der SBZ / DDR und nach der Wende in den Neuen Bundesländern von Gerd Geissler und Ulrich Wiegmann macht deutlich, dass wegen dem relativ frühen Zeitpunkt des Redaktionsschlusses des vorliegenden Bandes interessante Ergebnisse und Archivmaterial, das erst ab Mitte bis Ende der 90er Jahre zugänglich wurde, noch nicht in die Interpretation der veröffentlichten Bildungsgeschichte Eingang finden konnte. In den 90er Jahren war ein hohes Forschungsinteresse an der Bildungsgeschichte der DDR erkennbar. Mittlerweile sind Ergebnisse längerfristig angelegter Studien und von der DFG geförderter Untersuchungen zu Kontinuität und Wandel von Bildung und Schule im Transformationsprozess von SBZ / DDR und in den Neuen Ländern erschienen.

Diese neuen Ergebnisse können weitere Aufschlüsse über das Verhältnis von Erziehungskonzeptionen an Schulen und dem Umgang mit parteizentrierter Indoktrination geben, analysieren das Verhältnis von Bildungstheorie und Schule genauer und geben auch Aufschluss über regionale Schulentwicklungen. Es fällt auf, dass die Bildungsgeschichte der DDR, noch in der DDR betrieben, in erster Linie Schulgeschichte war. Die allgemeinbildende Schule galt als Kern des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems, weil sie alle Heranwachsenden integrierte und über die Eltern und Lehrer auch unmittelbar Bedeutung für die Mehrheit der Bevölkerung hatte. Es ist daher gut nachvollziehbar, wenn die Schule und ihr Umfeld auch im vorliegenden Band den Fokus des Forschungsinteresses darstellt. Die Berufs- und Erwachsenenbildung, aber auch das Hochschulwesen wurden in der ehemaligen DDR offenbar weniger untersucht.

Um so höher ist einzuschätzen, dass neben den im vorliegenden Band valide dokumentierten Veränderungen des Institutionensystems — insbesondere der Schule — im ersten Kapitel Lebenswelten und Alltagswissen (Dieter Wiedemann), im zweiten Kapitel Familie, Kindheit, Jugend (Friedrich W. Busch und Dieter Wiedemann), im fünften Kapitel die Berufsbildung (Dietmar Waterkamp), im sechsten Kapitel die Sozialpädagogik (Walter Hornstein und Werner Schefold), im siebten Kapitel die Erwachsenenbildung (Horst Siebert), im achten, sehr spannend zu lesenden Kapitel die Medien (Hannes Schwenger) und im neunten Kapitel die Wehrerziehung (Gert Geissler und Ulrich Wiegmann) äußerst informativ und empirisch gehaltvoll dokumentiert und analysiert sind. Die Entwicklungen in den Neuen Ländern zwischen 1990 und 1995 sind in einem eigenen Teil dargelegt: zum Schulwesen (Hans Döbert und Christoph Führ), zum Hochschulwesen (Dieter Simon) und zur bildungshistorischen DDR-Forschung nach der Wende (Gert Geissler und Ulrich Wiegmann). Die jeweiligen Ergebnisse ergeben einen guten Einblick in die Prozesse des Wandels bis etwa 1995.

Zu den Stärken des vorliegenden Bandes gehört die einerseits präzise, informationshaltige und theoretisch begründete periodisierende Darstellung der Schul- und Hochschulentwicklung auf institutioneller und rechtlicher Ebene, andererseits im Kontrast hierzu die in mehreren Artikeln analysierte Alltagskultur und reale Lebenswelt der Heranwachsenden. Insbesondere von Baske und Reutter wird mit großer Expertise auf der Grundlage von Gesetzen, Direktiven und Erlassen die Analyse der bildungspolitischen Intentionen genau rekonstruiert.

Die Grundlagen des pädagogischen Denkens bestanden in der DDR dabei sicher in der Bindung an den Marxismus / Leninismus, der Übernahme der sowjetorientierten Pädagogik, der polytechnischen Bildungsidee, der Einheit von Ökonomie und Bildung. In der neueren, archivgestützten Forschung der 90er Jahre, die sich der Rekonstruktion der Pädagogik und ihrer Teildisziplinen zuwandte, wird davor gewarnt, die damalige Selbstetikettierung der offiziellen pädagogischen Geschichtsschreibung der DDR, wie sie in den bekannten Grundlagen des pädagogischen Denkens zum Ausdruck kommen, für die Realgeschichte zu nehmen.

Die Analysen über Medien, Literatur, Theater, Konzert und Museum, aber auch zu Presse, Film, Hörfunk, Fernsehen und auch jugendkulturell wichtige Szenen ergänzen die strikt institutionen-orientierten Beiträge einiger Autoren, um wichtige andere Perspektiven. Durch diese zusätzlichen Perspektiven bleibt das Werk nicht auf administrativ-politische Einsichten konzentriert. In der Tradition der bürgerlichen Hochkultur und in den traditionalen Leitmedien Konzert, Theater und Literatur, denen insbesondere bis in die 70er Jahre eine herausgehobene Bedeutung zugeschrieben wurde, kommen gewisse kulturelle Konvergenzen zur Entwicklung in der frühen Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck.

Gleichzeitig lassen sich in den Traditionen der Sozialpädagogik und der außerschulischen Jugendbildung — trotz der offiziell verbalisierten Distanz — auch Kontinuitäten zum Nationalsozialismus erkennen. In der Politisierung und Formierung der FDJ, in der vormilitärischen Ausbildung, in der Jugendhilfe und in den Jugendwerkhöfen, insgesamt in der erziehenden Staatspädagogik zeigen sich deutlich manipulative und umerziehende Zugriffsversuche auf Heranwachsende. Aber auch hier muss die Differenz zwischen totalitären Intentionen und realen Wirkungen berücksichtigt bleiben. Indoktrination gelang oft nicht und das vorliegende Handbuch gibt — durch Forschung weiter zu vertiefende — wichtige Hinweise auf Gründe für auch gegebene Distanzierung und Distanzsuche wichtiger Bevölkerungsgruppen: Verschiedene und sich manchmal widersprechende Sozialisationserfahrungen in der Familie, dem Freundeskreis, den Kirchen und den Medien, das sicher hohe Abstraktions- und Reflexionsniveau durch einen auch in internationalen Studien anerkannten qualitativ guten — insbesondere naturwissenschaftlichen — Fachunterricht und die "eigensinnige" Aneignung der Wirklichkeit durch die lernenden Subjekte. Die Grenzen planender Erziehung werden sichtbar.

Allerdings werfen die positiven Bezüge auf den polytechnischen Unterricht auch kritische Fragen auf, wenn man die Verteilung der Bildungschancen und insbesondere die Mechanismen des Hochschulzugangs betrachtet, denn die scharfe Selektion beim Übergang von der EOS auf die Hochschule und die relativ geringen Abiturientenquoten eines Altersjahrgangs (bei 14%) waren sicher problematische Ergebnisse sozialistischer Schul- und Hochschulpolitik.

Sehr aufschlussreich ist die Skizze zur bildungshistorischen Forschung in der SBZ / DDR vor und nach der Wende von Gert Geissler und Ulrich Wiegmann. Sie zeigen unter Rückgriff auf die verschiedenen Traditionen bildungshistorischer Forschung zum Bildungswesen der DDR im Osten und im Westen Forschungsdesiderate und unbearbeitete Themenfelder auf. Im Osten sei das Verhältnis von Staat und Kirche kein Thema der Forschung gewesen und Sozial- und Alltagsgeschichte sind trotz der materialistischen Ansprüche offenbar kaum erforscht worden. Letztlich ist dadurch eine hochselektive Geschichtsschreibung entstanden, die für die Darstellung und Legitimierung schulpolitischer Erfolge instrumentalisiert wurde. Dennoch

entstanden Arbeiten, die wegen ihres Sachgehalts von Wert sind, kritische wissenschaftliche Akzeptanz in der alten Bundesrepublik fanden und wie die vergangene Wissenschaftsproduktion insgesamt Teil von Wissenschaftsgeschichte sind, wenn auch einer, auf der die Politik bedrückend lastet. (S. 398)

Die westdeutsche Forschung dagegen habe die parteipolitische Ausrichtung der Bildungsgeschichte in der DDR kontinuierlich vermerkt, aber mangels Quellenzugang und begrenzter wissenschaftlicher Recherchemöglichkeiten vor 1990 nur wenig wirklich Ergänzendes zur Erforschung der DDR berichten können. Die Autoren kritisieren, dass im Westen die politische Aufarbeitung die historische Forschung dominierte. Im vorliegenden Band dagegen, so lässt sich festhalten, werden die Stärken und Schwächen des Bildungswesens der DDR wissenschaftlich klar und schonungslos analysiert. Zurückhaltend bleibt der vorliegende Band allerdings hinsichtlich der Reformen von Bildungspolitik oder der Revision von Erziehungstheorie und Erziehungspraxis in Ost und West.

Dennoch ist hervorzuheben, dass die historische Bildungsforschung im vorliegenden Band zu einem Perspektivenreichtum kommt, der an Intensität und Informationsdichte kaum zu übertreffen ist. Das bildungshistoriographische Material ist Anlass dafür, erneut über die Begriffe "Erziehungsstaat" und "Staatspädagogik" nachzudenken. Die vergleichende Totalitarismusforschung hat sich offenbar der DDR-Bildungsgeschichte angenommen, wie die einleitenden Artikel des Bandes zeigen, andererseits wird auch deutlich, dass es Forschungen zu Bildungs-, Erziehungs- und Jugendfragen gibt, die das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität der Bildungsentwicklung nach 1930 analysieren. Die mittlerweile breit gefächerten und ehemals herrschaftsinternen Materialien lassen eine intensivere alltagsgeschichtliche Forschung zur Erziehungsgeschichte der DDR erwarten. Die neueren Quellen könnten dazu beitragen, dass neben der Rekonstruktion zentralistischer bildungspolitischer Entscheidungen auch regionale und lokale Entwicklungen dokumentiert werden können.

Während des Zusammenbruchs der DDR geriet auch das Verhältnis von DDR-Pädagogik und Reformpädagogik in das Zentrum von Forschungsinteresses. Auch wenn dieses Thema daher präsent ist, können die bildungs- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontroversen über die Bedeutung der Reformpädagogik in der alten Bundesrepublik Deutschland und in der ehemaligen DDR noch nicht als abgeschlossen gelten. Der vorliegende Band zeigt auf, wie problematisch politische und ideologische Fixierungen für die verschiedenen pädagogischen Bereiche waren und verweist damit zugleich auf die große Bedeutung selbstreflexiver, rationaler und kritischer Kompetenzen einer Wissenschaft, in diesem Falle der Pädagogik.

Die große Stärke des vorliegenden Bandes zur Bildungsgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik und der Neuen Bundesländer besteht zweifelsohne darin, dass die wichtigsten Sozialisations-, Enkulturations- und Bildungsinstanzen in ihrer ganzen Breite vorgestellt und analysiert werden. Obwohl die institutionellen und staatlichen Strukturen umfassend und auch theoriegeleitet analysiert sind, öffnet sich der Band auch gegenüber jugendkulturellen und lebensweltlichen pädagogischen Feldern, die sich stärker dem Selbstlernen oder traditionell gesprochen der Selbsttätigkeit, der sich bildenden Subjekte verpflichtet sehen. Dadurch vermittelt der Band die hohe Spannung zwischen institutionellen Intentionen und subjektiver Unberechenbarkeit menschlicher Entwicklung.


Prof. Dr. Rudolf Tippelt
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Pädagogik
Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung
Leopoldstr. 13
D-80802 München

Ins Netz gestellt am 09.10.2001
IASLonline

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von der Redaktion IASLonline. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez — Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]