Tischel über von Schnurbein: Krisen der Männlichkeit

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Alexandra Tischel

Das Rätsel Männlichkeit

  • Stefanie von Schnurbein: Krisen der Männlichkeit. Schreiben und Geschlechterdiskurs in skandinavischen Romanen seit 1890 (Europäische Literaturen und internationale Prozesse; 4) Göttingen: Wallstein 2001. 395 S. Kart. EUR (D) 34,00.
    ISBN 3-89244-441-2.


Innerhalb der Gender Studies hat die Untersuchung von Männlichkeitskonzepten in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Ursprünglich in den achtziger Jahren als Reaktion auf die feministischen Women's Studies und deren monolithisches, einseitig patriarchal definiertes Männerbild entstanden, haben es sich die Men's Studies (oder auch Studies on Masculinities) zur Aufgabe gemacht, die Vielfalt und historische Variabilität von Männlichkeitsentwürfen, Männerbildern und Männerstereotypen ebenso wie die Spezifik männlicher Bindungsstrukturen zu analysieren. Parallel zum Paradigmenwechsel von Women's zu Gender Studies sind inzwischen auch in den Men's Studies
(de)konstruktivistische Modelle an die Stelle von essentialistischen getreten; sie untersuchen nun die Konstruktionen von Männlichkeit im Spannungsfeld historischer, sexueller, politischer und ethnischer Differenzen. Hier reiht sich auch die skandinavistische Habilitationsschrift von Stefanie von Schnurbein ein, die sich den Krisen der Männlichkeit in Romanen der Jahrhundertwende, der Zwischenkriegszeit sowie der siebziger und achtziger Jahre widmet.

I. Zur Methode

Im Zentrum der Studie stehen sechs Romane – fünf skandinavische und ein deutscher –, die Schnurbein detailliert interpretiert und z.T. in Parallellektüren miteinander konfrontiert: Knut Faldbakkens Roman Glahn (1985) wird gemeinsam mit Knut Hamsuns Pan (1894) gelesen, dessen Handlungstruktur und Personenkonstellation er aufgreift. Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) werden in Bezug zu Hans-Jørgen Nielsens Roman Fodboldenglen (1979) gesetzt, der sich wiederholt auf Rilkes Werk beruft. Ein weiteres Kapitel widmet sich Aksel Sandemoses En flyktning krysser sitt spor (1933); die abschließenden Überlegungen der Studie zentrieren sich um August Strindbergs Le Plaidoyer d'un Fou (1895).

Diese Textauswahl mutet zunächst überraschend an: Angesichts des dezidierten Ziels der Studie, nämlich der "Rekonstruktion eines literarischen Diskurses über Männlichkeit und deren Krisen, der gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts begründet und am Ende dieses Jahrhunderts wieder aufgenommen und variiert wird" (S.13), erscheint das Textkorpus etwas schmal, zumal ein wichtiger Autor wie Strindberg nur in den Schlußüberlegungen seinen Platz findet und die Literatur von Frauen anscheinend zu diesem Diskurs nichts beizutragen hat.

Schnurbeins Studie überzeugt dann aber durch ihre facettenreichen und vielschichtigen Analysen, die sich theoretisch vor allem auf die psychoanalytische Theoriebildung stützen, aber auch größere diskursive Kontexte wie die Sexualitäts- und Krankheitsdebatte um 1900 einbeziehen. Die Verfasserin begründet ihre theoretische Ausrichtung in doppelter Hinsicht: Zum einen bezieht sich die Männlichkeitsforschung selbst vornehmlich auf psychoanalytische bzw. psychologische Theorien, um ihren Gegenstand zu definieren, zum anderen rekurrieren die literarischen Texte ebenfalls auf dieselben. Zumindest die Autoren der siebziger und achtziger Jahre haben die psychoanalytische Theoriebildung (vor allem in Gestalt der Objektbeziehungstheorien und der Narzißmustheorien) rezipiert. Auch die Autoren der Jahrhundertwende bewegen sich, sei es in polemischer Abgrenzung oder in interessierter Nähe, im Vorfeld bzw. (wie Rilke) im Umkreis der sich herausbildenden Psychoanalyse Freuds und seiner Nachfolger. Die Theorien sollen daher als >Intertexte< (S.19) fungieren, die den weiteren Diskussionszusammenhang zur Konzeptionalisierung von Männlichkeit in den literarischen Werken bilden.

II. Sexualität

In der Studie lassen sich drei Themenschwerpunkte bezüglich der Untersuchung von Männlichkeit ausmachen: Sexualität, Familie und Gesellschaft. In der Parallellektüre der Romane von Faldbakken und Hamsun steht zunächst der Bereich der Sexualität im Vordergrund: Männlichkeit wird hier im Spannungsfeld von Homosexualität, Fetischismus, Narzißmus und Sadomasochismus analysiert. Faldbakken selbst liest in seinem Roman das in Pan repräsentierte Männlichkeitskonzept >gegen den Strich<. Mittels Veränderungen von Handlungskonstellation und -verlauf arbeitet er die homosozialen und -sexuellen Aspekte ebenso wie die ambivalente und letztlich gewalttätige Position gegenüber Frauen heraus, die für das bei Hamsun dargestellte Männlichkeitskonzept charakteristisch sind. Zugleich zeugt diese kritische Bearbeitung aber, so macht Schnurbein deutlich, von einer Verengung des Blicks bei Faldbakken selbst: Die bei Hamsum durchaus erkennbare Überschreitung von Geschlechtergrenzen wird nämlich von Faldbakken zugunsten der Kritik an dessen Männlichkeitskonzept eliminiert. Schnurbein erklärt dies mit den unterschiedlichen Diskurskontexten, in die beide Romane eingebettet sind. Hier scheint ein Problem auf, das in der Studie verschiedentlich begegnet und das das nicht hinreichend geklärte Verhältnis von Literatur und Theorie betrifft: Da dieselben Theorien zugleich als Instrumentarium zur Analyse der literarischen Texte und als deren diskursiver Kontext genutzt werden, drängt sich der Eindruck einer gewissen Zirkularität auf, zumal, wenn sie dann auch noch als kausaler Grund für die historischen Veränderungen der jeweiligen Männlichkeitskonzeptionen dienen sollen.

III. Familienbande

Das anschließende Kapitel zu Nielsen und Rilke beleuchtet Männlichkeit stärker in familialen Konstellationen: Narzißtische Größenphantasien, dominante Mütter und schwache Väter stecken das Feld ab, auf dem sich das jeweilige Drama des begabten Knaben ereignet. Als Gegenpol zur familiären Dominanz der Mutter erweisen sich männerbündische Strukturen (u.a. das Fußballspiel), die latent homoerotisch kodiert sind. Während damit zunächst postfreudianische Theorien auf den Autor der Jahrhundertwende angewandt werden, wird anschließend der Krankheitsdiskurs um 1900 herangezogen, um die Krisenerfahrung von Nielsens Protagonisten zu klären.

Gerade am Beispiel Nielsen / Rilke zeigt sich die Fruchtbarkeit, aber auch die Gefahr der Parallellektüren Schnurbeins: Zum einen gelingt es ihr –: und das ist die große Stärke ihrer Textanalysen –, über die Parallelisierung neue Fragestellungen an altbekannte Texte zu adressieren. Zum anderen fördert genau das aber die Tendenz zur ahistorischen Identifikation der jeweiligen Texte und zur Verwischung ihrer historischen Differenzen, eine Tendenz, die psychoanalytischer Theoriebildung ohnehin eignet. Auch überrascht gerade hinsichtlich Rilkes das Festhalten an einer Theoriebildung, die weniger (de)konstruktivistisch als normativ ist. So heißt es etwa vom jungen Malte, er habe durch "narzißtische[ ] Besetzungen" "zu früh ein pseudo-erwachsenes Selbst entwickelt", sein Selbstgefühl bleibe daher "ohne authentische Substanz" (S. 143). Hier drängt sich doch der Gedanke auf, ob Rilke nicht vielmehr in einer Radikalität die Fragilität von Identitätskonstruktionen aufzeigt, die die genannten Theorien gar nicht denken können.

IV. Gesellschaftszwänge

Im folgenden Kapitel zu Sandemose wird nun die Verbindung von Männlichkeitskonzepten und Gesellschafts- und Machtstrukturen sichtbar. Sandemose greift in seinem Roman psychoanalytische Deutungsmuster auf, die er gesellschaftskritisch wendet. So formuliert er das repressive "Jantegesetz"
(S. 240 f.), durch das die unterdrückten Arbeiter der Kleinstadt Jante ihre eigene Unterdrückung an ihre Kinder und Umgebung weitergeben. Als Ausdruck des >Maskulinismus< (S. 241) – mit Alfred Adler: des >männlichen Protestes< (S. 257) – soll es die Minderwertigkeitsgefühle der Männer überspielen. Die Kritik an den Männlichkeitsidealen Jantes erweist sich damit zugleich als Kritik der kapitalistischen Gesellschaftsform. Als dunkle Kehrseite des >Maskulinismus< ist die sexuelle Gewalt gegen Kinder zu deuten; sie scheint auch, wie Schnurbein vermutet, das "Trauma" (S. 290) darzustellen, das durch den vielumrätselten Mord überdeckt werden soll.

In ihren an Strindbergs Roman angelehnten Schlußüberlegungen vertieft Schnurbein die schon anläßlich von Sandemose formulierten Zusammenhänge zwischen Männlichkeitsidealen einerseits und Gesellschafts- und Machtstrukturen andererseits. Sie zeigt, welche Kontinuitäten von der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart die Diskussion um Männlichkeit dominieren: Elemente wie die Kritik an der >vaterlosen Gesellschaft< tauchen ebenso wie diffuse Matriarchatsängste und -sehnsüchte immer wieder auf.

Die geäußerten methodischen Vorbehalte ändern nichts am Verdienst der Studie, die durch ihre detaillierten Textanalysen zur Neubesichtigung der Texte anregt und zugleich durch die Ausblicke auf übergreifende kulturelle Diskussionszusammenhänge zu einer Revision der Identitäts- und Modernitätskrisen des 20. Jahrhunderts einlädt, die nun in ihrer geschlechtsspezifischen Ausprägung sichtbar werden. In dieser doppelten Hinsicht stellt die Arbeit einen gewichtigen Forschungsbeitrag dar, der Zweck und Nutzen der Männlichkeitsstudien einleuchtend vor Augen führt.


Dr. Alexandra Tischel
Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellignstraße 3
D-80799 München

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Ins Netz gestellt am 10.03.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Annegret Heitmann. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

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