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Marion Schmaus: Die poetische Konstruktion des Selbst.
Grenzgänge zwischen Frühromantik und Moderne: Novalis, Bachmann,
Christa Wolf, Foucault. (Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge 92)
Tübingen: Niemeyer 2000. 407 + IX S. Kart. DM 116,-
ISBN: 3-484-15092-0.
Marion Schmaus untersucht das frühromantische
Individualitätskonzept und seine Aktualisierung in Literatur und
Philosophie der Moderne nach 1945. Als Frühromantiker par excellence
fungiert Friedrich von Hardenberg (Novalis). Er habe in seinen
philosophischen Studien die Widerspruchsstruktur des Ich, das sich als
identisch und zugleich geteilt erfährt, aufgezeigt und die Poesie als
das Medium konzipiert, in dem dieser Widerspruch durch dialogische
Selbstvermittlung aufgehoben werden könne. In dieser im Wortsinne
"autobiographischen" Tätigkeit bringe sich das Selbst
schreibend hervor, >konstruiere< (Novalis) es sich in unendlicher,
herrschaftsfreier Selbstvermittlung. Insofern fielen in der Kunstproduktion
poetische Tätigkeit und ethisches Handeln in eins, und dies wiederum
ermögliche die Überführung dieses Handlungsmodells in eine
Ethik der >Lebenskunst< (Novalis). Diese Verbindung von Philosophie und
Literatur, Ethik und Ästhetik im Blick auf den Entwurf eines Selbst habe
auch die Romantik-Rezeption dreier bedeutender AutorInnen des 20.
Jahrhunderts geprägt: Ingeborg Bachmann, Christa Wolf und Michel
Foucault.
I. Novalis: "Ich ist eine Kunst - ein Kunstwerck"
Philosophische Voraussetzungen: Pluralisierung des Ich
Der Ausgangspunkt Novalis ist sehr gut gewählt. Denn
Hardenberg hat von Kant und Fichte die erkenntnistheoretische Frage nach der
Möglichkeit von Selbstbewußtsein übernommen und zu ihrer
Beantwortung wie kein zweiter Autor seiner Zeit die Konstruktion des Selbst
als philosophisch-poetischen Vermittlungsprozeß entworfen. Die
Philosophie wird als Theorie, die Poesie als Praxis unendlicher
Selbstvermittlung konzipiert, die möglich wird durch die produktive
Einbildungskraft. Das ist in der jüngeren Forschung mehrfach gezeigt
worden. Schmaus ist mit ihr bestens vertraut und skizziert noch einmal sehr
souverän die Zusammenhänge: den Ausgang von der
Selbstbewußtseinsproblematik, den Rollentausch von Selbstgefühl
und Selbstgedanke, die Verzeitlichung des Selbstbewußtseins, das
absolute Ich als regulative Idee und den Zusammenhang von narrativer
Konstruktion und Lebenskunstlehre. Es werden jedoch auch neue Akzente
gesetzt, insbesondere bei der Interpretation der Abhandlung Des
Dichters Reich im Kontext der Fichte-Studien (S. 27-31). Ein
besonderes Augenmerk gilt selbstverständlich dem Zusammenhang von Ethik
und Ästhetik, den die "freie" Tätigkeit der
Einbildungskraft verbürgt. Die Einbildungskraft fungiert dabei als
Surrogat des Absoluten im Endlichen. Ihr Produkt, das Kunstwerk, macht
für das Ich in einer momentanen Einheitserfahrung anschaulich, was es
selbst ist: Selbstvermittlung. Das geschieht jedoch nur in einer symbolischen
Repräsentation, vor deren Verwechslung mit dem Symbolisierten Novalis
nachdrücklich gewarnt hat.
Die eigentliche Pointe des Verhältnisses von Ethik und
Ästhetik liegt aber erst im Übergang zu einer Lebenskunstlehre, bei
der der ästhetische Blick auch auf Dinge der äußeren Welt
gerichtet wird. Bei diesem >magischen Idealismus< handelt es sich nicht um
eine creatio ex nihilo, sondern um ein Romantisieren von Gegebenem, um eine
Konstruktion von >Realität<, wobei >Realität< als
Relationalität gefaßt ist: Es geht um angeeignete Wirklichkeit,
die im Wechselverhältnis von Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt,
innerer und äußerer Welt konstituiert wird. In diesem Grenzgang
konstituiert sich der Mensch, und er tut es dann angemessen, wenn er dabei
die >schöpferische Einbildungskraft< in sich ausbildet und eine innere
Stimmenvielfalt erzeugt, durch die er, Novalis' Begriffsbestimmung zufolge,
zum Genie wird.
Diese Pluralisierung des Ich ist schon in den
Fichte-Studien angelegt, wenn dort programmatisch das Fichtesche Nicht-Ich
durch ein Du ersetzt wird. Später wird dann wie selbstverständlich
die Liebe zum Pendant der Einbildungskraft. Die poetische Handlungsweise ist
die höchste Form der Praxis, nicht nur weil ihr die Theorie selbst noch
immanent ist, sondern auch weil sie "die sittlichste Form der Handlung
als Liebesbeziehung gleichberechtigter Partner ist" (S. 52). Zur
Bestimmung des "Kunstwerks als konkreter Utopie" (S. 47)
gehört das Postulat, diese dialogische Beziehung freier und
selbstbestimmter Wesen in den zwischenmenschlichen Beziehungen nachzubilden.
Das macht den Kern einer Ethik aus, deren Grundprinzip aber jedes Selbst- und
Weltverhältnis bestimmen soll, konkret vor allem die Beziehung zwischen
Geist und Natur und die Handlungen des alltäglichen Lebens.
Paradigma Heinrich von Ofterdingen
Der Ofterdingen-Roman wird als kongeniale
Umsetzung dieses Konzepts gelesen, d.h. als >transzendentaler Bildungsroman<,
der zwei Besonderheiten aufweise. Erstens löse er durch Variationsreihen
die einzelnen Individuen tendenziell auf und setze vice versa alle Figuren
zueinander in Beziehung. Dadurch werde das Bildungskonzept auf das ganze
Figurenpersonal ausgeweitet und der innere Plural gestaltet. Zweitens breche
dieser Roman die Kontinuität und Linearität einer traditionellen
Erzählweise durch das Spiel permanenter Prä- und Postfigurationen
auf und setze so die frei schwebende Produktivität des Lesers frei. Auch
im einzelnen weist Schmaus die Idee der dialogischen Selbstvermittlung auf,
etwa im Androgynitätsmotiv, im Motiv des Lebensbuches, in der
Liebesbeziehung zwischen Heinrich und Mathilde oder im Märchen von Eros
und Fabel und der dort entworfenen >neuen Mythologie<. Das ist, wie die
anschließenden Überlegungen zur Verwirklichung der Utopie als
formales Geschehen, der Forschung weitgehend bekannt. Schmaus gewinnt dem
Roman aber auch neue Aspekte ab, etwa im Hinweis auf das Motiv der
Geschwisterliebe (vgl. S. 76f.). Sie argumentiert ferner mit bemerkenswerter
Konsequenz gegen die feministische Kritik dieses Romans, die übersehe,
daß die Selbstaufgabe auch des "männlichen" Ich-Pols Bedingung der
Möglichkeit der Selbstkonstruktion sei und auch dargestellt werde. Und
schließlich gelingen ihr im Vorblick auf die spätere Rezeption des
Romans bei Bachmann und Celan prägnante Zuspitzungen wie die, die blaue
Blume werde "das Schibboleth dialogischer Identität und Chiffre
für den umfassenden Sinn des transzendentalen Bildungsromans:
Liebe" (S. 77).
Im Blick auf die Rezeption im 20. Jahrhundert zeigt sich
außerdem, daß es nicht die Variationen der christlichen
Mythologie waren, mit denen Novalis eine >neue Mythologie< schuf, und aus
naheliegenden Gründen auch nicht die naturphilosophisch grundierte
Bildlichkeit des Klingsohr-Märchens, sondern die originären
Bilderfindungen, d.h. neben der blauen Blume der rote Karfunkelstein mit der
Herzschrift, der siderische Mensch und der Gang in die Tiefe, sowie die
Rehabilitierung des Traums als Analogon der produktiven Einbildungskraft.
Diese Chiffren und Deutungen, so die plausible These, enthalten, weil sie
selbst dem Muster dialogischer Selbstvermittlung folgen und ihre Darstellung
als Aufforderung zur Selbsttätigkeit konzipiert ist, einen Bezug auf die
Lebenskunst, der auch bei der Rezeption im 20. Jahrhundert mit aktualisiert
wird.
II. Ingeborg Bachmann: Todesarten
Das zweite, Ingeborg Bachmann gewidmete Kapitel ist das
interessanteste dieser Untersuchung. Es ist neben dem Abschnitt über
Novalis auch in philologischer Hinsicht das am meisten überzeugende.
Utopie Frühromantik
Die These lautet, die Fülle von Novalis-Zitaten in
Bachmanns Todesarten-Projekt diene nicht dazu, frühromantische
Denkfiguren als Todesarten zu denunzieren, sondern sie im Gegenteil als
Utopien zu bewahren bzw. aufzuheben. 1 Im Todesarten-Projekt fänden sich "alle
Gedankenfiguren", "die Novalis' Entwurf des Ich prägen: Ordo
inversus, Androgynität, Geschwisterliebe, Liebesutopie und Utopie der
Schrift" (S. 115). Als "auffälliges Stilprinzip" komme
"die Engführung von Novalis' Motivik mit Celans Werk" (ebd.)
hinzu. Außerdem fungiere der Ofterdingen in struktureller
Hinsicht als Intertext: der >transzendentale Bildungsroman< liefere mit seine
Variationsreihen, der nicht linearen Erzählweise und der
Gattungspluralität Formvorgaben für Malina. So kehrten
die Variationsreihen in der für Bachmanns Roman konstitutiven
Auflösung der Figur (Malina/Ivan, weibliches Ich/Malina) wieder. Das
Fazit lautet:
Die komplexe Erzählsituation des
Malina-Romans läßt auf dem Wege der Erzählung
scheiternder Bildungs-, Liebes- und Schreibversuche den literarischen Text zu
einem Ort werden, an dem die Utopien aufbewahrt und Gegenbilder zum
gesellschaftlichen Mordschauplatz entworfen werden, die ihr kritisches
Potential auch in der Negation nicht verlieren. (S. 117)
Spurensuche
Schmaus zeichnet dazu noch einmal jenen intertextuellen
Verweisungszusammenhang nach, der zu Celan und Musil und - über die
Werke beider - zu Novalis führt. Vor allem im Blick auf die
Konstellation Bachmann-Celan führt sie jedoch auch neue Belege
dafür an, daß deren Werke durch die Bezugnahme auf Motive von
Novalis (Blumen, Steine und Farben) zusammengeschlossen werden. Das wird
durch quellenkritische Funde und Überlegungen gestützt: In Celans
Novalis-Ausgaben finden sich entsprechende, vor allem die Blumenmetaphorik
und Passagen über das Traumbewußtsein betreffende An- und
Unterstreichungen, und zwar schon vor dem Wiener Aufenthalt 1947/48. Im Falle
Ingeborg Bachmanns ist, trotz der vielen Bezüge zum
Ofterdingen, die Lektüre dieses Romans nicht mit letzter
Sicherheit nachzuweisen, zumal sich der Roman nicht (mehr?) in ihrer
überlieferten Privatbibliothek findet. Die Autorin war jedoch mindestens
im Besitz von Ricarda Huchs Die Romantik, einer ausgiebig
zitierenden Darstellung, in der Bachmann auch Aufzeichnungen zur
Pluralität des Ich, zum transzendentalen Ich und zur Androgynität
finden konnte.
Die These von der produktiven Fortführung der
frühromantischen Utopie wird für Malina
einläßlicher begründet durch Übereinstimmungen zwischen
der Ordo inversus-Struktur der Selbstvermittlung einerseits und der Beziehung
zwischen weiblichem Ich und Malina andererseits. Hinzu komme ein weiterer
Rollentausch: Es werde auch von Malinas Todesarten berichtet. Der Roman
erzähle von scheiternder dialogischer Selbstvermittlung, die deshalb als
Utopie aber nicht aufgegeben werde.
Ein weiteres Feld intertextueller Verweise ist das sowohl im
Franza wie in Malina verwandte Motiv der
Geschwisterliebe. Es ist bekanntlich durch Musil, d.h. sein Isis und
Osiris-Gedicht und die Beziehung von Agathe und Ulrich im Mann
ohne Eigenschaften, vermittelt, der seinerseits auf die
frühromantische Utopie vom Rollentausch der Geschlechter bzw. der
Androgynität rekurriert. Schmaus verweist u.a. auf das Mondschauspiel in
Klingsohrs Märchen und, wie schon Maximilian Aue, auf die mit dem Motiv
der Geschwisterliebe assoziierte Beziehung von Mathilde und Heinrich im
Ofterdingen. Daß hier von Bachmann eine utopische
Perspektive formuliert wird, ein U-topos außerhalb der väterlichen
Ordnung, darin wird man Schmaus zweifelsohne zustimmen.
Kunst nach Auschwitz
Die das Todesarten-Projekt durchziehende Spannung zwischen
der frühromantischen Utopie und der Einsicht, daß sie unter
gegenwärtigen Bedingungen nur zum Sterben führen kann, ist am
größten in der eingelegten Erzählung Die Geheimnisse
der Prinzessin von Kagran. Hier zitiert Bachmann Celans
Gespräch im Gebirg als Intertext, in dem selbst bereits mit
Anklängen an die frühromantische Poesie die Unmöglichkeit vor
Augen geführt wird, angesichts der Judenvernichtung an solche
Kunstformen bruchlos anzuknüpfen. "Das Gebirge, in der
Frühromantik der Ort der Gottesbegegnung und der Initiation zum Dichter,
wird in Celans Text zum Ort der Erkenntnis der Nicht-Existenz Gottes"
(S. 170). Dennoch bleibe für Celan der Kern des frühromantischen
Kunstbegriffs, die Dialogizität, von zentraler Bedeutung, "das
Festhalten am toten Du" werde "zum poetischen Auftrag" (S.
173).
Die blaue Blume und die (Türkenbund-)Lilie, bei Novalis
Chiffren der Geschwisterliebe und des Androgynen, werden zu Sinnbildern
für die Liebe zu den gemordeten Geschwisterkindern. Die Lilie wird zu
einer Totenblume. Der Tod, der uns im Gespräch im Gebirg
begegnet, ist aber nicht ein solcher, dem Sinn verliehen werden könnte.
(S. 174)
Bachmann setzt das fort und rückt die Frühromantik
als alte, nicht mehr mögliche Form der Kunst in die Ferne:
"Angesichts einer Wirklichkeit, die sich als vollkommene Negation dieser
untergegangenen Welt darstellt, destruieren sich jene Motive selbst. In
diesem Vorgang", darin liegt für Schmaus das Entscheidende,
"denunzieren sie aber zugleich die Wirklichkeit als eine solche, in der
ihre Anwendung absurd wird" (S. 180). Zu dieser rettenden Kritik der
Frühromantik gehöre auch, daß im Todesarten-Projekt das
gemordete Du in Zuständen der Selbstauflösung und Selbsttötung
zur Sprache komme.
Das leitet über zur poetologischen Dimension des
Malina-Romans. Bachmann entwerfe hier die Literatur als einzig
verbleibenden Freiraum für Dialogizität, indem sie Malina zum
Erzähler des Gesamtromans mache, mit jener charakteristischen Differenz
zwischen Erzählfunktion und erzählter Figur, durch die er gezwungen
sei, die Stimme der gemordeten Schwester zu reproduzieren und zugleich jene
Identitätsstruktur, als deren verstümmelter Abkömmling er sich
weiß. Insofern ist die Erzählfunktion Malina durchaus jene, die
sich "im Atemtausch mit den Werken Novalis', Musils und Celans
belebt" (S. 201).
Schmaus hat damit eine stimmige und überzeugende Deutung
der Funktion frühromantischer Bezüge in Bachmanns
Todesarten-Projekt vorgelegt. Die Plausibilität dieser Sicht wird
gestützt durch die quellenkritischen Überlegungen, die genauen
Motivuntersuchungen, die aufgewiesene Dichte und Vielfalt der Bezüge und
nicht zuletzt durch eine Interpretation, die auch das Moment der Brechung der
frühromantischen Vorlage ernst nimmt und ihm genau nachgeht.
III. Christa Wolf und die Frühromantik?
Im Kapitel über Christa Wolf sucht man die meisten
dieser Qualitäten vergebens, und zwar aus Gründen, die in der Sache
liegen. Der Versuch, die Poetik dieser Autorin dezidiert zu derjenigen
Friedrich von Hardenbergs in Beziehung zu setzen, einem Werk, bei dem Schmaus
dann auch noch die Unbedingtheit und Autonomie der Einbildungskraft so stark
akzentuiert, wirft viele Fragen auf.
Selbstverständlich hat Christa Wolf den >Projektionsraum
Romantik< weidlich und produktiv genutzt und hat dabei ihre Formen des
Wechselspiels von Gefühl und Gedanke, des Tausches der
Geschlechterrollen und des Nachdenkens über Krankheit als Form
höherer Gesundheit entwickelt. Aber läuft man nicht Gefahr, die
frühromantischen Konzeptionen aller Konturen zu berauben, wenn man
bereits das Vorhandensein bestimmter Themen zur Fortschreibung eines
historischen Modells erklärt? Ist nicht der Gedanke, daß sich in
der Liebe (mindestens) zwei einander wechselseitig konstituieren (sollten),
in der Antike ebenso zu finden wie bei Brecht?
Weniger polemisch gefragt: Steht nicht bei Christa Wolfs Form
eines "pluralen Ich" eher die (wirkliche oder vermeintliche) romantische
Geselligkeit einer Bettine und Günderrode Pate? Denkt Wolf bei der
Fremdheit des Ich nicht eher an den gesellschaftlichen Außenseiter
Kleist als an die prinzipielle Fremdheit des Ich bei Hardenberg - eines
Selbst, dem sein eigener Grund immer schon voraus liegt und deshalb zum Thema
einer jede raumzeitliche Ordnung sprengenden Utopie wird? Ist die kontroverse
Debatte um die Stimmenvielfalt in Wolfs Texten wirklich dadurch zu
entscheiden, daß man die Voraussetzungen einer
Erzählung zum integralen Bestandteil von Kassandra
erklärt?
Natürlich erwähnt Christa Wolf Novalis und kennen
Christa T. und die Ich-Erzählerin in Nachdenken über Christa
T. "diese unerträgliche Sehnsucht nach dem wirklichen
Blau", aber daß von da aus ein Weg nicht nur zu Anna Seghers'
Novalis-Adaption in Das wirkliche Blau, sondern zu der von
Schmaus im Novalis-Kapitel skizzierten frühromantischen Utopie
führt, diesen Nachweis bleibt die Verfasserin nach Meinung des
Rezensenten schuldig, und sie muß es wohl auch. Nicht umsonst
bewähren sich Schmaus' quellenkritische Fähigkeiten in diesem
Kapitel zwar im Blick auf Wolfs Bachmann-Rezeption, nicht aber auf die
Konstellation Novalis-Wolf, die auf Assoziationen verwiesen bleibt.
IV. Foucault, die Frühromantik und das Ethopoiein
Frühromantische Anfänge
Das ist bei der Untersuchung von Foucaults Rezeption der
Frühromantik anders, und damit ist auch schon der größte
Gewinn des letzten Kapitels der Untersuchung angezeigt. Es ist Marion
Schmaus' Verdienst, die germanistische Forschung darauf aufmerksam zu machen,
daß Foucault sich in den Anfängen seines Denkens programmatisch
der deutschen Frühromantik zugewandt hat, vor allem in der langen, 90
Seiten umfassenden Einleitung zu Ludwig Binswangers Essay Traum und
Existenz (1954).
Hier werden Schelling, Schleiermacher, Baader und Carus, vor
allem aber Novalis zu Kronzeugen für eine Rehabilitierung von Traum,
Poesie und Einbildungskraft aufgerufen. (Etwas unklar bleibt, ob Foucault
dabei originäre Novalis-Kenntnisse besaß oder diese
ausschließlich durch ein weiteres Werk von Binswanger, Wandlungen
in der Auffassung und Deutung des Traums von den Griechen bis zur
Gegenwart, Berlin 1928, vermittelt wurden; vgl. S. 262). Dieser
programmatische Bezug auf die Frühromantik wird 1962 noch durch den
Hölderlin-Aufsatz Le ,non' du père erweitert. Schmaus
zufolge sieht Foucault "in Novalis' träumendem und Hölderlins
wahnsinnigem/tragischem Subjekt" einen "Gegenentwurf zur
psychoanalytischen Entmündigung des Subjekts" sowie zum
"Subjekt/Objekt-Doppel des Idealismus" (S. 259).
Die Bilder entwerfende Imagination sei weder auf ihre
wunscherfüllende Funktion zu reduzieren noch auf andere Formen
täuschender Verdopplungen der Wirklichkeit eine Kritik, die sich auch
gegen Lacans >Spiegelstadium< richte. "Das Bild ist nicht Abbild der
Wirklichkeit, sondern im Traum und in der Imagination wird die Wirklichkeit
als eine der menschlichen Freiheit zugängliche gebildet" (S. 272).
Der Begriff des >Bildes< wird von Foucault aber sofort wieder verworfen, da
er ungeeignet sei, den bilderstürmerischen Charakter der
Einbildungskraft, ihre unendliche Produktivität zu bezeichnen. Foucault
verbindet diese Anthropologie der Einbildungskraft mit einer ethischen
Verpflichtung gegenüber sowohl dem Selbst als auch dem Anderen. Mit
gutem Grund stellt Schmaus dieses Konzept, in dem produktive Einbildungskraft
und "sittliche Verantwortung" (S. 267) keine Gegensätze sind
und der Traum eo ipso einen ethisch-konstruktiven Charakter hat, in den
Zusammenhang einer Frühromantik-Rezeption.
Ethopoiein
Diese Anfänge Foucaults sind angesichts seiner
späteren Arbeiten und der durch sie ausgelösten Diskussionen
erstaunlich. Schmaus begnügt sich jedoch nicht mit der schon für
sich genommen verdienstvollen Rekonstruktion später vergessener
Anfänge. Sie will vielmehr nachweisen, daß diese Anfänge
wirksam geblieben sind: in Gestalt literarischer Inszenierungen von Autor-,
Werk- und Leserfunktion (Vorwortpolitik) an den Rändern der
großen Arbeiten der sechziger bis zu den achtziger Jahren, im Interesse
an Literatur als Gegendiskurs, wie es sich im genannten
Hölderlin-Artikel (dazu ausführlich S. 295-317) artikuliere, und
vor allem in der Rückwendung zu den antiken Existenzkünsten im
Kontext von Sexualität und Wahrheit.
Dabei verschiebe sich der Foucaultsche Konstruktivismus -
selbst ein frühromantisches Erbe - von der Einbildungskraft
"vorübergehend" auf die Macht der Diskurse, um schließlich zum
Subjekt zurückzukehren, das sich selbst als Kunstwerk erschafft. Zum
theoretischen Gewinn dieses Positionswechsels zählt Schmaus, daß
Foucault die Handlungsfähigkeit des Individuums oder doch seine
Fähigkeit zur kreativen Reformulierung diskursiver Vorgaben theoretisch
angemessener gefaßt habe als Judith Butler (vgl. S. 346-359) und
zitiert aus Zur Genealogie der Ethik: "Das Subjekt bildet
sich nicht einfach im Spiel der Symbole. Es bildet sich in realen und
historisch analysierbaren Praktiken. Es gibt eine Technologie der
Selbstkonstitution, die symbolische Systeme durchschneidet, während sie
sie gebraucht" (zit. n. Schmaus S. 356). Von hier aus führt
durchaus eine Spur zurück zur Binswanger-Einleitung.
Foucault zentriert seine Studie um die drei großen
antiken Existenzkünste Diätetik (Sorge um den Körper),
Ökonomik (das Verhältnis von Selbstsorge und gesellschaftlicher
Aktivität) und Erotik (Sorge um die Liebe), die zu Mitteln der
Selbsttransformation werden. (S. 333)
Foucault hat das unter den Begriff des
>Ethopoiein< gefaßt: "Ethopoiein heißt Ethos zu
machen, Ethos zu produzieren". 2 Schmaus
führt das im einzelnen aus und sieht hier enge Bezüge zur
Frühromantik, eine Behauptung, die etwas kühn, aber auch
interessant und nicht ganz unplausibel ist. (Allerdings gehört der in
diesem Zusammenhang ausgiebig zitierte Ofterdingen gerade nicht
zur "frühromantischen bzw. idealistischen >Wiederaneignung der
Griechen außerhalb des Christentums<"; Foucault n. Schmaus S.
343.) Die poetologische Dimension, den Zusammenhang von Selbstentwurf und
Schreiben, sieht Schmaus in L'écriture de soi (1983)
wiederkehren:
Im Unterschied zu den sechziger Jahren, in denen sich das
Subjekt im unendlichen Murmeln der Sprache verlor, geht es nun in
L'écriture de soi gerade darum, wie sich das Selbst auf dem Wege
der Subjektivierung des >Schon-Gesagten< und der >Kunst der disparaten
Wahrheit< als ethisches Subjekt konstituieren kann. (S. 378)
V. Poetische Konstruktion des Selbst
Im "Nachwort" faßt Schmaus "die
Grundzüge der poetischen Konstruktion des Selbst, die in verschiedenen
Szenarien bei Novalis, Ingeborg Bachmann und Christa Wolf beobachtet"
(S. 381) wurden, noch einmal zusammen. Vier Aspekte werden dabei
hervorgehoben:
- Die "Autorität des >Schon Gesagten< (S.
381), zu der sich das Selbst (affirmativ, aufständisch, subversiv etc.)
verhalten müsse
- Eine Freiheit der Wahl, die befördert werde durch die
Einsicht, daß alle Wahrheit situiertes Wissen sei und alle Macht sich
nur in actu vollziehe
- Das Schreiben, dem bei der Ichkonstituierung durch
Selbstaneignung und Selbstentäußerung eine besondere Rolle zukomme
- Ein postsouverän konzipiertes Ich, das gleichwohl in
der Lage sei, einen kreativen Gebrauch von den Formationen der Sprache, Macht
und Historie zu machen, die ihm vorausliegen.
Diese Zusammenfassung wirft die Frage auf, worin die
Entmächtigung des Ich seit den Fichte-Studien des Novalis dann
überhaupt noch bestanden hat, und umgekehrt darf man bezweifeln,
daß die "Autorität des Gesagten" bei ihm in der Weise
als ein Problem gesehen wird wie seit der Diskursanalyse. Mit anderen Worten:
Diese Zusammenfassung steht allzu sehr im Zeichen Foucaults. Die
Gemeinsamkeiten der drei jüngeren AutorInnen und ihres Bezugs zur
Frühromantik werden von Marion Schmaus angemessener an einer
früheren Stelle resümiert: Bei der Untersuchung der Werke von
Bachmann, Wolf und Foucault
"[.] werden punktuell immer wieder Verwandtschaften zu den
bereits verhandelten literarischen Entwürfen der poetischen Konstruktion
des Selbst augenscheinlich, die zum einen auf der gemeinsamen
Frühromantik- respektive Novalis-Rezeption gründen, zum anderen
Signum eines wahlverwandten Denkstils sind, für den die Affinität
zur Frühromantik nur ein Merkmal ist." (S. 255)
VI. Offene Fragen
Marion Schmaus hat ihre Dissertation mit spürbarer
Begeisterung für das >frühromantische Modell< geschrieben und im
unbeirrten Glauben an sein Fortwirken und seine anhaltende Aktualität.
Die Vorteile einer solchen Affinität zum Gegenstand liegen in der Weite
des Blicks und in der Energie, mit der Beziehungen aufgefunden und/oder
hergestellt werden.
Mit vollem Recht wird für Novalis der Zusammenhang von
Poetik und Ethik betont, für Celan und Bachmann eine produktive
Frühromantik-Rezeption behauptet und nach dem Zusammenhang zwischen
Foucaults später Ethik der Existenz und seinen frühromantisch
inspirierten Anfängen gefragt. All dies macht Schmaus' Untersuchung zu
einem wichtigen und anregenden Buch sowohl über ein
philosophisch-literarisches Modell der Selbstkonstruktion wie über die
Rezeption des Werkes von Novalis in der Moderne des 20. Jahrhunderts. Die
Weite und Souveränität des Blicks der Verfasserin sind
beeindruckend, und man wünscht dem Buch, daß es zu einer
Vertiefung der vor einiger Zeit unter neuen Vorzeichen begonnenen Diskussion
um Ethik und Ästhetik beiträgt.
Zu den Nachteilen oder Grenzen einer solchen Affinität
zum Gegenstand oder doch der Behauptung einer so großen Konstanz
eines >Modells< gehört, daß manche Fragen nicht gestellt und
Relativierungen nicht vorgenommen werden.
Das gilt zunächst für das Foucault-Kapitel. Schmaus
betont die Gemeinsamkeit mit der Frühromantik so stark, daß man
sich wünscht, sie hätte, wie im Bachmann-Kapitel, auch zu den
Differenzen deutlicher Stellung genommen. Das gilt mutatis mutandis dann aber
vor allem für den Kronzeugen Novalis. Schmaus faßt die
Gemeinsamkeit aller von ihr behandelten AutorInnen folgendermaßen
zusammen:
In einer paradoxen Wendung ließen sich die in dieser
Arbeit vorgestellten philosophisch-literarischen Entwürfe des Ich als
moderne Überschreitung der Postmoderne bezeichnen, indem eine Ethik des
Selbst das Augenmerk auf die Freiheitspraxis des Ich unter den Bedingungen
moderner Pluralisierung der Diskurs- und Machtstrategien lenkt. Die
postmoderne Dezentrierung des Subjekts wird mit der etho-poetischen
Konstruktion des Selbst beantwortet. (S. 3)
Wenn eine solche postmoderne Modernität bereits das Werk
von Novalis kennzeichnen soll, dann verlieren die Begriffe jede
Trennschärfe. Es stellen sich die gleichen Fragen, die schon bei der
früheren Indienstnahme der Frühromantik für die Postmoderne
oder später für die Dekonstruktion nicht beantwortet wurden. Ist
die Idee einer unendlichen Selbstvermittlung im Horizont eines absoluten Ich,
auch wenn dieses nur eine regulative Idee ist, nicht eine jener
Meistererzählungen, die die Postmoderne verabschiedet hat? Welchen Stand
der Problementfaltung verkörpert eine Utopie der Aufhebung aller
Widersprüche in einem Universum zwangsfreier dialogischer
Selbstvermittlung? Und liegt, ketzerisch gefragt, diese Utopie nicht
näher an Habermas, als dessen Kritik (vgl. S. 329f.) durch Schmaus zu
erkennen gibt? Die Frage, was den Dialog zu einem herrschaftsfreien macht,
liegt auf der Hand, wird aber nicht gestellt. Verräterisch ist auch,
daß, wenn vom Anderen des Selbst die Rede ist, meist vom "affinen
Anderen" gesprochen wird. Wie sieht die Vermittlung mit dem
"nicht-affinen Anderen" aus?
Novalis und andere Frühromantiker haben Antworten auf
Fragen gegeben, die sich am Beginn der Moderne gestellt haben, also auf
historische Problemstellungen. Darin liegt Friedrich von Hardenbergs
Leistung, und daraus mag sich im einzelnen eine noch andauernde
Aktualität ergeben. Seine philosophiegeschichtliche Leistung liegt in
der Kritik der Selbstbewußtseinsphilosophie, d.h. im Hinweis auf die
unhintergehbare, unvordenkliche Selbstvermittlung, die als "Pluralität
des Ich" expliziert wird. Die auch an seine Interpreten zu richtende
Frage ist aber, wie weit ein solcher primär
bewußtseinsphilosophischer Ansatz trägt, insbesondere wenn daraus
eine Ethik und Politik umfassende >Lebenskunstlehre< entwickelt werden soll.
Wird in dieser Konzeption Pluralität nicht zu sehr an Einheit
zurückgebunden, als daß sie Art und Ausmaß der Vielheit um
1800 und in der Gegenwart ohne weiteres gerecht werden könnte?
Prof. Dr. Herbert Uerlings
Universität Trier
FB II: Germanistik
D-54286 Trier
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Ins Netz gestellt am 15.05.2001
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Anmerkungen
1 Zu dieser These vgl. bereits Herbert
Uerlings: Novalis und die Moderne. Seghers - Hilbig - Benn - Bachmann. In:
Herbert Uerlings (Hg.): "Blüthenstaub" - Rezeption und Wirkung des
Werkes von Novalis. (Schriften der Internationalen Novalis-Gesellschaft 3)
Tübingen: Niemeyer 2000, S. 7-38, hier S. 26-37. zurück
2 Michel Foucault: Freiheit und Selbstsorge
(1982/1984). Hg. von Helmut Becker u.a. Frankfurt am Main 1985, S. 50, hier
zit. n. Schmaus, S. 2. Angesichts des leitmotivischen Charakters, den das
"Ethopoiein" nicht nur im Foucault-Kapitel erhält, hätte man sich
eine genauere begriffliche Klärung gewünscht. zurück
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