Uerlings über Schmaus: Ästhetik als Ethik

Herbert Uerlings

Ästhetik als Ethik

  • Marion Schmaus: Die poetische Konstruktion des Selbst. Grenzgänge zwischen Frühromantik und Moderne: Novalis, Bachmann, Christa Wolf, Foucault. (Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge 92) Tübingen: Niemeyer 2000. 407 + IX S. Kart. DM 116,-
    ISBN: 3-484-15092-0.


Marion Schmaus untersucht das frühromantische Individualitätskonzept und seine Aktualisierung in Literatur und Philosophie der Moderne nach 1945. Als Frühromantiker par excellence fungiert Friedrich von Hardenberg (Novalis). Er habe in seinen philosophischen Studien die Widerspruchsstruktur des Ich, das sich als identisch und zugleich geteilt erfährt, aufgezeigt und die Poesie als das Medium konzipiert, in dem dieser Widerspruch durch dialogische Selbstvermittlung aufgehoben werden könne. In dieser im Wortsinne "autobiographischen" Tätigkeit bringe sich das Selbst schreibend hervor, >konstruiere< (Novalis) es sich in unendlicher, herrschaftsfreier Selbstvermittlung. Insofern fielen in der Kunstproduktion poetische Tätigkeit und ethisches Handeln in eins, und dies wiederum ermögliche die Überführung dieses Handlungsmodells in eine Ethik der >Lebenskunst< (Novalis). Diese Verbindung von Philosophie und Literatur, Ethik und Ästhetik im Blick auf den Entwurf eines Selbst habe auch die Romantik-Rezeption dreier bedeutender AutorInnen des 20. Jahrhunderts geprägt: Ingeborg Bachmann, Christa Wolf und Michel Foucault.

I. Novalis: "Ich ist eine Kunst - ein Kunstwerck"

Philosophische Voraussetzungen: Pluralisierung des Ich

Der Ausgangspunkt Novalis ist sehr gut gewählt. Denn Hardenberg hat von Kant und Fichte die erkenntnistheoretische Frage nach der Möglichkeit von Selbstbewußtsein übernommen und zu ihrer Beantwortung wie kein zweiter Autor seiner Zeit die Konstruktion des Selbst als philosophisch-poetischen Vermittlungsprozeß entworfen. Die Philosophie wird als Theorie, die Poesie als Praxis unendlicher Selbstvermittlung konzipiert, die möglich wird durch die produktive Einbildungskraft. Das ist in der jüngeren Forschung mehrfach gezeigt worden. Schmaus ist mit ihr bestens vertraut und skizziert noch einmal sehr souverän die Zusammenhänge: den Ausgang von der Selbstbewußtseinsproblematik, den Rollentausch von Selbstgefühl und Selbstgedanke, die Verzeitlichung des Selbstbewußtseins, das absolute Ich als regulative Idee und den Zusammenhang von narrativer Konstruktion und Lebenskunstlehre. Es werden jedoch auch neue Akzente gesetzt, insbesondere bei der Interpretation der Abhandlung Des Dichters Reich im Kontext der Fichte-Studien (S. 27-31). Ein besonderes Augenmerk gilt selbstverständlich dem Zusammenhang von Ethik und Ästhetik, den die "freie" Tätigkeit der Einbildungskraft verbürgt. Die Einbildungskraft fungiert dabei als Surrogat des Absoluten im Endlichen. Ihr Produkt, das Kunstwerk, macht für das Ich in einer momentanen Einheitserfahrung anschaulich, was es selbst ist: Selbstvermittlung. Das geschieht jedoch nur in einer symbolischen Repräsentation, vor deren Verwechslung mit dem Symbolisierten Novalis nachdrücklich gewarnt hat.

Die eigentliche Pointe des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik liegt aber erst im Übergang zu einer Lebenskunstlehre, bei der der ästhetische Blick auch auf Dinge der äußeren Welt gerichtet wird. Bei diesem >magischen Idealismus< handelt es sich nicht um eine creatio ex nihilo, sondern um ein Romantisieren von Gegebenem, um eine Konstruktion von >Realität<, wobei >Realität< als Relationalität gefaßt ist: Es geht um angeeignete Wirklichkeit, die im Wechselverhältnis von Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt, innerer und äußerer Welt konstituiert wird. In diesem Grenzgang konstituiert sich der Mensch, und er tut es dann angemessen, wenn er dabei die >schöpferische Einbildungskraft< in sich ausbildet und eine innere Stimmenvielfalt erzeugt, durch die er, Novalis' Begriffsbestimmung zufolge, zum Genie wird.

Diese Pluralisierung des Ich ist schon in den Fichte-Studien angelegt, wenn dort programmatisch das Fichtesche Nicht-Ich durch ein Du ersetzt wird. Später wird dann wie selbstverständlich die Liebe zum Pendant der Einbildungskraft. Die poetische Handlungsweise ist die höchste Form der Praxis, nicht nur weil ihr die Theorie selbst noch immanent ist, sondern auch weil sie "die sittlichste Form der Handlung als Liebesbeziehung gleichberechtigter Partner ist" (S. 52). Zur Bestimmung des "Kunstwerks als konkreter Utopie" (S. 47) gehört das Postulat, diese dialogische Beziehung freier und selbstbestimmter Wesen in den zwischenmenschlichen Beziehungen nachzubilden. Das macht den Kern einer Ethik aus, deren Grundprinzip aber jedes Selbst- und Weltverhältnis bestimmen soll, konkret vor allem die Beziehung zwischen Geist und Natur und die Handlungen des alltäglichen Lebens.

Paradigma Heinrich von Ofterdingen

Der Ofterdingen-Roman wird als kongeniale Umsetzung dieses Konzepts gelesen, d.h. als >transzendentaler Bildungsroman<, der zwei Besonderheiten aufweise. Erstens löse er durch Variationsreihen die einzelnen Individuen tendenziell auf und setze vice versa alle Figuren zueinander in Beziehung. Dadurch werde das Bildungskonzept auf das ganze Figurenpersonal ausgeweitet und der innere Plural gestaltet. Zweitens breche dieser Roman die Kontinuität und Linearität einer traditionellen Erzählweise durch das Spiel permanenter Prä- und Postfigurationen auf und setze so die frei schwebende Produktivität des Lesers frei. Auch im einzelnen weist Schmaus die Idee der dialogischen Selbstvermittlung auf, etwa im Androgynitätsmotiv, im Motiv des Lebensbuches, in der Liebesbeziehung zwischen Heinrich und Mathilde oder im Märchen von Eros und Fabel und der dort entworfenen >neuen Mythologie<. Das ist, wie die anschließenden Überlegungen zur Verwirklichung der Utopie als formales Geschehen, der Forschung weitgehend bekannt. Schmaus gewinnt dem Roman aber auch neue Aspekte ab, etwa im Hinweis auf das Motiv der Geschwisterliebe (vgl. S. 76f.). Sie argumentiert ferner mit bemerkenswerter Konsequenz gegen die feministische Kritik dieses Romans, die übersehe, daß die Selbstaufgabe auch des "männlichen" Ich-Pols Bedingung der Möglichkeit der Selbstkonstruktion sei und auch dargestellt werde. Und schließlich gelingen ihr im Vorblick auf die spätere Rezeption des Romans bei Bachmann und Celan prägnante Zuspitzungen wie die, die blaue Blume werde "das Schibboleth dialogischer Identität und Chiffre für den umfassenden Sinn des transzendentalen Bildungsromans: Liebe" (S. 77).

Im Blick auf die Rezeption im 20. Jahrhundert zeigt sich außerdem, daß es nicht die Variationen der christlichen Mythologie waren, mit denen Novalis eine >neue Mythologie< schuf, und aus naheliegenden Gründen auch nicht die naturphilosophisch grundierte Bildlichkeit des Klingsohr-Märchens, sondern die originären Bilderfindungen, d.h. neben der blauen Blume der rote Karfunkelstein mit der Herzschrift, der siderische Mensch und der Gang in die Tiefe, sowie die Rehabilitierung des Traums als Analogon der produktiven Einbildungskraft. Diese Chiffren und Deutungen, so die plausible These, enthalten, weil sie selbst dem Muster dialogischer Selbstvermittlung folgen und ihre Darstellung als Aufforderung zur Selbsttätigkeit konzipiert ist, einen Bezug auf die Lebenskunst, der auch bei der Rezeption im 20. Jahrhundert mit aktualisiert wird.

II. Ingeborg Bachmann: Todesarten

Das zweite, Ingeborg Bachmann gewidmete Kapitel ist das interessanteste dieser Untersuchung. Es ist neben dem Abschnitt über Novalis auch in philologischer Hinsicht das am meisten überzeugende.

Utopie Frühromantik

Die These lautet, die Fülle von Novalis-Zitaten in Bachmanns Todesarten-Projekt diene nicht dazu, frühromantische Denkfiguren als Todesarten zu denunzieren, sondern sie im Gegenteil als Utopien zu bewahren bzw. aufzuheben. 1 Im Todesarten-Projekt fänden sich "alle Gedankenfiguren", "die Novalis' Entwurf des Ich prägen: Ordo inversus, Androgynität, Geschwisterliebe, Liebesutopie und Utopie der Schrift" (S. 115). Als "auffälliges Stilprinzip" komme "die Engführung von Novalis' Motivik mit Celans Werk" (ebd.) hinzu. Außerdem fungiere der Ofterdingen in struktureller Hinsicht als Intertext: der >transzendentale Bildungsroman< liefere mit seine Variationsreihen, der nicht linearen Erzählweise und der Gattungspluralität Formvorgaben für Malina. So kehrten die Variationsreihen in der für Bachmanns Roman konstitutiven Auflösung der Figur (Malina/Ivan, weibliches Ich/Malina) wieder. Das Fazit lautet:

Die komplexe Erzählsituation des Malina-Romans läßt auf dem Wege der Erzählung scheiternder Bildungs-, Liebes- und Schreibversuche den literarischen Text zu einem Ort werden, an dem die Utopien aufbewahrt und Gegenbilder zum gesellschaftlichen Mordschauplatz entworfen werden, die ihr kritisches Potential auch in der Negation nicht verlieren. (S. 117)

Spurensuche

Schmaus zeichnet dazu noch einmal jenen intertextuellen Verweisungszusammenhang nach, der zu Celan und Musil und - über die Werke beider - zu Novalis führt. Vor allem im Blick auf die Konstellation Bachmann-Celan führt sie jedoch auch neue Belege dafür an, daß deren Werke durch die Bezugnahme auf Motive von Novalis (Blumen, Steine und Farben) zusammengeschlossen werden. Das wird durch quellenkritische Funde und Überlegungen gestützt: In Celans Novalis-Ausgaben finden sich entsprechende, vor allem die Blumenmetaphorik und Passagen über das Traumbewußtsein betreffende An- und Unterstreichungen, und zwar schon vor dem Wiener Aufenthalt 1947/48. Im Falle Ingeborg Bachmanns ist, trotz der vielen Bezüge zum Ofterdingen, die Lektüre dieses Romans nicht mit letzter Sicherheit nachzuweisen, zumal sich der Roman nicht (mehr?) in ihrer überlieferten Privatbibliothek findet. Die Autorin war jedoch mindestens im Besitz von Ricarda Huchs Die Romantik, einer ausgiebig zitierenden Darstellung, in der Bachmann auch Aufzeichnungen zur Pluralität des Ich, zum transzendentalen Ich und zur Androgynität finden konnte.

Die These von der produktiven Fortführung der frühromantischen Utopie wird für Malina einläßlicher begründet durch Übereinstimmungen zwischen der Ordo inversus-Struktur der Selbstvermittlung einerseits und der Beziehung zwischen weiblichem Ich und Malina andererseits. Hinzu komme ein weiterer Rollentausch: Es werde auch von Malinas Todesarten berichtet. Der Roman erzähle von scheiternder dialogischer Selbstvermittlung, die deshalb als Utopie aber nicht aufgegeben werde.

Ein weiteres Feld intertextueller Verweise ist das sowohl im Franza wie in Malina verwandte Motiv der Geschwisterliebe. Es ist bekanntlich durch Musil, d.h. sein Isis und Osiris-Gedicht und die Beziehung von Agathe und Ulrich im Mann ohne Eigenschaften, vermittelt, der seinerseits auf die frühromantische Utopie vom Rollentausch der Geschlechter bzw. der Androgynität rekurriert. Schmaus verweist u.a. auf das Mondschauspiel in Klingsohrs Märchen und, wie schon Maximilian Aue, auf die mit dem Motiv der Geschwisterliebe assoziierte Beziehung von Mathilde und Heinrich im Ofterdingen. Daß hier von Bachmann eine utopische Perspektive formuliert wird, ein U-topos außerhalb der väterlichen Ordnung, darin wird man Schmaus zweifelsohne zustimmen.

Kunst nach Auschwitz

Die das Todesarten-Projekt durchziehende Spannung zwischen der frühromantischen Utopie und der Einsicht, daß sie unter gegenwärtigen Bedingungen nur zum Sterben führen kann, ist am größten in der eingelegten Erzählung Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran. Hier zitiert Bachmann Celans Gespräch im Gebirg als Intertext, in dem selbst bereits mit Anklängen an die frühromantische Poesie die Unmöglichkeit vor Augen geführt wird, angesichts der Judenvernichtung an solche Kunstformen bruchlos anzuknüpfen. "Das Gebirge, in der Frühromantik der Ort der Gottesbegegnung und der Initiation zum Dichter, wird in Celans Text zum Ort der Erkenntnis der Nicht-Existenz Gottes" (S. 170). Dennoch bleibe für Celan der Kern des frühromantischen Kunstbegriffs, die Dialogizität, von zentraler Bedeutung, "das Festhalten am toten Du" werde "zum poetischen Auftrag" (S. 173).

Die blaue Blume und die (Türkenbund-)Lilie, bei Novalis Chiffren der Geschwisterliebe und des Androgynen, werden zu Sinnbildern für die Liebe zu den gemordeten Geschwisterkindern. Die Lilie wird zu einer Totenblume. Der Tod, der uns im Gespräch im Gebirg begegnet, ist aber nicht ein solcher, dem Sinn verliehen werden könnte. (S. 174)

Bachmann setzt das fort und rückt die Frühromantik als alte, nicht mehr mögliche Form der Kunst in die Ferne: "Angesichts einer Wirklichkeit, die sich als vollkommene Negation dieser untergegangenen Welt darstellt, destruieren sich jene Motive selbst. In diesem Vorgang", darin liegt für Schmaus das Entscheidende, "denunzieren sie aber zugleich die Wirklichkeit als eine solche, in der ihre Anwendung absurd wird" (S. 180). Zu dieser rettenden Kritik der Frühromantik gehöre auch, daß im Todesarten-Projekt das gemordete Du in Zuständen der Selbstauflösung und Selbsttötung zur Sprache komme.

Das leitet über zur poetologischen Dimension des Malina-Romans. Bachmann entwerfe hier die Literatur als einzig verbleibenden Freiraum für Dialogizität, indem sie Malina zum Erzähler des Gesamtromans mache, mit jener charakteristischen Differenz zwischen Erzählfunktion und erzählter Figur, durch die er gezwungen sei, die Stimme der gemordeten Schwester zu reproduzieren und zugleich jene Identitätsstruktur, als deren verstümmelter Abkömmling er sich weiß. Insofern ist die Erzählfunktion Malina durchaus jene, die sich "im Atemtausch mit den Werken Novalis', Musils und Celans belebt" (S. 201).

Schmaus hat damit eine stimmige und überzeugende Deutung der Funktion frühromantischer Bezüge in Bachmanns Todesarten-Projekt vorgelegt. Die Plausibilität dieser Sicht wird gestützt durch die quellenkritischen Überlegungen, die genauen Motivuntersuchungen, die aufgewiesene Dichte und Vielfalt der Bezüge und nicht zuletzt durch eine Interpretation, die auch das Moment der Brechung der frühromantischen Vorlage ernst nimmt und ihm genau nachgeht.

III. Christa Wolf und die Frühromantik?

Im Kapitel über Christa Wolf sucht man die meisten dieser Qualitäten vergebens, und zwar aus Gründen, die in der Sache liegen. Der Versuch, die Poetik dieser Autorin dezidiert zu derjenigen Friedrich von Hardenbergs in Beziehung zu setzen, einem Werk, bei dem Schmaus dann auch noch die Unbedingtheit und Autonomie der Einbildungskraft so stark akzentuiert, wirft viele Fragen auf.

Selbstverständlich hat Christa Wolf den >Projektionsraum Romantik< weidlich und produktiv genutzt und hat dabei ihre Formen des Wechselspiels von Gefühl und Gedanke, des Tausches der Geschlechterrollen und des Nachdenkens über Krankheit als Form höherer Gesundheit entwickelt. Aber läuft man nicht Gefahr, die frühromantischen Konzeptionen aller Konturen zu berauben, wenn man bereits das Vorhandensein bestimmter Themen zur Fortschreibung eines historischen Modells erklärt? Ist nicht der Gedanke, daß sich in der Liebe (mindestens) zwei einander wechselseitig konstituieren (sollten), in der Antike ebenso zu finden wie bei Brecht?

Weniger polemisch gefragt: Steht nicht bei Christa Wolfs Form eines "pluralen Ich" eher die (wirkliche oder vermeintliche) romantische Geselligkeit einer Bettine und Günderrode Pate? Denkt Wolf bei der Fremdheit des Ich nicht eher an den gesellschaftlichen Außenseiter Kleist als an die prinzipielle Fremdheit des Ich bei Hardenberg - eines Selbst, dem sein eigener Grund immer schon voraus liegt und deshalb zum Thema einer jede raumzeitliche Ordnung sprengenden Utopie wird? Ist die kontroverse Debatte um die Stimmenvielfalt in Wolfs Texten wirklich dadurch zu entscheiden, daß man die Voraussetzungen einer Erzählung zum integralen Bestandteil von Kassandra erklärt?

Natürlich erwähnt Christa Wolf Novalis und kennen Christa T. und die Ich-Erzählerin in Nachdenken über Christa T. "diese unerträgliche Sehnsucht nach dem wirklichen Blau", aber daß von da aus ein Weg nicht nur zu Anna Seghers' Novalis-Adaption in Das wirkliche Blau, sondern zu der von Schmaus im Novalis-Kapitel skizzierten frühromantischen Utopie führt, diesen Nachweis bleibt die Verfasserin nach Meinung des Rezensenten schuldig, und sie muß es wohl auch. Nicht umsonst bewähren sich Schmaus' quellenkritische Fähigkeiten in diesem Kapitel zwar im Blick auf Wolfs Bachmann-Rezeption, nicht aber auf die Konstellation Novalis-Wolf, die auf Assoziationen verwiesen bleibt.

IV. Foucault, die Frühromantik und das Ethopoiein

Frühromantische Anfänge

Das ist bei der Untersuchung von Foucaults Rezeption der Frühromantik anders, und damit ist auch schon der größte Gewinn des letzten Kapitels der Untersuchung angezeigt. Es ist Marion Schmaus' Verdienst, die germanistische Forschung darauf aufmerksam zu machen, daß Foucault sich in den Anfängen seines Denkens programmatisch der deutschen Frühromantik zugewandt hat, vor allem in der langen, 90 Seiten umfassenden Einleitung zu Ludwig Binswangers Essay Traum und Existenz (1954).

Hier werden Schelling, Schleiermacher, Baader und Carus, vor allem aber Novalis zu Kronzeugen für eine Rehabilitierung von Traum, Poesie und Einbildungskraft aufgerufen. (Etwas unklar bleibt, ob Foucault dabei originäre Novalis-Kenntnisse besaß oder diese ausschließlich durch ein weiteres Werk von Binswanger, Wandlungen in der Auffassung und Deutung des Traums von den Griechen bis zur Gegenwart, Berlin 1928, vermittelt wurden; vgl. S. 262). Dieser programmatische Bezug auf die Frühromantik wird 1962 noch durch den Hölderlin-Aufsatz Le ,non' du père erweitert. Schmaus zufolge sieht Foucault "in Novalis' träumendem und Hölderlins wahnsinnigem/tragischem Subjekt" einen "Gegenentwurf zur psychoanalytischen Entmündigung des Subjekts" sowie zum "Subjekt/Objekt-Doppel des Idealismus" (S. 259).

Die Bilder entwerfende Imagination sei weder auf ihre wunscherfüllende Funktion zu reduzieren noch auf andere Formen täuschender Verdopplungen der Wirklichkeit – eine Kritik, die sich auch gegen Lacans >Spiegelstadium< richte. "Das Bild ist nicht Abbild der Wirklichkeit, sondern im Traum und in der Imagination wird die Wirklichkeit als eine der menschlichen Freiheit zugängliche gebildet" (S. 272). Der Begriff des >Bildes< wird von Foucault aber sofort wieder verworfen, da er ungeeignet sei, den bilderstürmerischen Charakter der Einbildungskraft, ihre unendliche Produktivität zu bezeichnen. Foucault verbindet diese Anthropologie der Einbildungskraft mit einer ethischen Verpflichtung gegenüber sowohl dem Selbst als auch dem Anderen. Mit gutem Grund stellt Schmaus dieses Konzept, in dem produktive Einbildungskraft und "sittliche Verantwortung" (S. 267) keine Gegensätze sind und der Traum eo ipso einen ethisch-konstruktiven Charakter hat, in den Zusammenhang einer Frühromantik-Rezeption.

Ethopoiein

Diese Anfänge Foucaults sind angesichts seiner späteren Arbeiten und der durch sie ausgelösten Diskussionen erstaunlich. Schmaus begnügt sich jedoch nicht mit der – schon für sich genommen verdienstvollen – Rekonstruktion später vergessener Anfänge. Sie will vielmehr nachweisen, daß diese Anfänge wirksam geblieben sind: in Gestalt literarischer Inszenierungen von Autor-, Werk- und Leserfunktion (Vorwortpolitik) an den Rändern der großen Arbeiten der sechziger bis zu den achtziger Jahren, im Interesse an Literatur als Gegendiskurs, wie es sich im genannten Hölderlin-Artikel (dazu ausführlich S. 295-317) artikuliere, und vor allem in der Rückwendung zu den antiken Existenzkünsten im Kontext von Sexualität und Wahrheit.

Dabei verschiebe sich der Foucaultsche Konstruktivismus - selbst ein frühromantisches Erbe - von der Einbildungskraft "vorübergehend" auf die Macht der Diskurse, um schließlich zum Subjekt zurückzukehren, das sich selbst als Kunstwerk erschafft. Zum theoretischen Gewinn dieses Positionswechsels zählt Schmaus, daß Foucault die Handlungsfähigkeit des Individuums oder doch seine Fähigkeit zur kreativen Reformulierung diskursiver Vorgaben theoretisch angemessener gefaßt habe als Judith Butler (vgl. S. 346-359) und zitiert aus Zur Genealogie der Ethik: "Das Subjekt bildet sich nicht einfach im Spiel der Symbole. Es bildet sich in realen und historisch analysierbaren Praktiken. Es gibt eine Technologie der Selbstkonstitution, die symbolische Systeme durchschneidet, während sie sie gebraucht" (zit. n. Schmaus S. 356). Von hier aus führt durchaus eine Spur zurück zur Binswanger-Einleitung.

Foucault zentriert seine Studie um die drei großen antiken Existenzkünste Diätetik (Sorge um den Körper), Ökonomik (das Verhältnis von Selbstsorge und gesellschaftlicher Aktivität) und Erotik (Sorge um die Liebe), die zu Mitteln der Selbsttransformation werden. (S. 333)

Foucault hat das unter den Begriff des >Ethopoiein< gefaßt: "Ethopoiein heißt Ethos zu machen, Ethos zu produzieren". 2 Schmaus führt das im einzelnen aus und sieht hier enge Bezüge zur Frühromantik, eine Behauptung, die etwas kühn, aber auch interessant und nicht ganz unplausibel ist. (Allerdings gehört der in diesem Zusammenhang ausgiebig zitierte Ofterdingen gerade nicht zur "frühromantischen bzw. idealistischen >Wiederaneignung der Griechen außerhalb des Christentums<"; Foucault n. Schmaus S. 343.) Die poetologische Dimension, den Zusammenhang von Selbstentwurf und Schreiben, sieht Schmaus in L'écriture de soi (1983) wiederkehren:

Im Unterschied zu den sechziger Jahren, in denen sich das Subjekt im unendlichen Murmeln der Sprache verlor, geht es nun in L'écriture de soi gerade darum, wie sich das Selbst auf dem Wege der Subjektivierung des >Schon-Gesagten< und der >Kunst der disparaten Wahrheit< als ethisches Subjekt konstituieren kann. (S. 378)

V. Poetische Konstruktion des Selbst

Im "Nachwort" faßt Schmaus "die Grundzüge der poetischen Konstruktion des Selbst, die in verschiedenen Szenarien bei Novalis, Ingeborg Bachmann und Christa Wolf beobachtet" (S. 381) wurden, noch einmal zusammen. Vier Aspekte werden dabei hervorgehoben:

  • Die "Autorität des >Schon Gesagten< (S. 381), zu der sich das Selbst (affirmativ, aufständisch, subversiv etc.) verhalten müsse
  • Eine Freiheit der Wahl, die befördert werde durch die Einsicht, daß alle Wahrheit situiertes Wissen sei und alle Macht sich nur in actu vollziehe
  • Das Schreiben, dem bei der Ichkonstituierung durch Selbstaneignung und Selbstentäußerung eine besondere Rolle zukomme
  • Ein postsouverän konzipiertes Ich, das gleichwohl in der Lage sei, einen kreativen Gebrauch von den Formationen der Sprache, Macht und Historie zu machen, die ihm vorausliegen.

Diese Zusammenfassung wirft die Frage auf, worin die Entmächtigung des Ich seit den Fichte-Studien des Novalis dann überhaupt noch bestanden hat, und umgekehrt darf man bezweifeln, daß die "Autorität des Gesagten" bei ihm in der Weise als ein Problem gesehen wird wie seit der Diskursanalyse. Mit anderen Worten: Diese Zusammenfassung steht allzu sehr im Zeichen Foucaults. Die Gemeinsamkeiten der drei jüngeren AutorInnen und ihres Bezugs zur Frühromantik werden von Marion Schmaus angemessener an einer früheren Stelle resümiert: Bei der Untersuchung der Werke von Bachmann, Wolf und Foucault "[.] werden punktuell immer wieder Verwandtschaften zu den bereits verhandelten literarischen Entwürfen der poetischen Konstruktion des Selbst augenscheinlich, die zum einen auf der gemeinsamen Frühromantik- respektive Novalis-Rezeption gründen, zum anderen Signum eines wahlverwandten Denkstils sind, für den die Affinität zur Frühromantik nur ein Merkmal ist." (S. 255)

VI. Offene Fragen

Marion Schmaus hat ihre Dissertation mit spürbarer Begeisterung für das >frühromantische Modell< geschrieben und im unbeirrten Glauben an sein Fortwirken und seine anhaltende Aktualität. Die Vorteile einer solchen Affinität zum Gegenstand liegen in der Weite des Blicks und in der Energie, mit der Beziehungen aufgefunden und/oder hergestellt werden.

Mit vollem Recht wird für Novalis der Zusammenhang von Poetik und Ethik betont, für Celan und Bachmann eine produktive Frühromantik-Rezeption behauptet und nach dem Zusammenhang zwischen Foucaults später Ethik der Existenz und seinen frühromantisch inspirierten Anfängen gefragt. All dies macht Schmaus' Untersuchung zu einem wichtigen und anregenden Buch sowohl über ein philosophisch-literarisches Modell der Selbstkonstruktion wie über die Rezeption des Werkes von Novalis in der Moderne des 20. Jahrhunderts. Die Weite und Souveränität des Blicks der Verfasserin sind beeindruckend, und man wünscht dem Buch, daß es zu einer Vertiefung der vor einiger Zeit unter neuen Vorzeichen begonnenen Diskussion um Ethik und Ästhetik beiträgt.

Zu den Nachteilen oder Grenzen einer solchen Affinität zum Gegenstand – oder doch der Behauptung einer so großen Konstanz eines >Modells< – gehört, daß manche Fragen nicht gestellt und Relativierungen nicht vorgenommen werden.

Das gilt zunächst für das Foucault-Kapitel. Schmaus betont die Gemeinsamkeit mit der Frühromantik so stark, daß man sich wünscht, sie hätte, wie im Bachmann-Kapitel, auch zu den Differenzen deutlicher Stellung genommen. Das gilt mutatis mutandis dann aber vor allem für den Kronzeugen Novalis. Schmaus faßt die Gemeinsamkeit aller von ihr behandelten AutorInnen folgendermaßen zusammen:

In einer paradoxen Wendung ließen sich die in dieser Arbeit vorgestellten philosophisch-literarischen Entwürfe des Ich als moderne Überschreitung der Postmoderne bezeichnen, indem eine Ethik des Selbst das Augenmerk auf die Freiheitspraxis des Ich unter den Bedingungen moderner Pluralisierung der Diskurs- und Machtstrategien lenkt. Die postmoderne Dezentrierung des Subjekts wird mit der etho-poetischen Konstruktion des Selbst beantwortet. (S. 3)

Wenn eine solche postmoderne Modernität bereits das Werk von Novalis kennzeichnen soll, dann verlieren die Begriffe jede Trennschärfe. Es stellen sich die gleichen Fragen, die schon bei der früheren Indienstnahme der Frühromantik für die Postmoderne oder später für die Dekonstruktion nicht beantwortet wurden. Ist die Idee einer unendlichen Selbstvermittlung im Horizont eines absoluten Ich, auch wenn dieses nur eine regulative Idee ist, nicht eine jener Meistererzählungen, die die Postmoderne verabschiedet hat? Welchen Stand der Problementfaltung verkörpert eine Utopie der Aufhebung aller Widersprüche in einem Universum zwangsfreier dialogischer Selbstvermittlung? Und liegt, ketzerisch gefragt, diese Utopie nicht näher an Habermas, als dessen Kritik (vgl. S. 329f.) durch Schmaus zu erkennen gibt? Die Frage, was den Dialog zu einem herrschaftsfreien macht, liegt auf der Hand, wird aber nicht gestellt. Verräterisch ist auch, daß, wenn vom Anderen des Selbst die Rede ist, meist vom "affinen Anderen" gesprochen wird. Wie sieht die Vermittlung mit dem "nicht-affinen Anderen" aus?

Novalis und andere Frühromantiker haben Antworten auf Fragen gegeben, die sich am Beginn der Moderne gestellt haben, also auf historische Problemstellungen. Darin liegt Friedrich von Hardenbergs Leistung, und daraus mag sich im einzelnen eine noch andauernde Aktualität ergeben. Seine philosophiegeschichtliche Leistung liegt in der Kritik der Selbstbewußtseinsphilosophie, d.h. im Hinweis auf die unhintergehbare, unvordenkliche Selbstvermittlung, die als "Pluralität des Ich" expliziert wird. Die – auch an seine Interpreten zu richtende – Frage ist aber, wie weit ein solcher primär bewußtseinsphilosophischer Ansatz trägt, insbesondere wenn daraus eine Ethik und Politik umfassende >Lebenskunstlehre< entwickelt werden soll. Wird in dieser Konzeption Pluralität nicht zu sehr an Einheit zurückgebunden, als daß sie Art und Ausmaß der Vielheit um 1800 und in der Gegenwart ohne weiteres gerecht werden könnte?


Prof. Dr. Herbert Uerlings
Universität Trier
FB II: Germanistik
D-54286 Trier
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Ins Netz gestellt am 15.05.2001

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Anmerkungen

1 Zu dieser These vgl. bereits Herbert Uerlings: Novalis und die Moderne. Seghers - Hilbig - Benn - Bachmann. In: Herbert Uerlings (Hg.): "Blüthenstaub" - Rezeption und Wirkung des Werkes von Novalis. (Schriften der Internationalen Novalis-Gesellschaft 3) Tübingen: Niemeyer 2000, S. 7-38, hier S. 26-37.   zurück

2 Michel Foucault: Freiheit und Selbstsorge (1982/1984). Hg. von Helmut Becker u.a. Frankfurt am Main 1985, S. 50, hier zit. n. Schmaus, S. 2. Angesichts des leitmotivischen Charakters, den das "Ethopoiein" nicht nur im Foucault-Kapitel erhält, hätte man sich eine genauere begriffliche Klärung gewünscht.   zurück