Vaßen über Streisand: Intimität

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Florian Vaßen

Intimität und Theater

  • Marianne Streisand: Intimität. Begriffsgeschichte und Entdeckung der "Intimität" auf dem Theater um 1900, Wilhelm Fink: München 2001. 375 S. Kart. € 41,-.
    ISBN 3-7705-3552-9.


Intimität und Theater – ein Forschungsdesiderat

"Intim" / "Intimität" ist eines der faszinierendsten modernen Schlagworte. Es begegnet uns in allen gesellschaftlichen Bereichen, die Spannbreite seiner Verwendung reicht von der "Intimisierung" bis zum "Intimspray". Dennoch oder vielleicht gerade deshalb ist der Begriff so unpräzise und von großer Bedeutungsvielfalt. Eine genaue Definition ist kaum möglich, denn die Grenzen von Innen und Außen, von Ich und Welt waren immer fließend und werden es in wachsendem Maße. Zudem hat sich der Begriff "Intimität" in einer langen Geschichte seit dem 14. Jahrhundert entwickelt.

Die Untersuchung von Marianne Streisand, 2000 als Habilitationsschrift an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht, untersucht erstmalig umfassend und wissenschaftlich fundiert den Begriff "intim" / "Intimität", erschließt eine Vielzahl bisher nicht benutzten Materials und liefert damit die Grundlage für die weitere Diskussion dieses Problemkreises. Streisands Analyse nimmt zwar die heutige Situation als Ausgangspunkt und spannt auch den Bogen partiell bis in die Gegenwart, ihr eigentlicher Gegenstand aber ist einerseits die Begriffsgeschichte von "intim" und andererseits die "Entdeckung der >Intimität< auf dem Theater um 1900", ein doppelter Zugriff also, wie er sich auch in dem zweigeteilten Untertitel ausdrückt. Dabei umfasst die "Wortgeschichte als Bedeutungsgeschichte", wie der erste Teil überschrieben ist, mit ihren ca. 100 Seiten nur ein Drittel des Gesamtumfangs; zwei Drittel beschäftigen sich mit dem ">intimen Theater<" als Paradigma der ">intimen Ästhetik<" im Kontext der Moderne um 1900.

Dieser quantitative Unterschied markiert gewissermaßen auch die inhaltliche Gewichtung. Als zentrale These ihrer Untersuchung formuliert Streisand demzufolge, "dass um 1890 >Intimität< in allen avantgardistischen Stilrichtungen der Zeit wie Naturalismus, Décadence, Fin de Siècle, Neoromantik, Impressionismus, Symbolismus und anderen auf dem Theater >entdeckt< und in ihren komplexen ästhetischen Implikationen ausagiert wurde." (S.16) Wenn Luhmann betont: "Es gibt keinen theoretisch hinreichenden Begriff" für Intimität und wenn Kafitz schreibt: "Im ganzen bleibt der Begriff" >Intimes Theater< "unbestimmt", so sieht Streisand eben in der Aufhebung dieses Forschungsdesiderats eine ihrer zentralen Aufgaben.

So wie der Begriff "Intimität " "die Grenzen der Disziplinen und Diskurse" "überscheitet" (S.11) und so wie Soziologen und Politologen, Therapeuten und Sexualwissenschaftler, Sozialpädagogen und Ärzte, Juristen, Rechts- Kultur- und Kunsthistoriker sich mit ihm gleichermaßen beschäftigen, so verbindet auch Streisand kulturwissenschaftliche, begriffsgeschichtliche, literatur- und theaterwissenschaftliche Ansätze miteinander. Dabei geht es ihr nicht um die reale historische Entwicklung von Intimität in den verschiedenen Gesellschaftsformationen, sondern um Diskurs- und Begriffsanalyse sowie um die Interpretation von ästhetischer Theorie um 1900.

Zur "Topographie der Begriffsbewegungen":
historische Schwellenmomente

In einer "Topographie der Begriffsbewegungen" werden im ersten Teil zunächst "drei historische Schwellenmomente" herausgearbeitet. "Es ist dies 1. die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts; 2. die Umbruchsphase vom 19. zum 20. Jahrhundert und 3. die Gegenwart an der Wende zum 21. Jahrhundert.", "drei Phasen", in denen – so Streisand zurecht – "wichtige alltagskulturelle und mentalitätsgeschichtliche Veränderungsprozesse" ablaufen (S.31). Ob diese aber eindeutig "im Zusammenhang mit dem Entwurf neuer Gemeinschaftsutopien" (ebd.) stehen, scheint mir zumindest für die aktuellen Veränderungen doch zweifelhaft.

Zunächst wendet sich Streisand der aktuellen Situation am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu und zeigt mit vielen interessanten Beispielen und Anmerkungen die Verwendung von "intim" im Sinne von "vertraut", "nah", "geheim", "geschlossen", "innerlich" oder "gemütlich", aber auch verhüllend für Sexualität. Es ist ein ">warmer< Begriff", wie sie schreibt, der vor allem in der Theorie der Gemeinschaft und erneut in der gegenwärtigen Kommunitarismus-Debatte von Relevanz ist.

Am Ende einer Art Forschungsbericht (Ariès, Elias, Giddens, Duerr, Luhmann, Dewey, Plessner) setzt Streisand sich zum einen mit Sennetts "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität" auseinander und würdigt dabei dessen produktiven Ansatz bei gleichzeitiger Kritik einer gewissen Unschärfe der zugrundliegenden Kategorien. Zum anderen interpretiert Streisand die "literarische Forschung" zu Sartres Erzählung "Intimité". So überzeugend der aktuelle Forschungshintergrund dargestellt wird, ich hätte mir doch an einigen Stellen ein Überschreiten der Reflexionsebene und einen stärkeren Blick auf die reale Situation etwa in Familie, Jugendkultur und Medien gewünscht, um so das ganze Ausmaß der Bedeutung von Intimität heute in ihren vielfältigen Differenzierungen genauer erfassen zu können.

Bevor sich Streisand dem Umbruch um 1900 zuwendet, untersucht sie detailliert den ersten Nachweis des Wortes "intim" im deutschen Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts – in Frankreich und England lassen sich die entsprechenden Wörter erheblich früher feststellen – und zeigt an dem Beispiel der "intimen" Freundschaft von Schiller und Huber im Kontext des Freundschaftskultes jener Zeit sehr anschaulich und überzeugend den "historischen Sieg des >intimen< Freundes über den >Intimus<" (S.67), wie sie ihr Kapitel überschreibt.

Hatte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhundert das Wort "intim" im deutschen Wortschatz nach und nach fest verankert, so erfährt es seit 1890 für etwa 20 Jahre eine außergewöhnliche und einmalige Erweiterung und Intensivierung. In dem Verdeutschungswörterbuch von Sarrazin finden wir 1918 für "intim" ">innig, innigbefreundet, traulich, vertraut, vertraulich, heimelig, nah, näher, eng, herzlich; dreist; stimmungsvoll.<" (S.98) Mit der Bedeutung "dreist" bekommt "intim" eine neue Qualität, es wird mit der Bedeutung "sexuell" aufgeladen. An literarischen Beispielen, etwa bei Wedekind und Fontane, aber vor allem an Freuds frühen psychoanalytischen Texten macht Streisand sehr eindringlich die neue Variationsbreite und Doppeldeutigkeit von "intim" deutlich.

Schließlich – und damit endet die Wortgeschichte und leitet zugleich über zu dem zweiten Hauptteil "einer >intimen Ästhetik<" – wird "intim" Ende des 19. Jahrhunderts zu einer "kunsttheoretischen Beschreibungskategorie", von Streisand nachgewiesen etwa in der 6. Auflage von "Meyers Konversationslexikon" (1905) mit der Bedeutung ">auch ein Schlagwort der modernen Kunst<" (S.110), und zwar parallel in allen Strömungen der Zeit.

Mit der intensiven Reflexion und Realisierung von "Intimität" in der Kunst wird der Versuch einer "Rettung" unternommen, die sich – so Streisand – gegen die Dynamisierung der Moderne, mit Massenproduktion, Beschleunigung der Wahrnehmung, Flexibilisierung und Mobilisierung sowie Ausbau der Verkehrs- und Kommunikationsweisen wendet.. Während Streisand dabei auch ausführlich die Malerei mit der "paysage intime" und den "Intimisten" untersucht, wird Intimität in der Musik nur skizziert; hier lässt sich mit den viel früher eingeführten traditionellen Begriffen Hausmusik und Kammermusik offenkundig eine differente Entwicklung feststellen (vgl. vor allem S.330). In Bezug auf Lyrik und Prosa bleibt die Problemstellung "Intimität" dagegen weitgehend ausgespart. Erstaunlich ist immerhin, dass das Drama als öffentlichste Literaturgattung zum Zentrum von Intimisierung wird. Hier ist durchaus noch weitere Forschungsarbeit möglich.

Intimes Theater

Streisand beginnt ihre Untersuchung des Projekts des "Intimen Theaters" mit der Analyse von Strindbergs "Vorwort zu >Fräulein Julie<", das sie als Programm des "intimen Gesamtkunstwerks" liest. Sein Entwurf einer intimen Theaterästhetik beinhaltet sowohl den Theatertext als auch den Theaterraum mit seiner Atmosphäre und Stimmung, die psychologisierende, zurückgenommene Spielweise der Schauspieler wie nicht zuletzt die Zuschaukunst. Dabei geht es immer um ein psychologisches Drama, um Inneres und zugleich um Nähe, Blickkontakt von Zuschauern und Schauspielern, um eine geringe Größe von Bühne und Zuschauerraum, vor allem aber um ein Zimmer mit der Fiktion der vierten Wand als Bühnenbild, d.h. es entsteht – wie Streisand deutlich macht – zugleich eine Tendenz zur Nähe wie zur Distanzierung.

In der folgenden Darstellung der theaterpraktischen Konsequenzen dieses Programms, die Veränderung der Beleuchtung, des Schminkens als "Prozeß zunehmender Individualisierung und Psychologisierung" (S.155), das unsichtbare Orchester, die neue Gefühlskultur des im Dunkeln sitzenden, passiven und stummen Zuschauers entgegen dem traditionellen Geselligkeits- und Mitspielbedürfnis des Theaterpublikums sowie das schon erwähnte kleine Bühnenzimmer, entwickelt Streisand mit Blick in die Geschichte des Theaters überzeugend Kontinuitäten, Innovationen und Probleme dieses neuen "intimen" Realisierungskonzepts.

In dem zweiten exkursartigen Kapitel des zweiten Teils wird die interessante Parallelität von Theater und Psychoanalyse aufgezeigt. Beide, das "Intime Theater" wie Freuds frühe Versuche, zeigen einen Hang zur Innerlichkeit. Die Kategorie des Unbewussten eroberte die Bühne und verdrängte zugleich die Bewusstseinspsychologie. Kunst und Wissenschaft suchen nach Möglichkeiten, "dem Seelenleben zum Ausdruck zu verhelfen." (S.183) Formen wie das "intime Geständnis" (Alfred Lorenzer), die Beichte, talking cure und die Intimität der Situation sowie das "Familiendrama" als Untersuchungsgegenstand galten gleichermaßen für das Theater und die Psychoanalyse. Innere Handlung, das "kernlose" Individuum und die Sprachkrise sowie intime Sprech- und Spielweisen dominieren das Theater jener Zeit, wobei Literarisierung und zunehmende Relevanz von Körpersprache in einem auffälligen Widerspruch zueinander stehen.

Intime Dramaturgie:
die Familie als soziales Intimsystem

Waren bisher Programmatik und theaterpraktische Konsequenzen des "Intimen Theaters" eingehend erörtert worden, so folgt im dritten Kapitel eine primär literaturwissenschaftliche Interpretation der "intimen" Dramaturgie von ausgewählten Theaterstücken, insbesondere unter dem Aspekt der Familie als dem zentralen sozialen Intimsystem. Es geht dabei vor allem um den Ehe- und Generationskonflikt sowie die "Autopsychologie" der Familienmitglieder. Familienkatastrophen, die Macht der Vergangenheit, der Vater-Sohn-Konflikt weisen auf den Expressionismus voraus, setzen die Akzente aber zugleich ganz anders, indem ein schwacher Vater in den Mittelpunkt gestellt wird. Die Auswahl von Hauptmanns "Friedensfest" und "Einsame Menschen", Holz' / Schlafs "Familie Selicke", Maeterlincks "Die Blinden" und Hofmannsthals "Der Tod des Tizian" gibt einen guten Einblick in die Thematik und belegt zugleich, dass die verschiedensten Stiltendenzen und Literaturströmungen in gleicher Weise vom "Intimen Theater" geprägt sind.

Gewünscht hätte ich mir freilich, dass neben dieser exemplarischen Auswahl ein Überblick über weitere Dramentexte und Themenschwerpunkte gegeben worden wäre, um so die eindeutige Dominanz des "Intimen Theaters" zu jener Zeit nochmals – nun auch quantitativ – belegt zu bekommen. In diesem Kontext hätte auch die sich aufdrängende Frage beantwortet werden können, ob es nicht zeitgleiche, konkurrierende Tendenzen etwa des Grellen, Grotesken, Clownesken, Körperlichen, kurz Expressiven schon vor dem Expressionismus gegeben hat, ich denke etwa an einen Zeitgenossen des "Intimen Theaters", an Alfred Jarry mit seinem "Ubu Roi".

Die Vaterfigur steht zwar gleichermaßen im "Intimen Theater" und in der Psychoanalyse im Mittelpunkt, aber Streisand macht – wiederum exkursartig – mit Deleuze und Guattari deutlich, dass Freuds Oedipus-Komplex zu einer strukturellen Stärkung der Vaterfigur führt und damit in deutlichem Kontrast zu den schwachen Vaterfiguren des "Intimen Theaters" – die expressionistischen Theatertexte arbeiteten sich wieder an starken Vaterfiguren ab – steht. Ob aber die psychoanalytische Theorie wirklich "die Zentralstellung des Vaters" "wieder herstellt" (S.267), wie Streisand meint, oder nicht doch eher die bis heute – trotz vaterloser Gesellschaft – strukturelle Dominanz von Vaterfiguren (auch nichtbiologischen), das Vaterimago als Kontrollinstanz, losgelöst von leiblichen Vätern, beschreibt und interpretiert, halte ich keineswegs für entschieden.

Realisierungsformen eines intimen Theaters

Das folgende Kapitel "Realisierung" (II.4) knüpft im Grunde an das Unterkapitel "Theaterpraktische Dimensionen" (II,1.1) an, nur dass jetzt weniger die Inszenierungsrealität als die gesamte Theater-Realisierung im Blickpunkt steht. Das erste deutsche "Intime Theater" 1895 in München gegründet, ein Liebhabertheater-Experiment der Münchener Boheme, ist mit seiner psychologischen Durchdringung des Ich, seinem Antinaturalismus, seiner Abkehr von der Öffentlichkeit und seiner Ablehnung des Warencharakters (vgl. S.281f.) ein typisches Beispiel für die neue "intime" Tendenz, wie sie sich in vielen Theaterneugründungen in Westeuropa manifestiert, in denen sich nur noch die "Könner und Kenner", "die Reifen und Feinen" zusammenfinden sollen (Max Halbe).

Der wichtigste "Intime" Theater-Versuch, von Streisand eingehend dargestellt, sind jedoch die "Kammerspiele" des "Deutschen Theaters", von Max Reinhardt 1906 gegründet, ein Theaterneubau, der innenarchitektonisch und atmosphärisch Strindbergs Programm im Sinne von "Reduzierung, Konzentration und Vornehmheit" (S.307) erfüllte und in dem Reinhardt mit Edvard Munch als Bühnenbildner "Intimität" inszenierte (Bühnenbild, Licht, Schauspieler etc.). Gescheitert ist dieser Ansatz, wie Streisand überzeugend aufzeigt, an der angestrebten "Intimität" des Publikums. Die Ausgrenzung der "Masse" qua Eintrittspreisen und Bekleidungsordnung machte das Theater ">intim, schlicht, finanzbehaglich<" (S. 327), wie der Theaterkritiker Alfred Kerr bissig bemerkte, aber führte nicht zu dem erhofften intensiven Dialog mit einem kunstbegeisterten Publikum. Als Kritik aus historischer Distanz – und hier ist Streisand nach meinem Dafürhalten bisweilen zu zurückhaltend – könnte man formulieren: Exklusivität bringt vielleicht Intimität, aber auch Sterilität; elitäre Konzeption und Organisation nicht als innovative Experimentalsituation, sondern als Normalität führt in die Isolation.

Rückkehr zur Monumentalität

Die Phase der "Intimität" als dominanter ästhetischer Begriff wie auch die entsprechenden Kunstprodukte enden spätestens 1910 und zwar sehr eindeutig und radikal. Der "Untergang" nicht nur dieser "kunsttheoretischen Beschreibungskategorie" (S.329), sondern auch ihrer ästhetischen Realisierungen wird von Streisand nur sehr knapp auf gut sieben Seiten abgehandelt. Hier ist sicherlich noch weitere Forschungsarbeit möglich.

Zu fragen und genauer zu untersuchen wäre etwa, wieso die Ästhetik der Intimität ihr innovatives Potential so schnell verloren hat? War sie zu populär und zu öffentlich geworden, wie Streisand anmerkt. Wieso dominiert offensichtlich sehr abrupt und zugleich unangefochten wieder die Kunst der Monumentalität? Welche Rolle spielen die beginnende politische Krise am Vorabend des Ersten Weltkriegs, die zunehmend instabile Situation des Bürgertums und das Phänomen der wachsenden Massen? Liegt der Grund für das Ende des "Intimen Theaters" an seiner ">prinzipiell paradoxe(n) Situation<", wie Lukács formuliert, und an "sich widersprechende(n) Öffentlichkeitsformen" (S.332)? Oder spielt die einsetzende Konkurrenz zwischen dem alten Medium Theater mit seiner "Tiefe" und ">Seele<" und den neuen audiovisuellen Medien Film und Foto mit ihrer "Oberfläche" eine wichtige Rolle – neue Medien, die jedoch zugleich technisch eine "Nähe" und damit Intimität herstellen können, wie es dem Theater niemals gelingen kann (S.338f), wie Streisand in dem abschließenden Kapitel "Ausblick: Entgrenzung der >Intimität<" skizziert.

Zugleich beginnt im 20. Jahrhundert eine medial-technologische Entwicklung, die heute mit Fernsehen und Internet zu einer "Entgrenzung von Intimität" führt, so dass "Privat->Intimes< einerseits und Öffentliches andererseits [...] heute nur noch schwer dichotomisch denkbar" sind (S.341). Beide sind gleichermaßen, so meine These, einer neuen Dimension von Theatralisierung unterworfen, "Intimität" wird ebenso öffentlich inszeniert wie die öffentlichen Phänomene des Sports, der Politik oder Kultur. Damit aber löst sich "Intimität" entweder in öffentlicher Inszenierung auf oder sie vergräbt sich in einer Art Widerstandshaltung noch stärker im Innern, schließt sich nach außen ab und wird noch innerlicher als in der Vergangenheit; damit aber wird sie kaum mehr außerhalb von Therapie oder anderen internen Kommunikationsformen erfahrbar.

Resümee

Die entscheidende Leistung dieser Publikation liegt meines Erachtens in der kulturgeschichtlichen, genauer: in der theaterwissenschaftlichen Analyse des "Intimen Theaters" im Kontext der Moderne um 1900. Dazu ist auch die umfangreiche und differenzierte Begriffsgeschichte als Bedeutungsgeschichte hilfreich, die in dieser Präzision und Detailliertheit hier zum erstenmal vorgelegt wird. Die Zweitteilung der vorliegenden Untersuchung ist sinnvoll, da die "Intimität" auf dem Theater im Zentrum der begriffsgeschichtlichen Entwicklung steht, diese sozusagen an einem besonders relevanten Punkt historisch konkretisiert wird. Sparsames, aber beeindruckendes Fotomaterial, eine umfangreiche Bibliographie und eine leserfreundliche Schreibweise ergänzen den positiven Gesamteindruck.

Der komplexe Begriff "Intimität" bleibt selbst am Ende einer derart sorgfältigen Arbeit fließend und nicht scharf eingrenzbar; ein Schwarz-Weiß-Denken, das Anti-Intimität und "Intimisten" einander entgegensetzt, scheint auch für die heutige Situation weder sinnvoll noch produktiv. Streisand hat ein neues Terrain betreten, das Perspektiven eröffnet und für die Forschung vielfältige Anregungen bietet. Mit dieser Untersuchung erhält "Intimität" im Kontext von Begriffsgeschichte, Kulturhistorie und Theaterwissenschaft einen neuen Stellenwert.


Prof. Dr. Florian Vaßen
Universität Hannover
Seminar für deutsche Literatur und Sprache
Königsworther Platz 1
D-30167 Hannover
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Ins Netz gestellt am 02.04.2002
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Norbert Otto Eke. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


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