Velten über Rupp: Lochers lateinisches Narrenschiff

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Hans Rudolf Velten

Lochers lateinisches Narrenschiff.
Oder: Von der Unmöglichkeit,
eine Forschungslücke zweimal zu schließen.

  • Michael Rupp: >Narrenschiff< und >Stultifera navis<. Deutsche und lateinische Moralsatire von Sebastian Brant und Jakob Locher in Basel
    1494–1498 (= Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 3) Münster / New York / München / Berlin: Waxmann 2002. 264 S.
    Kart. EUR (D) 34, 80.
    ISBN 3-8309-1114-9.


Die lateinischen Fassungen von Sebastian Brants narren schyff, die ab 1497, also schon drei Jahre nach der deutschsprachigen Erstausgabe ebenfalls in Basel erschienen, wurden bisher von der Narrenschiff- Forschung mehr als stiefmütterlich behandelt. Während Brants Text seit Friedrich Zarnckes großer kommentierter Edition immer wieder Gegenstand von Debatten zur Qualität des Werkes, zu seiner literarhistorischen Bedeutung, seiner prägnanten (Narren-) Thematik oder zur gattungsgeschichtlichen Einordnung gewesen ist, gibt es dagegen bis heute nur wenige, und dann kaum neuere Studien zu den beiden lateinischen Fassungen, von denen die erste unter Empfehlung und Aufsicht Brants durch dessen Schüler und Freund, den Humanisten und Dichter Jakob Locher angefertigt wurde. Um diese Stultifera Navis, die wie das Narrenschiff auch bei Johann Bergmann von Olpe erschien, in ihrem Vergleich zur deutschen Vorlage geht es der im Tübinger Graduiertenkolleg "Ars und Scientia im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit" entstandenen Dissertation Michael Rupps, der innerhalb eines interdisziplinären Forschungszusammenhangs die besten Voraussetzungen hatte, eine wichtige Forschungslücke zwischen deutscher und neulateinischer Literatur zu schließen.

Doch sollte es anders kommen: es trat der, in der Erforschung von etwas entfernter gelegenen oder wenig beachteten, dafür aber interessanten Gegenständen der Literaturgeschichte, nicht gar zu seltene Fall ein, dass ein begonnenes Projekt sinnlos erscheint, wenn eine andere Arbeit zum gleichen Thema kurz zuvor in Druck geht. So geschehen durch die 1999 abgeschlossene und ein Jahr vor Rupps Arbeit erschienene Münsteraner Dissertation von Nina Hartl: Die >Stultifera Navis<. Jakob Lochers Übertragung von Sebastian Brants >Narrenschiff< (Münster 2001). Nicht immer ist schon ausgemacht, dass dies ein Nachteil ist: denn es kommt schließlich auf Herangehensweise und Gewichtung, Interpretation und Einordnung an, und im besten Fall können sich zwei Studien zum selben Thema auch ergänzen, zumal der Text nach langer Zeit durchaus zwei Untersuchungen vertragen konnte. In diesem Fall kam jedoch erschwerend hinzu, dass Hartl nicht nur dieselbe vergleichende Perspektive benutzte (die zu einer handwerklich sehr guten, alle wesentlichen Punkte umfassenden Studie mit neuen Forschungsergebnissen führte), sondern zusätzlich in einem zweiten Band auch eine kommentierte Teiledition der Stultifera Navis vorgelegt hatte.

Obwohl Rupp ebenso wie Hartl den Plan hatte, die Vorreden und einige Kapitel Lochers zu übersetzen, verfolgte er sein Vorhaben weiter, da er einerseits nicht auf bereits Übertragenes verzichten wollte, andererseits es sich nach einem kollegialen Gespräch mit Hartl 1999, wie er im Vorwort angibt, ergeben habe, dass zwischen beiden Arbeiten nur "geringfügige Überschneidungen" existierten. Die nun doppelte Editionsarbeit einiger Textteile begründet er etwas bemüht mit "anderen Leitprinzipien" (Vorwort) und dem Hinweis auf größere Originaltreue. So ist es die Aufgabe des Rezensenten, nicht nur Inhalt, Aufbau, Methodik und Forschungsertrag der vorliegenden Arbeit vorzustellen, sondern auch die Abgrenzungs- und Überschneidungsproblematik der beiden Dissertationen nicht unerwähnt zu lassen, um zu einer angemessenen Wertung zu gelangen.

Aufbau und Methodik

Rupp gliedert seine Untersuchung in sechs Teile: nach einer Einleitung zur Edition der Vorreden und Beifügungen, sowie von fünf Kapiteln der Stultifera Navis folgt ein erster Teil zu Locher und Brant, in welchem der biographische Zusammenhang und gemeinsame Interessenschwerpunkte erläutert werden, dann ein zweiter Teil zu den Vorreden, Briefen und Widmungsgedichten zu Lochers Übertragung, um schließlich in Teil drei bis fünf verschiedene Themen des Buches anhand ausgewählter Kapitel genauer und immer in Kontrast zum Narrenschiff zu analysieren: Krankheit und Ärzte (Kap. 38 und 55), Forschung und Glaube (Kap. 66 und 27) sowie Hofieren und Würfeln – die Verstrickungen des Alltags (Kap. 62 und 61). Ein zusammenfassender Vergleich, sowie ein Abkürzungs- und Literaturverzeichnis bilden den Schluss.

Was mit der Untersuchung erreicht werden soll, sagt in schöner Klarheit der Klappentext: die Rolle der Stultifera Navis als Grundstein für die europäische Verbreitung des Werkes in einem "komparatistischen Zugriff" präziser zu beleuchten, um den Blick "auf kulturgeschichtliche Transformationsprozesse des Humanismus", auf die Anpassung "an den Erwartungs- und Verständnishorizont der lateinischsprachigen res publica litteraria" zu eröffnen. Viel mehr ist in der knappen Einleitung dann auch nicht zu finden: Rupp betont die Notwendigkeit einer Edition der lateinischen Fassungen von Locher und Badius in Bezug auf ihre wichtige Rolle für die Rezeption, er will versuchen, "Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen dem Text Brants und Lochers Übersetzung herauszuarbeiten und zu deuten". (S. 9) Dies vor allem zu dem Zweck, "die ermittelten Unterschiede und Auffälligkeiten [...] dann im Hinblick auf ihren Bezug zu einem wechselnden Publikum" zu interpretieren. (S. 10)

Abgesehen von dieser eher unterkomplexen Herangehensweise der Entdeckung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten erstaunt doch das positivistische Grundvertrauen, das Rupp in seinen Vergleich setzt. Er verzichtet leichtfüßig auf einen Forschungsüberblick (mit dem Verweis auf die jüngsten Arbeiten und Ausstellungen 1 zum Narrenschiff), doch gleichzeitig bleibt auch das bisher Erforschte (und Nicht-Erforschte) zum Thema der lateinischen Übertragungen verschwiegen. So auch die bisherigen Thesen zum Lesepublikum des Narrenschiffs und der Stultifera Navis, wie sie etwa von Kärtner (1923), Suchomski (1978) oder Lemmer (1986), aber auch in den großen Arbeiten von Gaier und Könneker vorgebracht wurden. 2 Rupp verspielt sich somit wichtige Grundlagen für seine spätere Untersuchung, indem er von einer bereits zu Anfang klaren Fixierung der Rezipientenkreise ausgeht: das Narrenschiff habe sich an deutschsprachige Leser mit unterschiedlicher Bildung, die lateinische Version an die res publica litteraria, die Humanisten gerichtet. Dass Corsten bereits 1988 diese Dichotomie aufgebrochen hatte, indem er die Lektüre der Stultifera Navis durch Kölner Kaufleute ohne Universitätsbildung nachwies, nimmt Rupp entweder nicht zur Kenntnis oder unterschlägt es. 3 Zudem werden mit dem Verzicht auf einen Überblick über die Forschung zu Brant auch deren Fragestellungen vollständig ausgeblendet, die ja auch für Lochers Text durchaus Gültigkeit haben, und die der Arbeit einen etwas weiteren methodischen Rahmen hätten geben können. Dies ist vielleicht auch der Grund, warum man präzise und über den bloßen Vergleich hinausgehende Fragestellungen vermisst, ein Umstand, der sich im weiteren Verlauf der Arbeit noch negativ bemerkbar machen wird.

Brant, Locher und
die Patristik in Basel

So wird dem Leser zum Beispiel nicht greifbar, welchen Grund es geben mag, warum im ersten Teil der Untersuchung ("Jakob Locher und Sebastian Brant") die einleitenden Texte aus Lochers Theologia emphasis in Original und deutscher Übersetzung (34 Seiten) und die Vorrede Brants zu seiner Edition der Concordantiae maiores vollständig abgedruckt werden. In der Einleitung hatte Rupp lediglich erwähnt, er wolle hier "Texte beider, die in diesen Jahren entstanden sind, einander [gegenüberstellen]" (S. 11). Selbst wenn dies zur präliminaren Klärung des Verhältnisses der beiden Akademiker sinnvoll sein sollte, bedarf es eines Minimums an Begründung für diese Gegenüberstellung vor ihrem Abdruck und ihrer Übersetzung, da sonst die Koordination für die Lektüre fehlt.

Rupp dokumentiert im ersten Kapitel das Interesse Brants und Lochers für patristische (v.a. Augustinus) und humanistische Texte 4 anhand ihrer Editionen. Der Leser kann nur ahnen, was damit bezweckt wird: schattenhaft schälen sich unterschiedliche und gemeinsame Aspekte dieser Editionsarbeit heraus, wie das Motiv der Bekämpfung der Heiden mit Worten (Brant in der Einleitung zur Ausgabe von De civitate Dei, Locher in der Theologia emphasis), die Vermischung christlicher und antiker Allegorese und die Thematik der Inspiration bei Locher, die Hochschätzung Augustinus' als "Oberhaupt aller Gebildeten" und die Aufnahme der platonischen Tradition in der Vorrede zu den Concordantiae maiores bei Brant, Motive, von denen man annehmen kann, dass sie in der Untersuchung von Narrenschiff und Stultifera Navis dann eine größere Rolle spielen.

Zunächst werden die unterschiedlichen Arbeitsweisen in den Vorreden jedoch für eine allgemeine Charakteristik Lochers und Brants gebraucht. Während für Locher die Thematik der Inspiration zentral ist, steht für Brant die Vermittlung göttlicher Wahrheiten und Gesetze im Vordergrund: "Im Vergleich mit Locher bleibt Brant viel nüchterner. [...] Locher [...] versucht eher aus dem poeticus furor heraus zu schreiben". (S. 73) Trotz des gemeinsamen Interesses für Patristik und platonische Traditionen interessiert sich Brant stärker für die Inhalte, Locher lobt dagegen Augustinus als Sprachkünstler. Diese (durchaus interessanten) Ergebnisse stehen jedoch in keinem Verhältnis zum beträchtlichen (translatorischen) Aufwand dieses Kapitels: man hätte dies leichter und anschaulicher haben können, hätte man die angesprochenen Themen diskursanalytisch verfolgt und sie mit den entsprechenden Kapiteln der Narrenschiff-Versionen in Beziehung gesetzt. Da dies teilweise schon von Hartl geleistet worden war (Diskussion der virtus / voluptas-Thematik und des sapientia-Begriffes bei Locher und Brant) hatte Rupp sich entschieden, strukturelle Unterschiede beider Autoren auf der Basis ihrer Patristik-Beschäftigung herauszuarbeiten. Dass dieses Ansinnen weder den gewünschten Ertrag noch eine Fokussierung der eigentlichen Narrenschiff-Diskussion gebracht hat, zeigen die Folgekapitel, denn sie nehmen – nicht überraschend – die hier ausgelegten Fäden nur in Einzelfällen wieder auf. 5

Die Logik der Vorreden
bei Brant und bei Locher: ein Vergleich

Auch der zweite Teil (Vorrede und Einleitungstexte in die Stultifera Navis) leidet unter den gleichen methodischen Mängeln: es fehlt eine erläuternde Hinführung zum Thema mit klarer Zielsetzung und Fragestellung, die "Paratexte", so nennt Rupp in Benutzung von Genettes Begriff die Widmungsschreiben und -gedichte (ohne die hier notwendige theoretische Klärung), werden in ihrer Auswahl nicht begründet, 6 sondern einfach abgedruckt, als wenn Edition und Übersetzung in ihrer materialen Form den Ansprüchen einer wissenschaftlichen Arbeit schon genügen würden. 7 Dabei sind die Vorreden Brants und Lochers (Prologus) wichtige Quellen für den persönlichen, kulturellen und philologischen Kontext der Entstehung von Lochers lateinischer Übertragung. Sie enthalten poetologische Reflexionen über das Narrenschiff, eine literarhistorische Einordnung des Textes als Satire, eine Rahmung des Verhältnisses von deutscher und lateinischer Version, sowie Angaben zur Übersetzungstechnik: nicht ad verbum soll übersetzt, sondern sensus und notas sollen übertragen werden. Die einleitenden Beigaben zur Stultifera Navis, so Rupp, gingen in Umfang und Informationsgehalt über jene zum Narrenschiff hinaus. Während Brant sein Buch auf der "Ebene von Illustration und ausgeklügeltem Layout" präsentiert, einfach und plakativ argumentiert und vor allem Sprichwörter verwertet, beginnt Locher mit einem "Wirrwar an Texten", einem weniger kunstvollen Layout, und setzt Marginalien für die Kontextualisierung des Gesagten ein. (S.141 f.) In der Zusammenfassung seiner Ergebnisse bleibt Rupp seltsam unscharf: obwohl er jede einzelne der Beigaben nummeriert hatte, spricht er von "neuen Texten", "zusätzlichen Texten", "wieder anderen Texten". (alle S. 141)

Die wichtige Frage des spezifischen Publikums der lateinischen Fassung und der Rezeptionssteuerung bei Locher hat Rupp hier, obschon der wichtige Hinweis auf französische, spanische, italienische, ungarische und griechische Leser im Prologus Lochers gegeben wird, 8 wieder nicht angeschnitten und verweist auf die folgenden drei Untersuchungsteile.

Fallbeispiel 1:
Der Arzt als Moralphilosoph
und der Leser als Philologe

Im dritten Teil (Kranke und Ärzte), wo Rupp die entsprechenden Kapitel (38 und 55) paradigmatisch für das gesamte Werk analysiert, gelingt es ihm immerhin, nach einer allgemeinen, Bekanntes referierenden Einleitung ("Medizin und Religion"), die wichtige Rolle der Moralphilosophie bei Brant und Locher zu zeigen, und das Diskursfeld der cura animorum von den Predigten des Augustinus über Petrarcas Vorbehalte der Medizin gegenüber in De remediis utriusque fortunae über die Edition Brants bis zu Locher zu verfolgen (152–162). Leider sind auch hier wieder methodische Fehlentscheidungen bzw. grobe Nachlässigkeiten des Verfassers anzumerken: während er es für nötig hält, den klaren frühneuhochdeutschen Texte Brants der ersten vier Verse von Kap. 38 zu übersetzen (sic!), hat er andererseits darauf verzichtet (oder es vergessen?), die Folgeverse 5–8 überhaupt anzugeben, obwohl er sie auf den Seiten 156 und 157 ausführlich bespricht. 9 Der Leser muss erst eine Ausgabe des Narrenschiffs zur Hand nehmen, um zu verstehen, was Rupp hier meint.

Auch der Aufbau des Kapitels ist verwirrend: gibt Rupp zunächst Lochers lateinischen Text mit Übersetzung wieder, folgt im Anschluss eine allgemeine Einleitung und die Diskussion des Brantschen Kapitels, einschließlich der Forschung. Dann folgt das thematisch verwandte 55. Kapitel und seine Diskussion, ebenfalls bei Brant, und erst danach wird Lochers Übertragung beider Kapitel kommentiert und analysiert. (164–176) Man durfte hier einen genauen Vergleich der beiden Textfassungen erwarten, und Rupp erfüllt an dieser Stelle die Erwartungen. Er arbeitet feine Unterschiede heraus, indem er die einzelnen Verse Brants mit den Distichen Lochers vergleicht. Bei identischer Thematik des Kapitels 38 hat Locher sprachlich aufgerüstet, inhaltlich drastische Passagen jedoch zurückgenommen. Wo Brant sich auf die Wirklichkeit bezieht (Verdammung von Praktiken des Aberglaubens), verlagert Locher seine Referenten in die antike Literatur (Petrons Satyricon, 166 f.) Diese Technik der Wechsel der Referenzrahmen von der gesellschaftlichen und kulturellen Welt Basels in die Textwelt der antiken Literatur kann Rupp später noch an einigen anderen Stellen zeigen; sie wird sich als eines der wichtigsten Ergebnisse der Arbeit bestimmen lassen.

Interessant ist nun, dass Brant mit der Einfügung seiner Marginalien in Lochers Text offensichtlich versucht hat, diese literarisierenden Tendenzen des Schülers in christlicher bzw. moralphilosophischer Richtung zu konterkarieren. Die sich daraus ergebende Spannung könnte ein Grund für den Erfolg von Lochers Übertragung gewesen sein, und auch die Zusammenarbeit beider Humanisten neu beleuchten. Doch eine solche Hypothese weiter zu verfolgen, kommt Rupp nicht in den Sinn, die wichtige Frage der Zusammenarbeit und die Rolle der Marginalien und Bildbeischriften bleibt unerwähnt.

Überhaupt ist der ganze Komplex der Marginalien wieder denkbar schlampig und unvollständig eingeführt worden. An keiner Stelle expliziert der Verfasser, dass die Marginalien in Lochers Text von Brant hinzugefügt worden waren, und dass dieser Umstand ein hohes Maß an Verwirrung bei den Interpreten gestiftet hatte. 10 Stattdessen setzt Rupp diese Tatsache stillschweigend voraus, sodass der Leser annehmen muss, die Marginalien befänden sich bereits im Narrenschiff, wenn er sich nicht an das Einleitungskapitel erinnert. Diese Auslassungen von diskursiven Textteilen, die dem Leser methodische Entscheidungen transparent machen, die wichtige Begriffe aufnehmen und vor dem Hintergrund der Forschungsdiskussion definieren, treten in der Arbeit auf Schritt und Tritt auf. Wer sich einen Überblick über Sinn und Funktion der Marginalien verschaffen will, muss bei Zarncke oder bei Hartl nachlesen. Rupp dagegen setzt sein ganzes Interesse darauf, genau nachzuweisen, aus welchen antiken Werken die Marginalien stammen. Doch welche Funktion hat dieses Vorgehen, wenn damit nicht den Gesamttext übergreifende Fragestellungen verbunden sind, die einen Aussagegehalt besitzen? Dass also in einem strukturellen Längsschnitt Bezüge zu bestimmten Autoren, Themen und Texten hergestellt werden kann? Hier rächt es sich, dass Rupp zu Beginn keine über den Vergleich hinaus gehende Fragestellungen formuliert hatte, kein methodisches Konzept hat.

Fallbeispiel 2:
curiositas und sapientia

Im vierten und fünften Untersuchungsteil (Forschung und Glaube, Alltagskultur) hat Rupp dort sicheren Boden unter den Füßen, wo er sich auf Vorarbeiten stützen kann, wie am Beispiel der curiositas-Diskussion deutlich zu erkennen ist (Blumenberg, Oberman, Bös, Berg). Doch hier verliert sich Rupp, wie auch zu Beginn des dritten Kapitels, zu leicht in Abschweifungen, er präsentiert ein Sammelsurium an Wissensbausteinen, die nicht für eine spezifische Argumentation fruchtbar gemacht werden. Es ist wie auf einem Spaziergang durch die Wissensgebiete der frühen Neuzeit: was interessant erscheint, wird besprochen: die philosophiegeschichtliche Diskussion des curiositas-Begriffes von Cicero bis Seneca, seine theologische Behandlung bei Augustinus, Bernhard,
Hugo von St. Viktor und den Nominalisten, sowie das experientia-Wissen des
15. Jahrhunderts, das Verhältnis sapientia-curiositas bei Brant. Aber es bleibt völlig unverständlich, warum Rupp in diesem Kapitel über erfarung und curiositas das wichtigste zeitgenössische Zeugnis nicht erwähnt, den viel besprochenen Brief an die Nachwelt Francesco Petrarcas, der ja gerade ein Paradebeispiel der Augustinus-Rezeption ist, und der auch im Zusammenhang mit dem Narrenschiff diskutiert wurde (vgl. Theisens Aufsatz zur Petrarca-Rezeption bei Brant). 11 Rupp geht auch hier, in den ausgewählten Kapiteln der beiden Bücher, nicht in die Tiefe, sondern lieber in die Breite.

Wie auch schon im dritten Teil der Untersuchung, blendet er hier den ganzen Komplex der Satire, des Spotts, der Schadenfreude und der Ironie völlig aus. Der Begriff "Satire" scheint ihm überhaupt fremd, Gattungsdiskussion, Funktion und soziale Wirkung von Satire kommen nicht in den Blick. So sind auch die Ergebnisse dieses Teils recht dürftig: die lateinische Version präsentiere weniger wissenschaftliche Inhalte, weniger Moralphilosophisches und Brauchtümliches als die deutsche, Locher argumentiere "weniger pragmatisch, sondern philosophischer", eine Aussage, die sich allerdings auf ein ganz anderes Kapitel, "von unnutzem studieren" bezieht. (207–209)

Zusammenfassung

Kommen wir zum Schluss: die Zusammenfassung bringt Überraschungen, da Rupp hier Dinge sagt, die in die Einleitung gehört hätten. Der Verdacht ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass in einer früheren Version dieser Teil als Einleitung gedacht war und auch als solche hätte bestehen bleiben müssen. Kennzeichen dafür ist, dass Rupp hier endlich Positionen der Forschung (wenn auch verkürzt und unvollständig) in Bezug auf die Übertragungsfragen, die literarische Stellung der Stultifera Navis und Strategien der Textgestaltung referiert (Zarncke, Könneker, Gaier, Gruenter, Fuchs 234). Auf wenigen Seiten werden prägnant einige der literarischen Techniken Lochers beschrieben, allerdings an Material, was bisher nicht untersucht worden war. Hier die wichtigsten:

  1. Anspielungen auf antike lateinische Texte werden nicht durch wörtliche Zitate, sondern durch Umschreibungen kenntlich gemacht

  2. Locher kürzt die langen Exempelreihen häufig ab und ist auf eine bruchlose Argumentationslinie bedacht

  3. Locher lässt Passagen aus der Volkskultur weg und ersetzt sie durch den Bezug auf antike Texte, die ebenfalls vom Aberglauben handeln. Er arbeitet weniger realitäts- und mehr literaturbezogen

  4. die Offenheit von Brants Text zeugt von der Breite des intendierten Publikums, das auch Gebildete einschließt. Dagegen wendet sich Locher "mit seinem pointierten und geschliffenen Stil" an eine humanistische Lesergemeinde.

Auch wenn Punkt 3 und 4 in der Forschung bereits bekannt waren, arbeitet Rupp hier endlich einmal Thesen heraus, die über einzelne Textstellen hinausgehen und strukturelle Aspekte beschreiben. Danach folgen auch einige Absätze über die Zusammenarbeit Lochers und Brants, wenn auch zu spät und zu knapp. Die vorher angesprochene Spannung zwischen beiden Autoren wird deutlich, wenn wir erfahren, dass Brant seine Marginalien als Kompensation für übergangene Passagen ansah, denn Locher hatte die Referenzen manchmal nicht klar genug gemacht. Der lateinische Autor ist also freier verfahren, hat poetischere, assoziative Muster zugrunde gelegt. Die Bestimmung der Marginalien als "intertextuelle Verweise" nach Henkel ist somit richtig, bestätigt jedoch auch nur den Forschungsstand. Unerfindlich ist leider, warum Rupp mit dem interessanten Hinweis Barners zur "hochflexiblen Spieltechnik" des Narrenschiffs erst ganz zum Schluss kommt, wo er ihn doch in der Untersuchung hätte fruchtbar machen können, auch im Kontrast zu Lochers Übertragung. (243)

Die Zusammenfassung macht noch einmal deutlich, dass Rupps Aufwand und seine Ergebnisse in keinem Verhältnis zueinander stehen: diese hätten bequem auch in einem Aufsatz Platz gehabt. Stattdessen hat sich der Verfasser in dysfunktionaler Mehrarbeit verstrickt (die Funktion des ersten Teils ist bis zum Schluss nicht klar), wichtige Aspekte ausgelassen und nicht zum Thema Gehöriges über die Maßen hin ausgedehnt. Die zentrale Frage nach Erfolg und Wirkung der Übersetzung, die üblicherweise mit einem unterschiedlichen Rezipientenkreis beantwortet wird, hat Rupp nur am Rande behandelt. Er hat keine Belege zur europäischen Rezeption des Narrenschiffes gesammelt, die eventuell Aufschluss über die Faszination von Lochers Text gegeben hätten. Eine genauere Erarbeitung der Zusammenarbeit Brants und Lochers bei den Marginalien sowie deren Funktionsbestimmung fehlt ebenso. Die Frage, inwiefern auch die Stultifera Navis zur Moralsatire zählt, und was satirisch an ihr ist, wird nicht gestellt. Rupp scheint den satirischen Schlüsselbegriff der Narrheit (Könneker) aus dem Narrenschiff-Stoff völlig auszuklammern. Und das, obwohl schon bei oberflächlicher Lektüre von Lochers Text deutlich wird, dass er diesen Begriff sprachlich aufgelöst hat. 12 Was würde das für Könnekers Thesen in Bezug auf die Stultifera Navis bedeuten?

Nina Hartl hat in ihrer Arbeit viel Wert auf die von Locher gesetzten humanistischen Aktzente gelegt – kaum etwas davon bei Rupp – als wenn er es gerade deshalb ausgeklammert hätte. Ihre schlüssige These der Verlagerung von der delectatio zur utilitas in der lateinischen Fassung, jene Polarisierung von Volkstümlichkeit und docta elegantia wird von ihm nur in Nebensätzen erwähnt und in keiner Weise wirklich durchgearbeitet, obwohl seine Vorarbeiten dies nahegelegt hatten. Unverständlich auch, warum Rupp die Stultifera Navis nicht sprachlich analysiert. Von einer stilistischen und rhetorischen Analyse des Lateins ist wenig zu erkennen, immerhin wurde Locher zum poeta laureatus gekrönt.

In Rupps Arbeit macht sich eine seltsame Auffassung von Wissenschaft bemerkbar: statt Thesen aufzustellen und sie zu belegen, sie gegen oder mit den Einzelaussagen der Forschung in Beziehung zu setzen, akkumuliert er Wissen, das in eine Art "magnetisches Feld" des besprochenen Themas paßt. Dabei werden Bezüge verunklart, indem innerhalb des Feldes alles mit allem korrespondiert, ein Mahlstrom der Assoziationen, der viel Bekanntes wiederholt und sich in überflüssigen Digressionen ergeht. Außer einem akribischen Quellennachweis will Rupp nichts belegen, da er auch nach nichts gefragt hat – es fehlt ein methodischer Plan. Herausgekommen ist eine Arbeit, die in keiner Weise ihre selbst gesetzten Ansprüche erfüllen kann, und die in ihrer Fragmentarität und Ziellosigkeit am Erscheinen von Hartls Locher-Übersetzung und Kommentar gescheitert ist. Zu fragen bleibt am Ende, warum Rupp seinen eigenen Satz (S. 207) so wenig ernst genommen hat: "Es kommt dem Narrenschiffdichter darauf an, dass man die richtigen Fragen in der Forschung stellt und sich nicht in dem verliert, was in seinen Augen unnütze Bemühungen sind. ... Sobald die Zielrichtung nicht mehr stimmt, wird die Wissenschaft Selbstzweck und damit unnötig".


Dr. Hans Rudolf Velten
Humboldt Universität zu Berlin
Institut für Ältere deutsche Literatur
Unter den Linden 6
D-10099 Berlin

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Ins Netz gestellt am 14.10.2003
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Anmerkungen

1 Den Forschungsbericht von John van Cleve: Sebastian Brant's The Ship of Fools in Critical Perspective, 1800–1991. Columbia: Camden House 1993 und den Jubiläumsband zum 500. Geburtstag Brants: Sébastien Brant. 500e anniversaire de La Nef des Folz. 1494–1994. Das Narren Schyff. Basel 1994.   zurück

2 Vgl. Joseph Kärtner: Des Jakob Locher Philomusus >Stultifera Navis< und ihr Verhältnis zum >Narrenschiff< des Sebastian Brant. Frankfurt / Main 1923; Joachim Suchomski: Der satirische Autor als Narr unter Narren. Zur Rezeption des ersten Kapitels von Sebastian Brants Narrenschiff. In: DVjs 52 (1958), S. 400–429; Manfred Lemmer (Hg.): Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgabe von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben. Tübingen 1986; Ulrich Gaier: Studien zu Sebastian Brants Narrenschiff. Tübingen 1966; Barbara Könneker: Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Interpretation. München 1966.   zurück

3 Auch in der Bibliographie taucht der Aufsatz von Corsten nicht auf: Severin Corsten: Kölner Kaufleute lesen Brants Narrenschiff. Humanistisch gesinnte Großbürger zu Beginn des 16. Jahrhunderts. In: Wolfgang Milde u. Werner Schuder: De captu lectoris. Wirkungen des Buches im 15. und 16. Jahrhundert dargestellt an ausgewählten Handschriften und Drucken. Berlin / New York 1988, S. 67–80.   zurück

4 Hier vor allem neuplatonische Schriften wie Marsilio Ficinos De voluptate, der in der Vorrede Brants zu den Concordantiae maiores eine zentrale Rolle spielt.    zurück

5 Ein Beispiel mag genügen: der furor poeticus, auf den Rupp bei der Charakterisierung Lochers so viel Wert gelegt hatte, kommt in der Analyse des Textes kaum mehr zum Tragen, worüber sich Rupp sogar bewusst wird: "Der Gedanke vom poeticus furor, der für Locher sonst so zentral war, kommt in der gesamten >Stultifera navis< nur in mehr oder weniger versteckten Anspielungen zum Ausdruck." S. 141.   zurück

6 So wird beispielsweise nicht deutlich, warum Rupp die wichtige Ermahnung Brants an Locher (Ad Iacobum Philomusum [...] exhortatio Sebastiani Brant) weggelassen hat, die er dann auf S. 129–130 auch nur kurz bespricht.    zurück

7 Überraschenderweise fehlt dann der Abdruck von Brants Narrenschiff-Vorrede, obwohl in der anschließenden Analyse der Einleitungstexte sechs Seiten auf diesen Text verwandt werden, der dem Leser hier nicht zugänglich ist.   zurück

8 [Narragonia] omnibus gentibus pernecessaria sit: opere pretium esse duxi: vt eam in carmen verterem latinum: quo exteris quoque nationibus (quibus nullum est lingue nostre commertium) prodesset. Sunt enim galli: sund Ausonii: sunt Iberi: sunt Panonii: sunt denique Greci: qui id genus dictaminis non caperata fronte lectitent." S. 102.   zurück

9 Es handelt sich um die Rolle des Weins als diätetisches Heilmittel (Wein statt Wasser) und seine antike und biblische Metaphorik.   zurück

10 Vgl. Nina Hartl: Die >Stultifera Navis<, a.a.O., S. 99–101 zu den Marginalien. Hartl bezeichnet sie als Versatzstücke antiker auctoritates, die Marginalie hat teils erläuternde teils orientierende Funktion, sie ist ein Kennzeichen humanistischer instructio. Hartl sieht in den Marginalien keine reinen Quellenangaben, sondern einen Metatext.    zurück

11 Joachim Theisen: Sebastian Brant, Dr. Griff und Petrarca auf dem Mont Ventoux. Das Titelblatt als Verständnisvorgabe des Narrenschiffs. In: Euphorion 90 (1996), S. 62–75.   zurück

12 Folgende bisherige Arbeiten zum Vergleich von Narrenschiff und Stultifera Navis werden nicht oder kaum benutzt: Suchomski 1978 (nicht vorhanden), Hehle 1873, Kärtner 1923.   zurück