Vollmer über Merzhäuser: Satyrische Selbstbehauptung

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Wilfried Vollmer

Die Selbstbegründung des Subjekts
aus dem Widerspruch
von Tradition und Erfahrung

  • Andreas Merzhäuser: Satyrische Selbstbehauptung. Innovation und Tradition in Grimmelshausens "Abentheurlichem Simplicissimus Teutsch". Göttingen: Wallstein 2001. 256 S. Kart. EUR (D) 29,-.
    ISBN 3-89244-619-9.


Als Proteus, der sich "in mancherley Gestalten verändern [mag] wie Er will", bezeichnet sich Grimmelshausen selbst im Widmungssonett zu Dietwald und Amelinde (das er – als wollte er sich sogleich bestätigen – mit dem Pseudonym "Sylvander" signiert), und in der Tat scheinen Person, Werk und Wirkung Grimmelshausens in vieler Hinsicht diese Charakterisierung zu bestätigen.

Die Person: Protestantisch aufgewachsen in der freien Reichsstadt Gelnhausen, war er im Dreißigjährigen Krieg und danach Soldat, Regimentsschreiber, Burgverwalter, Gastwirt, Schultheiß und Schriftsteller und starb, zum Katholizismus konvertiert, in Diensten des Bischofs von Straßburg. Das Werk: In seinen zahlreichen Veröffentlichungen, die allesamt im letzten Lebensjahrzehnt erschienen, verschleierte er seine Autorschaft durch die Verwendung zahlreicher anagrammatischer Pseudonyme so erfolgreich, daß es erst philologischer Akribie des 19. Jh.s gelang, das gesamte Corpus zu identifizieren und Grimmelshausen zuzuweisen. Und die Wirkung: Rezipiert wurde das Grimmelshausensche Werk, insbesondere der Simplicissimus, je nach Zeitalter und je nach Perspektive von den einen als erbauliches und satirisches Lehrwerk, von anderen als anstößig und frivol.

Die Vielfalt in der Grimmelshausenforschung

Ein Bild proteischer Vielfalt bietet auch – obwohl die älteren wichtigen Thesen, wie etwa die Annahme eines Kompositionsprinzips anhand von Planetenphasen (Weydt) oder mittels symbolischer Zahlenverhältnisse (Streller) heute kaum noch verfolgt werden – die gegenwärtige Simplicissimus-Forschung: Ordnet man die neueren Beiträge unter dem Aspekt ihrer Stellungnahme zur Autor- oder Textintention, zu der in der frühen Neuzeit stets relevanten Frage literarischer Wirkungsabsichten (die natürlich nicht in allen Beiträgen gleichermaßen expliziter Gegenstand der Analyse ist, dennoch aber fast immer implizit erkenntnisleitend ist), so ergibt sich ein Bild, das nicht nur die Spannbreite der Auffassungen, sondern damit zugleich auch ein zentrales Problem der gegenwärtigen Forschungssituation aufzeigt, auf das die hier zu besprechende Arbeit von Andreas Merzhäuser abzielt.

  1. Der größere Teil der neueren Forschungsbeiträge geht von (im Detail z.T. abweichend bestimmten) moraldidaktischen Wirkungsabsichten des Romans (bzw. des Autors) aus – sei es unter dem Gesichtspunkt einer angenommenen allegorischen und emblematischen Struktur der Werke (wie zuletzt, aber keineswegs als einziger Heßelmann), 1 sei es mittels einer Einbettung in die Gattungstradition der menippeischen Satire (so zuletzt Trappen) 2 – um nur die wichtigsten Monographien zu nennen.

  2. Eine weitere Gruppe (die Übergänge sind fließend) beobachtet Brüche im traditionellen Weltbild – etwa durch das Eindringen von Erfahrungswirklichkeit in das didaktische Konzept –, die Grimmelshausens Werk als Dokument einer Übergangszeit kennzeichnen, das unvermittelte Nebeneinander traditioneller und moderner Elemente aber als von Grimmelshausen selbst letztlich unbegriffenes und insofern "defizitäres" Phänomen erklären; dieser Gruppe können u.a. die beiden Grimmelshausen-Handbücher 3 zugeordnet werden, die Untersuchung von Dohm 4 ist ein idealtypischer Fall.

  3. Eine kleine Gruppe schließlich greift zu der dekonstruktivistisch inspirierten These, daß im Simplicissimus "jede sinnfixierende Lesart ihre Lizenz verliert" (Wiethölter). 5

Trotz, nein eigentlich: aufgrund der Tatsache, daß diese Arbeiten überwiegend für ihre jeweilige Fragestellung und damit für das Grimmelshausenbild insgesamt wichtigen Erkenntniszuwachs erbracht haben, erscheint die derzeitige Forschungssituation in dieser Hinsicht von Sackgassen geprägt: Entweder sind die Analysen zu sehr an Traditionen gebunden und werden dem Text nicht gerecht (1); oder sie verabsolutieren Phänomene des Textes und werden den Traditionen, in denen er steht, nicht gerecht (3); oder sie nehmen Traditionsgeschichte, Zeitgebundenheit und Text ernst, können aber die offenbar divergierenden Aspekte letztlich nicht schlüssig integrieren (2).

Die 1999 abgeschlossene Bonner Dissertation von Andreas Merzhäuser, 2002 im Wallstein-Verlag Göttingen veröffentlicht, hat sich das ambitionierte Ziel gesetzt, die "tiefe Vielfalt" nicht so sehr der wissenschaftlichen Rezeption (diese läßt sich als Symptom verstehen) als vielmehr des Simplicissimus selbst ernst zu nehmen und im zeitgenössischen Kontext zu erklären. Das ist – wie an der skizzierten Forschungslage zu sehen – ein dringendes Desiderat.

Die Ergebnisse der Arbeit lassen sich auf zwei Ebenen zusammenfassen: Die textanalytischen Untersuchungen zeigen, daß der Roman als ganzes (inklusive seiner Paratexte) eine >hybride Konstruktion< darstellt, in der einmal gesetzte (moralisch-theologische) Positionen im gleichen Atemzuge dementiert oder durch entgegengesetzte Positionen (etwa aus der eigenen Erfahrung gewonnen) in eine eigentümliche Schwebe gebracht werden. Merzhäusers Interpretation dieses Befunds: Es handele sich um einen (Transgressionen einkalkulierenden) Grenzgang satirischen Schreibens, der auf die ästhetische Freisetzung des mündigen Subjekts ziele, auf "satyrische Selbstbehauptung", wie der Titel der Untersuchung es benennt. Unser Wissen über die Textstruktur, den récit (im Sinne von Genette), wird durch diese wegweisende Untersuchung auf ein ganz neues Fundament gestellt, das die oft beobachteten disparaten Aspekte konzeptuell zu integrieren in der Lage ist. Merzhäusers weiterführende Interpretationen der Analyseergebnisse (zur Intention / Wirkungsabsicht, zum Autorselbstverständnis) sind in hohem Maße anregend und geeignet, die weitere Diskussion zu bestimmen, bieten aber auch Anlaß zu kritischen Rückfragen.

Die knappe Ergebniszusammenfassung und ihre Beurteilung gilt es im folgenden zu erläutern. Daß dabei nicht alle Aspekte dieser lesenswerten Arbeit zur Geltung gebracht werden können, versteht sich von selbst.

Der Ansatz:
ästhetische Struktur, "tiefe Vielfalt"

Seinen Ansatz profiliert Merzhäuser in Abgrenzung zum wichtigsten jüngeren Beitrag zur Grimmelshausenforschung, zu Stefan Trappens traditionsgeschichtlich ansetzender Untersuchung Grimmelshausen und die menippeische Satire. 6 Vor allem zwei Unterscheidungen sind wichtig:

Anstatt das Gesamtoeuvre nahezu "textblind" (so der wohl berechtigte Vorwurf gegen Trappen: S. 12, Anm. 13) einer – allerdings mit stupender Gelehrsamkeit rekonstruierten – Gattungstradition zuzuordnen, untersucht er die konkrete ästhetische Struktur des Textes in einem close reading-Verfahren – mit dem Ergebnis, daß der Simplicissimus "mit den Traditionen bricht, indem er sie adaptiert" (S. 11). Zweitens weist Merzhäuser (in Anlehnung an Walter Benjamin, aber auch in Übereinstimmung mit der aktuellen historischen Forschung zur frühen Neuzeit) dezidiert das von der Grimmelshausenforschung bislang präferierte und von Trappen noch einmal ausdrücklich zur Grundlage erklärte "monologische Epochenbild" (S. 15) zurück, das Erfahrungsbrüche durch den Krieg, durch Konfessionsgegensätze, durch neue Politik- und Rechtsvorstellungen (Staatsräsondebatte, Machiavellismus), durch sich verändernde Wirtschaftsformen (Frühkapitalismus, Protoindustrialisierung) und Gesellschaftsordnung, durch die Revolution der (Natur-)Wissenschaften ignoriert, als wären die Systematisierungsanstrengungen der Theologen und Philosophen nicht bereits Reaktionen auf die aufbrechende Vielfalt. Er nimmt statt dessen die Spannungen, die "tiefe Vielfalt" dieser Epoche auf (die sich unbegriffen, so Merzhäuser, in der Vielfalt der Interpretationsansätze spiegeln). Mit ersterem wird er eher als Trappen dem individuellen Charakter des Grimmelshausenschen Werkes gerecht, mit letzterem dem zeitgenössischen gesellschaftlich-politisch-geistesgeschichtlichen Kontext.

Die Untersuchung ist keinen theoretischen Ansätzen verpflichtet (wenn sie sich auch v.a Walter Benjamin verbunden weiß), im Gegenteil soll in dem angestrebten close reading-Verfahren der persönlichen ästhetischen Erfahrung – auch ungeordnet – Raum gegeben werden, "die sprunghafte Laune des Ganges die konkrete ästhetische Erfahrung gegen die Prädominanz >objektiven< Wissens versichern" (S. 18). In der Tat: auch wenn nirgends unmittelbare ästhetische Erfahrung abgebildet wird, sondern stets hohes Reflexionsniveau waltet, folgt die Darstellung im Detail keiner Systematik, Fäden werden fallengelassen, an anderer Stelle wieder aufgegriffen – z.T. wörtliche Wiederholungen sind nicht immer ausgeschlossen (vgl. etwa S. 87 und 122) –, wenn möglich werden eklektisch Anknüpfungspunkte zu methodisch oder theoretisch relevanten Modellen (u.a. Genette, Bachtin) und zu zeitgenössischen Referenztexten (u.a. Cervantes, Montaigne, Moscherosch und immer wieder Robert Burton) genannt, ohne daß die Bezüge in extenso ausgemessen würden. Dennoch folgen die fünf Hauptkapitel einigermaßen klar abgegrenzten Fragestellungen bzw. Untersuchungsgegenständen:

Kap. 1 und 2 untersuchen die "Vestibüle" des Simplicissimus, die Schwellen zum Romantext in Form von Vor- und Nachreden, Titelkupfern und -blättern. Kap. 1 geht der Frage nach, wie sich der Autor Grimmelshausen selbst präsentiert, Kap. 2 untersucht die poetologischen Reflexionen des Autors. Die Kap. 3 bis 5 sind der Analyse des Simplicissimus gewidmet: Kap. 3 legt den Schwerpunkt auf die beiden ersten Bücher, in denen Simplicius als Opfer der satirisch kritisierten Welt und als Medium der Satire auftritt, Kap. 4 auf die folgenden Bücher des Simplicissimus, in denen der der Welt verfallene Simplicius selbst zum Gegenstand der satirischen Kritik wird. Kap. 5 untersucht schließlich die verschiedenen Schlüsse des Werkes und die Continuatio.

"Satyre"

Das Zentrum der gesamten Untersuchung ist Kap. 2: "In der Maske des Satyrs". In Textanalysen verschiedener Schwellentexte, die gemeinhin als poetologische Reflexionen Grimmelshausens über seine spezifische Schreibweise betrachtet werden, weist Merzhäuser eine tiefgreifende Ambiguität auf.

Ein Beispiel: In der "kleinen Vorrede" der Continuatio, von der Forschung bislang als kurze Poetologie zum Simplicissimus stets mit besonderer Aufmerksamkeit, aber immer ganz einsinnig im Sinne einer moraldidaktischen Reflexion betrachtet, greift der sich als moralisch integer präsentierende Ich-Erzähler ("lachen ist mir selbst ein Eckel") das seit Lukrez zum Standardrepertoire von Satirevorreden gehörende >Pillengleichnis< auf, um das Unterhaltsame des Romans als schmackhafte >Hülle< für den bitteren, aber heilsamen >Kern< zu präsentieren. Diese Hülle sei nötig, da, so die Fortsetzung der Argumentation mit einem Vergleich, die närrisch-betrügerischen "Marckschreyer oder Quacksalber" erheblich mehr Zulauf beim Volk hätten "als der eyferigste Seelen-Hirt". Diese Rechtfertigung ist – unbemerkt vom Ich-Erzähler, aber erkennbar inszeniert vom Autor – eine ironische Desavouierung der behaupteten Erzählintention. Es ergibt sich nämlich eine "verblüffende Affinität" (S. 85), so Merzhäusers treffende Analyse, des explizit konventionell-moraldidaktisch gesonnenen Ich-Erzählers zu den Marktschreiern und Quacksalbern – und das heißt: zu einer explizit betrügerischen Absicht –, so daß "der markante moraltheologische Einsatz durch den Kontext ins Zwielicht gesetzt" wird (S. 84).

In dieser ästhetischen Struktur einer gegenläufigen Bewegung des Setzens und eines gleichzeitigen ironischen Infragestellens erkennt Merzhäuser einen Grundzug des Grimmelshausenschen Erzählens. Er weist ihn in weiteren Schwellentexten nach: der Vorrede zum zweiten Teil des Vogelnests, dem Epigramm zum Titelkupfer des Simplicissimus, den Vorreden des Satyrischen Pilgrams. Die Herausarbeitung der spezifischen Polyphonie der bisher als einsinnige poetologische Reflexion der supponierten Moraldidaxe rezipierten Schwellentexte wird durch die folgenden Textanalysen des Simplicissimus eindrucksvoll untermauert.

Merzhäuser interpretiert diesen Befund mit einem spezifischen "Satyre"-Begriff: Grimmelshausen verabschiede sich von der rigorosen, abstrahierenden, monologischen – und dadurch erkennbar einseitigen – Urteilspraxis (wie sie der negativ attribuierte Momus in der Vorrede des Satyrischen Pilgrams pflegt und wie sie ansonsten für zeitgenössische Autoren – Moscherosch – kennzeichnend sei) zugunsten einer grundlegenden Öffnung und Entgrenzung des moraldidaktischen Diskurses, einer flexiblen, dialogischen, tastenden Form "approximativer Wahrheitssuche" (S. 68).

Diesen "Satyre"-Begriff legitimiert Merzhäuser unter eklektischer (d.h. die kontroverse zeitgenössische Satirediskussion nicht mitreflektierender) 7 Zuhilfenahme der im 17. Jh. häufig behaupteten etymologischen Verbindung zu den Satyrn, die als Urheber der rücksichtslosen "satyrischen" Kritik zugleich den entgrenzenden Kult der Bacchanalien pflegten. Freiheit zu rigoroser Kritik und bacchanalische Entgrenzung werden als zwei Seiten derselben Medaille gesehen: Grimmelshausens spezifisches "Satyre"-Verfahren mit einem "Verzicht auf eine vorgefaßte Lehre" bewirke "eine grundlegende Öffnung und Entgrenzung des moraldidaktischen Diskurses, die weit über jene Freiheit hinausgeht, die Satire sich traditionell anmaßt" (S. 68 f.), "Satyre" bezeichne mithin einen Grenzgang zwischen moraldidaktisch funktionalisiertem Diskurs und der Sprengung jeder Ordnung (vgl. S. 72 f.). Verschärft werde dieser Grenzgang durch die Nähe zum und Anregung durch den roman comique Sorels, den Francion, der eine spezifisch mimetische Weltdarstellung nicht nur moraldidaktisch, sondern auch ästhetisch (Unterhaltsamkeit durch Lebendigkeit, Natürlichkeit, Vollständigkeit) legitimierte (vgl. S. 75).

Der Autor des Simplicissimus

Dem für das Gesamtwerk grundlegenden Kap. 2 ist eine Untersuchung vorangestellt, die anhand von Vorreden, Titelkupfern und -epigrammen die Selbstdarstellung des Autors ausleuchtet. Grimmelshausen – so das Ergebnis –, der auch biographisch ein "Grenzgänger" (S. 28) des Literaturbetriebs des 17. Jahrhunderts war, präsentiert sein Selbstverständnis als Autor nicht direkt, sondern mittels der beschriebenen gegenläufigen Bewegung in einem paradox-ironischen Spiel, in dem er sich als illiterat darstellt und zur simplicitas bekennt (etwa dem Tadler Momus in der dialektisch dreigeteilten Vorrede zum Satyrischen Pilgram nicht widerspricht), dies aber in einem Stil und auf einem Argumentationsniveau, das zugleich unverkennbar seine Gelehrsamkeit demonstriert. Die Selbstdarstellung etwa im Satyrischen Pilgram als "gelehrter Illiterat" (S. 38) steht unverkennbar in der Tradition des ironischen Enkomions, wie es Erasmus von Rotterdam etwa in seinem Laus stultitiae vorgeführt hat. Diese indirekte Selbstpräsentation, die sich weder auf Positionen der christlichen Moraldidaktik noch auf ein Schreiben "Ohne Lust / Nutz / Lehr und Frucht", so Momus, festlegen läßt, weder auf das Bekenntnis zur Einfalt noch die Behauptung einer ausgesprochenen Gelehrsamkeit, dient, so das Fazit Merzhäusers, "der diskreten Freisetzung des Autors als einer souveränen Instanz jenseits der im Text markierten Positionen" (S. 38).

Hier klingt an, was in den folgenden Kapiteln ausgeführt wird: Grimmelshausens Schreiben dient der Entdeckung der eigenen Individualität, die sich, die Grenzen der geltenden Ordnungssysteme auslotend und übertretend, Krisenerfahrungen v.a. des Krieges verarbeitend, eine eigenständige Position erarbeitet: Grimmelshausen öffnet den traditionellen didaktischen Diskurs gegenüber der Erfahrungswirklichkeit (und nimmt damit seinen spezifischen >Bildungsweg< außerhalb der >Gelehrtenrepublik<, die praktische Erfahrung des Lebens im Dreißigjährigen Krieg anstelle der theoretischen Universitätsausbildung, als gleichwertig in sein literarisches Schaffen auf). Als Beispiele für erfahrungsbedingte unabhängige Positionen erörtert Merzhäuser die differenzierte, keineswegs nur negative Beurteilung des Geldverkehrs und v.a. die (mit einem erheblichen kritischen Potential versehene, unverkennbar an den von allen Konfessionen kritisch bewerteten Erasmus anküpfende) Bewertung des Krieges: Grimmelshausen favorisiert "die erasmische Kultur undogmatischen Selbstdenkens" (S. 47).

Wichtig wird diese Ausarbeitung des Autorselbstverständnisses für die in der weiteren Untersuchung grundlegende Differenzierung zu der (expliziten) Position des Ich-Erzählers, der vor allem in den Schlüssen des Simplicissimus einer eindimensionalen undialektischen Position als Einsiedler verhaftet ist, einer Position, die, wie Merzhäuser nachweist, nicht mit der Autorintention identifiziert werden darf.

Der Simplicissimus

Die Kapitel 3–5 der Untersuchung wenden sich dem Simplicissimus einschließlich der Continuatio selbst zu. Grimmelshausens spezifische Kriegskritik steht im Mittelpunkt des dritten Kapitels, das dieses Thema an den ersten beiden Büchern des Simplicissimus verfolgt, in denen Simplicius als >Opfer< des Krieges, nicht als >Täter< (wie im weiteren Verlauf) erscheint. Merzhäuser arbeitet heraus, wie mittels der beschriebenen gegenläufigen Erzähltechnik die traditionelle geschichtstheologische Bewältigung des Krieges durch die erfahrene Schrecklichkeit des Krieges ins "Zwielicht" (S. 114) gesetzt wird:

Die Erfahrungen mit Geschichte, die der Simplicissimus am Beispiel des jungen Helden vermittelt, fügen sich nicht mehr in den Kontext der tradierten Heilsgeschichte. Sie sind Fragmente einer anderen geschichtlichen Zeit, einer aus der Geschichte gefallenen Zeit (S. 115).

Gezeigt wird das u.a. an dem zentralen Kapitel Simplicissimus I 4. Es erzählt den Einbruch des Krieges in die Welt des Ignotus und Schweinehirten Simplicius durch den Überfall einer Reitertruppe auf den Hof seiner Eltern. Eingeleitet wird dieses Kapitel mit einem Erzählerkommentar, der das folgende mit der Rezeptionsanweisung im Sinne eines erbaulichen Exempels in der Tradition der theologisch-moralischen Didaktik versieht, nämlich "daß alle solche Ubel von der Güte deß Allerhöchsten / zu unserm Nutz / offt notwendig haben verhängt werden müssen", wie es bei Grimmelshausen heißt. Wurde diese Rezeptionsanweisung bislang üblicherweise als direktes Autorwort wörtlich genommen (z.B. Trappen), arbeitet Merzhäuser heraus, wie sehr im gesamten ersten Teil des Simplicissimus die Darstellung der "Ubel" von einer fundamentalen Kriegskritik gemäß der Ankündigung im Satyrischen Pilgram ("was Krieg vor ein erschreckliches und grausames Monstrum seye") geleitet ist. Gerade in der topischen, rhetorisch stilisierten und insofern nicht im eigentlichen Sinne >realistischen< Darstellung der "Grausamkeiten" werden die Exempel – statt daß sie die Deutung stützen – implizit in einen fundamentalen Gegensatz zur gleichzeitigen expliziten Deutung im Horizont der verharmlosenden Klärung der Theodizeefrage im Sinne einer providentia Dei ("Güte [!] deß Allerhöchsten") gestellt.

Der Erzähler setzt die geschichtstheologische Auffassung einer providentia dei und die mit ihr liierten Verfahren der zeitgenössischen Erzählkunst ganz bewußt ins Zwielicht, um auf der Schwelle zur Darstellung des Schrecklichen die hergebrachten Strategien seiner Relativierung und Bewältigung zu erschüttern (S. 114).

Der konsequente Gegenentwurf zur unabwendbaren Verstrickung in die monströse Kriegswelt ist der vollständige Rückzug aus der menschlichen Gesellschaft, das Eremitendasein des Einsiedels (das Simplicius zu Beginn kennenlernt und das er am Schluß des Simplicissimus selber aufnimmt); auch diese Lebensform wird hintergründig ihres Fundaments beraubt, insofern ihr Defizit deutlich gemacht wird: Ihr geht die handelnde Solidarität mit den Leidenden ab – vorgeführt z. B. in der nächtlichen Szene von dem Zusammentreffen des schönen Nachtigallengesangs (der für weltabgewandte Frömmigkeit steht) und des gleichzeitigen schrecklichen "Geschrey[s] der getrillten Bauren", zwei Ereignisse, die in ihrer unvermittelten Kontrastierung die tiefere >Dissonanz<, das mitleidlose Ignorieren der leidenden Kreatur, geradezu schmerzhaft veranschaulichen.

Die Kritik am Leben in der (Kriegs-)Welt wie außerhalb der Welt verweise, so Merzhäuser, "auf die Notwendigkeit einer wahrhaft christlichen Ordnung" (S. 122). Es handele sich um eine "Satyre" als Fundamentalkritik, die, im deutschsprachigen Bereich singulär, nur mit Burtons Anatomy of Melancholy vergleichbar sei.

Im weiteren Verlauf des Simplicissimus ändert sich der Charakter der Erzählung: In den Büchern 3 bis 5 tritt Simplicius als agierendes Subjekt in das (Kriegs-)Geschehen ein, die Continuatio ist von allegorischen Passagen beherrscht. Merzhäuser zeigt im Kapitel 4 seiner Untersuchung, daß das Gesamtwerk nicht (wie häufiger behauptet wurde) durch einen Zerfall in einzelne funktionale Rollen des Simplicius (Ignotus, Narr, Lebemann, Kriegsherr, reuiger Sünder, Anachoret) geprägt ist, sondern eine innere Einheit hat, die durch die beschriebene gegenläufige Erzähltechnik erzielt wird.

Er macht dies deutlich durch die Gegenüberstellung zweier Episoden, dem Schwankstück vom Speckdiebstahl beim Pfarrer (Simplicissimus II 31) und dem Traum des Simplicissimus mit der Julus-und-Avarus-Allegorie (Continuatio 2–8). Der Speckdiebstahl wird eingeführt als "lustige Dreingabe" (S. 143) mit Unterhaltungszweck, stellt sich aber als "Musterstück didaktischer Vermittlung" (S. 143) heraus. Die Julus-und-Avarus-Episode, die als gewichtige Allegorie zu Geiz und Verschwendung mit traditioneller Lasterkritik eingeführt wird, endet nicht, wie zu erwarten, mit ihrer Entlarvung "als höllische Kräfte" (S. 184) in einem theologischen Diskurs; vielmehr werden Geiz und Verschwendung als unkluges Verhalten, als nur "graduelle Transgression legitimer Verhaltensweisen" (S. 184) im Rahmen eines prudentistischen Diskurses verurteilt.

Sowohl die auf den ersten Blick rein unterhaltsamen wie auch die rein belehrenden Textsequenzen (denen oft ein unterschiedliches Gewicht für die Intention des Romans zugeschrieben wurde) unterliegen derselben Brechung der traditionellen Erwartung. Es gibt nicht einzelne Exempelgeschichten, die von einer unterhaltsamen >Hülle< umgeben sind (Trappen), sondern die Lebensgeschichte als ganze löst sich aus der Bindung traditioneller Normvorgaben. Es gibt keine Bewegung im Romangeschehen, in der Simplicius sich zunächst von der christlichen Norm (des Eremiten) entfernt, um abschließend wieder zu ihr zurückzukehren (S. 169); vielmehr unterliegen alle Passagen gleichermaßen, wie auch immer sie explizit ansetzen, der Rückbindung in die "exzentrische Mitte", wie Merzhäuser die Haltung des Autors Grimmelshausens kennzeichnet:

Der dialogisch-wägende Prozeß, den der Erzähler in seiner Lebensbeschreibung inszeniert, ist kein exemplarisches Verfahren in dem Sinne, daß er eine geltende Ordnung bekräftigte. Er steht vielmehr exemplarisch für eine Ordnung ein, die fürs erste allein im Medium des Ästhetischen konkrete Gestalt gewinnen kann: für die Utopie einer Gesellschaft mündiger Subjekte, die ihre problematischen Fälle von sich aus diskutieren und zu bewerten vermögen (S. 186).

Die ästhetische Selbstbegründung des mündigen Subjekts aus dem Widerspruch zwischen traditionellem Normensystem und eigener Erfahrung: das ist der Zielpunkt der Interpretation.

Die Schlüsse des Simplicissimus

Die verschiedenen Schlüsse des Simplicissimus (Kap. 5) – immerhin dreimal setzt Grimmelshausen das abschließende Wort "Ende" (Simplicissimus V 24, Continuatio 23 und 27) – bestätigen (wie auch der "Beschluß" sowie die folgenden Simplicianischen Schriften, auf die Merzhäuser abschließend einen summarischen Blick wirft) die vorgängig ausgearbeitete Mehrstimmigkeit, die die endgültige Positionierung des Autors offen läßt. Die "approximative Wahrheitssuche" wird nicht zu einem abschließenden Ergebnis geführt, das Erzähler-Ich verbleibt im Exzentrischen – und zwar bis zu seinem Tod auf der "Creutz-Insul", von dem die "Relation" des Kapitäns Jean Cornelissen berichtet.

Das 5. Buch des Simplicissimus präsentiert Simplicissimus als Melancholiker, der – vom Ignotus zum "erfahrenen Subjekt" (S. 196) gewandelt, das spezifisch neuzeitlich "sein Leben aus eigener Kraft entwerfen kann und muß" (S. 197) – in ziellosem Streben nach Wissen sucht und durch die Welt vagabundiert, bis er in seiner Lektüre auf das "Nosce teipsum" stößt, das ihn an die Lehre und Lebensweise seines Eremitenvaters zurückverweist. Er wird zum Einsiedel auf dem Mooskopf. Die Continuatio wiederholt diesen Vorgang: Nach einer Zeit des Umhervagabundierens als Pilger beschließt er sein Leben endgültig zurückgezogen von der Welt auf der Kreuzinsel.

In beiden Fällen ist aber die Eremitenlebensweise nicht als vollgültige, vorbildlich christliche Lebensweise dargestellt, sondern wird kritisch gebrochen: Auf dem Mooskopf wird das religiöse Pathos des "Adieu Welt" im Moment der Fixierung von Simplicissimus selbst wieder zurückgenommen: Ob er der Welt bis zu seinem Ende entsage, "stehet dahin" (Simplicissimus V 24). In der Continuatio findet diese Vorläufigkeit ihre Bestätigung und Begründung: Zunächst wird Simplicissimus zum Pilger unter Verweis auf die Unvollkommenheit des Eremitendaseins in theologischer Perspektive (Dienst an Menschen fehlt). Doch auch das Pilgerdasein bietet keinen Ausweg aus der melancholischen Desorientierung: "Die Selbstinszenierung des Simplicius Simplicissimus im Pilgerhabit gleicht einer Marktplatzgaukelei" (S. 204). Schließlich unterliegt aber auch das abschließende Kreuzinseldasein der "Textstrategie der diskreten Subversion" (S. 213), und zwar v.a. durch die angehängte "Relation" des Jean Cornelissen: Präsentiert der Ich-Erzähler als Einsiedel sein Inseldasein als vollkommene, exemplarische Existenzweise gottgefälligen Lebenswandels, so rezipiert der Kapitän das Phänomen nur als "allergröste Raritet" (Continuatio 24), als unterhaltsames Kuriosum, nicht als didaktisches Lehrbeispiel. Er steht auch für den weltzugewandten Aspekt christlicher Existenz, indem er Simplicissimus nach Europa zurückzukehren auffordert, "damit er nit so einsamb wie ein unvernünfftig Vihe dahin sterbe" (Continuatio 27), was Simplicissimus mit "rhetorischer Forcierung" (S. 215), nicht mit stichhaltiger Argumentation abwehrt. Letztlich, so Merzhäuser pointiert aber präzise, lebt Simplicissimus auf der Kreuzinsel im "Status einer Dystopie" (S. 218), insofern er alle Energie darauf verwenden muß, sich eines Zustands der Beständigkeit zu versichern, etwa durch die Disziplinierung des Naturzustands der Insel durch Deutung mittels emblematischer Verfahren: "Angesichts der Komplexität der Welt ist vollkommene Beständigkeit nur möglich um den Preis einer totalen, >insulären< Vereinzelung des Subjekts und der rigiden Unterwerfung [...] unter das Diktat eines kanonisierten Textes" (S. 218).

Daß diese Lebensnorm nicht die intendierte ist, zeigt die Gesamtkomposition des Schlusses: Den zwei Abschlüssen des Ich-Erzählers und des Kapitäns (jeweils mit dem bereits auch zum Paratext gehörenden, typographisch hervorgehobenen Begriff "Ende" gekennzeichnet), die gegensätzliche Grundhaltungen verkörpern (Weltabscheidung – Weltzuwendung) folgt ein kurzer "Beschluß", in dem der verborgene Autor (wieder in ironisch gebrochener Manier) die Fiktionalität des gesamten Werkes und zugleich seine Identität enthüllt: Er verantwortet die "klare Absage an die Konzeption einer monologischen, auf Schließung bedachten Lebensbeichte" (S. 221) zugunsten des prekären, nicht abschließbaren "satyrische[n] Grenzgang[s]" (S. 219) um eine "exzentrische Mitte".

Zur Textanalyse

Das Fundament von Merzhäusers Untersuchung bildet die genaue Lektüre, die zu einer präzisen Analyse der konkreten ästhetischen Struktur des Textes verdichtet wird. Diese bietet neue Ergebnisse und Perspektiven auf das Werk, die in der Grimmelshausen-Forschung bislang nicht im Blick waren. Merzhäuser zeigt in überzeugender Weise, daß die polyphone und gegenläufige Erzähltechnik den Simplicissimus durchgängig und strukturell prägt – und zwar alle, auch auf den ersten Blick sehr disparaten Textsequenzen wie Schwänke, Allegorien, die Schwellentexte wie Epigramme, Vor- und Nachreden mit satirepoetologischen Reflexionen etc. – und daß sie bewußt vom Autor intendiert und inszeniert worden ist. Die infragestellende Auseinandersetzung mit traditionellen Normvorgaben und Legitimationsmustern für Literatur wird als spezifische, eigenständige und durchgängige Textstrategie offengelegt. Dieser Nachweis ist der größte substantielle Erkenntniszugewinn, den diese Arbeit bietet.

Erstmals liegt eine Analyse vor, die die oft beobachteten Dissonanzen im Werk weder von vornherein marginalisiert noch verabsolutiert, sondern als durchgängiges Basisphänomen der Textur nachweist. Mit ihrem trennscharfen Instrumentarium und dessen textgenauer Anwendung wird diese Arbeit der tatsächlichen Textur deutlich besser gerecht, als die Untersuchung von Dohm, 8 die bei einer ähnlichen Fragestellung (bezogen allerdings auf ein anderes Textkorpus – von Grimmelshausen wurde nur die Courasche berücksichtigt) zu sehr einer unterkomplexen Rahmen / Handlung-Dichotomie verhaftet bleibt. Merzhäusers Analyse ist ein tragfähiger Ausgangspunkt für die weitere Forschung. Interessant wäre die Analyse der übrigen Simplicianischen Schriften Grimmelshausens wie auch der >Idealromane< unter dieser Fragestellung.

Zur Interpretation der Analyseergebnisse

Eine anregende und diskussionswürdige Interpretation des Befundes bietet, wie gesehen, Merzhäuser selbst: Grimmelshausen inszeniere eine "satyrische Selbstbehauptung" – so der Titel der Untersuchung –, d.h. eine (als dynamischer Prozeß um eine "exzentrische Mitte" gedachte) Selbstbegründung des mündigen Subjekts im Raum des Ästhetischen (also nicht im gesellschaftlichen und politischen Raum) aus den Widersprüchen unterschiedlicher Normen und eigener Erfahrungen einer "neuen Zeit" mittels eines radikalen satirischen Grenzgangs, der auch tradierte Normen und Grundanschauungen nicht ausspart. Diese Interpretation erwächst aus dem zeitgenössischen Kontext, ist an den geistes- und mentalitätsgeschichtlichen Horizont des 17. Jh.s rückgebunden (fast ist man geneigt, Niklas Luhmanns Theorem der frühneuzeitlichen Umstellung in der Bestimmung der Individualität von gesellschaftlicher Inklusion auf Exklusion mitzuhören) und zeigt zugleich das kritische Potential des Umgangs mit den vielfach nachgewiesenen Traditionen.

Dennoch bietet sie auch Anlaß zu Rückfragen. Etwa zum "Satyre"-Begriff: Wenn man die wie auch immer geartete Bindung an eine Norm als konstitutiven Bestandteil des Satirischen betrachtet (wie Merzhäuser das tut!), muß man dann nicht (Merzhäusers Analysen folgend!) konstatieren, daß genau diese Normenbindung infrage gestellt, der Satirebegriff damit überdehnt und seines Inhalts entleert wird? Zielt Grimmelshausen mit der gegenläufigen erzählerischen Grundfigur der Setzung und ihres gleichzeiten Unterlaufens nicht auf eine (je nach Textausschnitt unterschiedlich stark ausgeprägte) ironische Destruktion der satirischen Haltung zugunsten einer Polyphonie der Stimmen? Denn immer geht es um die Gegenüberstellung von (gleichgewichtigen) Normen, sei es zwischen eschatologisch ausgerichteter religiös-moraldidaktischer Norm und innerweltlicher prudentistischer Norm ("ratio status", vgl. auch den zentralen Begriff der "Selbsterhaltung"), sei es zwischen unterschiedlichen Ausprägungen theologischer Deutungsmuster mit je entgegengesetzter Handlungsnorm (Krieg als gottferner Gegensatz zum Paradies vs. Krieg als Mittel der providentia Dei, christliche Lebensführung als Eremit vs. christliche Nächstenliebe etc.). So werden die Normen zum Gegenstand des Erzählens, das aber genau deswegen selbst nicht normativ ist, sondern die Polyphonie der Stimmen zur Geltung bringt.

Implizieren nicht Merzhäusers wiederholt verwendete Formulierungen "exzentrische Mitte", "approximative Wahrheitssuche" etc. genaugenommen – und zwar mit Recht! – das Fehlen einer als sicher geglaubten (oder wenigstens behaupteten) Norm? In der "verstörenden Auseinandersetzung mit der Ambivalenz der Partikularitäten" (S. 189) wäre dann "der alte Impuls der Kritik" (ebd.) gerade nicht mehr dominant, das Wissen um das angemessene, eindeutig richtige Verhalten angesichts der Komplexität der Welt verlorengegangen. Die Vermutung, daß der – wie Merzhäuser brillant herausarbeitet – in gleichwertigen "Partikularitäten" polyphon und offen ausklingende Doppelschluß des Simplicissimus bzw. genauer: der Continuatio genau dies präsentiert, scheint keineswegs abwegig. Keine Satire also, sondern ironische Destruktion der Bedingungen ihrer Möglichkeit?

Es ist vielleicht kein Zufall, daß Merzhäusers Betonung der engagierten "Schärfe" (S. 189) der "satyrischen" Kritik des Werkes in auffälligem Widerspruch zum herausgearbeiteten Selbstverständnis des Autors (anhand des Titelkupferepigramms, dem Merzhäuser "ausdrücklich eine vorbildhafte Bedeutung" zuschreibt) steht: der gelassenen Haltung der "Rhue" (vgl. S. 189 mit 186). Diese Haltung, die Merzhäuser als im Ästhetischen konkret gewordene "Selbstbehauptung" jenseits der traditionellen, dem Romanautor fraglich gewordenen Ordnungsmuster interpretiert, mithin als Freisetzung des seiner selbst gewissen, souveränen "mündige[n] Subjekt[s]" (S. 186 – eine Formulierung, die, wie Merzhäuser selbst bemerkt, bereits in die Aufklärung vorausweist), wird mit der notwendig parteiisch-engagierten "Satyre" nicht vermittelt.

Es wäre zu prüfen, ob nicht einerseits die Interpretation des Simplicissimus als Projekt der Selbstfreisetzung des mündigen Subjekts einen Schritt zu weit geht, da der Autor keine neue Position jenseits der alten Ordnungsmuster (wie es die Aufklärung mit dem Vernunftbegriff bietet) gewinnt, sondern, wenn auch in kritischer Distanz, diesen noch verhaftet bleibt; ob nicht andererseits die Interpretation als "Satyre" zu sehr den konventionellen zeitgenössischen Legitimationsstrategien für Literatur verhaftet bleibt, insofern die herausgearbeitete Polyphonie eher einen Bruch mit dieser Haltung impliziert.

Dies sind, wie gesagt, offene Fragen, die aber – das sei noch mal ausdrücklich betont – im Anschluß an Merzhäusers grundlegende Textanalysen zu verfolgen aufschlußreich zu sein verspricht. Seine Arbeit bahnt einen vielversprechenden Weg aus den gegenwärtigen Sackgassen der Grimmelshausenforschung.


Wilfried Vollmer
Tübingen

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Ins Netz gestellt am 02.06.2003
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IASLonline ISSN 1612-0442
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Anmerkungen

1 Peter Heßelmann: Gaukelpredigt. Simplicianische Poetologie und Didaxe. Zu allegorischen und emblematischen Strukturen in Grimmelshausens Zehn-Bücher-Zyklus. Frankfurt / M. 1988.   zurück

2 Stefan Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire. Eine Studie zu den historischen Voraussetzungen der Prosasatire im Barock. Tübingen 1994.   zurück

3 Volker Meid: Grimmelshausen. Epoche – Werk – Wirkung. München 1984; Dieter Breuer: Grimmelshausen-Handbuch. München 1999.   zurück

4 Burkhard Dohm: Emanzipation aus der Didaxe. Studien zur Autonomisierung des Erzählens in Romanen der Frühen Neuzeit. Bern 1989.   zurück

5 Waltraud Wiethölter: "Baltanderst Lehr und Kunst". Zur Allegorie des Allegorischen in Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch. In: DVjS 68 (1994), S. 45–65, hier S. 63.   zurück

6 Siehe Anm. 2. Von Merzhäuser liegt auch eine kritische Rezension zu dieser Arbeit vor: A. M.: Die Ausnahme als Regelfall. Ein Kommentar zu Stefan Trappens "Grimmelshausen und die menippeische Satire" nebst methodologischen Bemerkungen zum Stand der Forschung. In: ZfGerm NF 5 (1996), S. 92–99.   zurück

7 Grundlegend ist nach wie vor: Jürgen Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire. In: DVjS 45 (1971), S. 275–377. Wichtige Ergänzungen bei Trappen (s. Anm. 2), S. 87–167.   zurück

8 Burkhard Dohm (Siehe Anm. 4).   zurück


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