Wagner über Saurma-Jeltsch: Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung

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Bettina Wagner

Die Produktionsbedingungen von
Bilderhandschriften im 15. Jahrhundert

  • Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung. Bilderhandschriften aus der Werkstatt Diebold Laubers in Hagenau. 2 Bde. Wiesbaden: Reichert 2001. Textbd. 294 S. Bildbd. 343 S. 333 schwarz-weiße u. 70 farbige Abb. Geb. EUR (D) 298,-.
    ISBN 3-89500-215-1.


Im 2. und 3. Viertel des 15. Jahrhunderts entstand am Oberrhein eine Gruppe von etwa 90 Handschriften, die geistliche und weltliche Texte in deutscher Sprache auf neuartige Weise mit reichen Illustrationen präsentierten. Die Zahl der Handschriften und ihre gleichförmige Anlage und Bebilderung führte schon früh zu der Annahme eines engen Werkstattzusammenhangs bei ihrer Entstehung. Seit der grundlegenden Untersuchung von Rudolf Kautzsch von 1895 1 wird der Hagenauer Schreiber Diebold Lauber als das organisatorische Zentrum der Herstellung angesehen, der für die Beschaffung der Textvorlagen und Schreibmaterialien, die Arbeitsverteilung unter Schreibern und Malern, für Binden und Vermarkten der fertigen Codices sorgte. Damit entstand das Bild einer vorindustriellen Handschriftenproduktion, die, gekennzeichnet von rationalisierter Arbeit, serieller Fertigung und Produktion auf Vorrat, in zeitlicher und organisatorischer Parallele zu innovativen Formen der mechanischen Vervielfältigung von Texten durch den Buchdruck mit Holztafeln und – seit Gutenbergs Erfindung – mit beweglichen Lettern erfolgte.

In der vorliegenden Arbeit wird diese Einordnung auf erheblich breiterer Materialgrundlage als bisher 2 einer hochdifferenzierten Detailanalyse unterzogen; als deren Ergebnis wird deutlich, daß die etablierte Annahme einer Buchherstellung in engem zeitlichen und räumlichen Kontakt der beteiligten Personen untereinander, wie ihn der Werkstattbegriff impliziert, nicht aufrechterhalten werden kann.

Die Untersuchung der materiellen Beschaffenheit der Handschriften, der inhaltlichen Akzentuierungen ihrer Texte und der stilistischen Besonderheiten ihrer Bilder vermag vielmehr zu zeigen, daß innerhalb des Untersuchungszeitraums von einem guten halben Jahrhundert die Buchproduktion in sehr verschiedenartigen Organisationsformen erfolgte und daß auf die Bedürfnisse des Marktes sehr viel flexibler reagiert wurde, als dies bei der früher postulierten "kundenfernen" Herstellung möglich gewesen wäre.

Gegenstand der Arbeit ist neben der Werkstatt Laubers das Vorgängeratelier mit dem Notnamen "Werkstatt von 1418". Die zentrale Frage der Arbeit ist die nach der Form der Betriebskoordination (S. 2) in den beteiligten Schreibwerkstätten. Die Handschriften werden als Wirtschaftsgut verstanden (S. 3), dessen Produktion nach kommerziellen Gesichtspunkten im Hinblick auf bestimmte Rezipienten erfolgte. Da die Herstellung der Illustrationen aber nicht nur ökonomischen Rahmenbedingungen unterlag, sondern zugleich von der Ausbildung und Aufgabenstellung der Maler bestimmt wurde, verwendet die Verfasserin gleichermaßen buchwissenschaftliche wie kunstgeschichtliche Analysemethoden. Textgeschichtliche Gesichtspunkte müssen dagegen außer Betracht bleiben (S. 3).

Die Werkstatt von 1418

Zunächst befaßt sich die Untersuchung mit den Handschriften, die aufgrund wiederkehrender Schreibernamen und eines gemeinsamen Illustrationsstils einer Gruppe zugeordnet werden, die als Werkstatt von 1418 bezeichnet wurde; ihre Aktivität erstreckte sich vermutlich über das Jahrzehnt von 1415 bis 1425. Auf eine planmäßige Organisation der Arbeit deutet daneben der kodikologische Befund hin: bei der Produktion der Handschriften wurde offensichtlich auf einen größeren gemeinsamen Papiervorrat zurückgegriffen, was eine zentrale Beschaffung, Finanzierung und Lagerhaltung voraussetzt. Übereinstimmungen lassen sich auch im Format der Bände, dem – trotz unterschiedlicher Schreiberhände – einheitlichen Schriftbild und der elsässischen Schreibsprache der Texte sowie der Verteilung der Bilder und Überschriften erkennen, auch wenn die Bilderzahl stark variiert, also der Gestaltungsspielraum bei der Illustration der Codices recht groß war.

Die Arbeitsorganisation ist daher eher als "Produktionszirkel" (S. 17) zu charakterisieren, in dessen Mittelpunkt zwar ein einzelner Organisator stand, um den sich jedoch ein Kreis unabhängiger Schreiber und Maler gruppierte, die untereinander keinen direkten Kontakt hatten, sondern gemeinsamen Vorgaben folgten. Die Vorstellung der räumlichen Einheit einer Schreibstube muß damit aufgegeben werden. Als Organisationsmodell wird demgegenüber dasjenige des "Materialverlags" (ebd.) vorgeschlagen, in dem auch der Vertrieb des fertigen Produkts von einer zentralen Stelle aus vorgenommen wurde.

Die Analyse der Arbeitsweisen und Bildformen der Maler führt Saurma-Jeltsch zur Abgrenzung dreier Malergruppen, als deren gemeinsamer Hintergrund ein oberrheinisches Stilsubstrat erkennbar ist. Für die ersten beiden Gruppen wird auf enge Bezüge zu Colmar verwiesen, während die dritte Gruppe in Straßburg lokalisiert wird. In der Bebilderung konstatiert Saurma-Jeltsch deutliche Unterschiede zu den Lauberhandschriften: Das Verhältnis der Bilder zum Text ist durch Bemühen um Detailgenauigkeit trotz der notwendigen Raffung und um Umsetzung in vertraute Bildmuster der christlichen Ikonographie gekennzeichnet. In den Bildprogrammen läßt sich eine starke Thematisierung von Schreibvorgängen beobachten, was Saurma-Jeltsch als Bemühen um die "Rechtfertigung der Gattung der illustrierten, volkssprachlichen Handschrift" (S. 41) interpretiert.

Da die abgebildeten Wappen anders als in der Lauber-Werkstatt nicht erst nachträglich eingefügt wurden, ermöglichen sie weitgehende Rückschlüsse auf den Interessentenkreis, auf den die Handschriften ausgerichtet waren: Saurma-Jeltsch charakterisiert ihn als den niederen Adel aus dem Umkreis Straßburgs, der mit den Handschriften einen "propagandistischen Effekt" (S. 51) in innerstädtischen Konflikten angestrebt habe. Dies setzt jedoch voraus, daß die Wirkung der Handschriften sich nicht auf den eigentlichen Abnehmerkreis beschränkte; eine Erklärung dafür, wie die Bilder weitere Rezipientenkreise als den der Auftraggeber erreichen konnten und so tatsächlich zur Propaganda nach außen und nicht vielmehr nur zur Selbstvergewisserung nach innen dienen konnten, bleibt Saurma-Jeltsch schuldig.

Die Werkstatt Diebold Laubers

Nach einer Übergangsphase, in der sich die Werkstatt von 1418 auflöst, gewinnt Anfang der 20er Jahre die Werkstatt Diebold Laubers Konturen. Um seine Person gruppiert sich eine sehr umfangreiche und langfristige Produktion von Handschriften: 65 Bild- und 4 Texthandschriften werden ihr zugeordnet; die Dauer der Tätigkeit wird mit fast 50 Jahren angesetzt. Saurma-Jeltschs kritische Sichtung der Daten zu Diebold Lauber und seiner Werkstatt führt zu dem Ergebnis, daß Lauber, der sich selbst als Schreiber bezeichnet, zwar über Kontakte zur Hagenauer Landvogtei verfügte, aber wohl nicht die Position eines fest angestellten Schreibers, der auch auf der Burg lebte, einnahm. Da seine Person vor 1449 nicht quellenmäßig faßbar ist und seine Hand erst spät in Codices in Erscheinung tritt, "stellt sich die Frage, ob die frühere Produktion überhaupt mit Lauber zu verbinden sei" (S. 74).

Da sich die Abgrenzung der einzelnen Gruppen als problematisch erweist, arbeitet Saurma-Jeltsch zunächst die Charakteristika des "Markenartikels" (S. 75) heraus, um eine Grundlage für die Identifizierung von Lauber-Handschriften zu gewinnen.

Die Codices weisen ein typisches Überformat auf, das nicht durch Faltung des Papierbogens zu einer Lage, sondern durch auf Falz montierte Einzelblätter erreicht wurde. Wiederholt werden die gleichen Papiersorten verwendet; auch die beim Einband verwendete Urkundenmakulatur ist gemeinsamer Herkunft. Die Texte werden durch Überschriften und Bilder sehr konsequent strukturiert und meist durch ein vorangestelltes Register erschlossen; sie sind in oberrheinischer Bastarda geschrieben und weisen so trotz unterschiedlicher Schreiber ein recht einheitliches Schriftbild auf.

Obwohl so die Kontinuität einer Produktion vom Anfang der 20er bis in die späten 60er Jahre gesichert ist, lassen sich vier Phasen abgrenzen:

  1. die Übergangsphase, in der die Werkstatt von 1418 und die Lauber-Werkstatt parallel arbeiteten;

  2. eine Konsolidierungsphase in den späten 20er und 30er Jahren;

  3. eine Phase der Expansion in den 40er und 50er Jahren und schließlich

  4. eine Endphase, in der die Produktion reduziert und wieder sorgfältiger gestaltet wurde.

Angesichts dieser Schwankungen ist nicht mehr zwingend, daß Organisator und Sitz der Werkstatt über den gesamten Zeitraum gleich blieben; denkbar wäre, daß außer Lauber auch ein weiterer Personenkreis an der Koordination beteiligt war und daß die Werkstatt an wechselnden Orten im Umkreis von Hagenau und Straßburg angesiedelt war. Eine Konkretisierung dieser Vermutungen ist allerdings nicht möglich.

In detaillierten Einzeluntersuchungen arbeitet Saurma-Jeltsch die Besonderheiten der drei späteren Phasen der "Lauber-Werkstatt" heraus. Sie charakterisiert den Betrieb der zweiten Phase als ein "nachfragekonformes Kleinunternehmen" (S. 107), in dem ein gemeinsamer Motivschatz erarbeitet wurde, neue Lösungen zu Vorlagen ausgebaut wurden und mehrstufig seriell gearbeitet wurde. Die vereinheitlichte Fertigungsform bleibt bis gegen 1440 bestimmend. Das Spektrum der Produkte ist jedoch sehr schmal und umfaßt lediglich Historienbibeln und Andachtsbücher; nur ein einziges Maleratelier ist beteiligt. Dank dieser inhaltlichen und formalen Spezialisierung ist der Absatzmarkt gut kalkulierbar, weshalb eine Teilvorratsproduktion denkbar ist. Tatsächlich sind aber erst aus der Spätzeit Laubers solche Teilfabrikate erhalten.

In der Blütezeit der Produktion lassen sich eine immer stärkere Intensivierung und Synchronisierung der Produktion und ein Absatz über die Herstellungsregion hinaus beobachten; eine kontinuierliche Leitung ist daher vorauszusetzen. Als "wendige Organisation mit gestraffter Produktion" (S. 133) charakterisiert Saurma-Jeltsch die Werkstatt zwischen 1440 und 1455: das Programm wird erweitert und umfaßt nun die für Lauber typischen bebilderten deutschen Epenhandschriften, für die meist keine Bildvorlagen greifbar waren, weshalb die Gestaltung und Herstellungsweise der Historienbibeln auf diese Texte übertragen wurden. Bei der Illustration entwickelte sich ein Kollektivstil, der eine Flexibilisierung der malerischen Tätigkeit erlaubte. Neben einem festen Team von Schreibern und Malern werden nach Bedarf zusätzliche unabhängige Mitarbeiter eingesetzt. Ursache für den Aufschwung dürfte aber nicht der Übergang zur Produktion auf Vorrat als vielmehr die Erschließung neuer Kundenkreise gewesen sein, die durch Laubers Kontakte zum Hagenauer Landvogt Johannes IV. Dhaun und zu Herzog Ruprecht von der Pfalz-Simmern ermöglicht wurde.

Als Auslöser des Produktionseinbruchs von 1455 sieht Saurma-Jeltsch demgemäß die Verlegung der Landvogtei nach Lützelstein. Die letzte Phase ist von einer Abkehr von den bisherigen Herstellungsmethoden gekennzeichnet. Übergroße Buchformate werden ebenso zur Ausnahme wie die Lagenbildung aus Einzelbättern; der Umfang der Handschriften variiert ebenso wie die Beschreibstoffe (auch Pergament wird verwendet) und die Textgattungen; die Produktion erfolgt mit ungewöhnlicher Sorgfalt. Der "Markenartikel" Lauber-Handschrift verliert so zunehmend an Kontur. Konstant bleiben nur einige der beteiligten Mitarbeiter einschließlich Laubers; eine zentrale Organisation ist aber nicht mehr zwingend anzunehmen.

Unter den Handschriften aus dieser Phase finden sich erstmals Halbfertigprodukte, also Handschriften, die lediglich mit Leerräumen für Bilder und Rubriken ausgestattet sind, sowie Codices, deren Illustrationen erst lange Zeit nach der Papierherstellung angefertigt wurden oder die später modernisiert wurden. Dies legt die Annahme nahe, daß mit möglichst geringem Kapitalaufwand gearbeitet wurde und der Absatz sehr stockend erfolgte. Ein Grund hierfür könnte die zunehmende Konkurrenz durch den Buchdruck gewesen sein, mit dem seit Anfang der 60er Jahre auch illustrierte Werke vervielfältigt werden können. Auffällig ist die "neue Preziosität" (S. 152) der Handschriften und eine zunehmende Heterogenität ihrer Gestaltung. Diese modernere Konzeption ist wohl eher auf den Einfluß von Laubers Gesellschafter Hans Schilling als auf Lauber selbst zurückzuführen.

Zu den Herstellungsbedingungen
und Absatzchancen von Lauberhandschriften

Im dritten Teil der Arbeit werden die "Herstellungsbedingungen und Absatzchancen von Lauberhandschriften" (S. 155) im Überblick dargestellt. Der Kundenkreis wandelte und erweiterte sich zunehmend. Aufgrund der in den Handschriften abgebildeten Wappen ordnet Saurma-Jeltsch die Kunden der Werkstatt von 1418 dem niederen Adel Straßburgs zu, während sie die erste Phase der Lauberschen Produktion im Umkreis des adeligen oberrheinischen Fehdewesens ansiedelt.

Den Befund der späteren Handschriften, die anstelle von identifizierbaren Wappen Phantasiezeichen enthalten, deutet Saurma-Jeltsch dahingehend, daß das angesprochene Publikum "nicht mehr dem nahen Umfeld der älteren Produktion angehört" (S. 158); die Vermittlung könnte auf dem Wege von Verwandtschaftsbeziehungen über die Frauenlinien erfolgt sein.

Seit der Mitte der 40er Jahre erscheinen Wappen fränkischer Adelsgeschlechter, die über Adelsgesellschaften miteinander in Verbindung stehen; an die Stelle verwandtschaftlicher Verbindungen treten nun politische Kontakte im Umkreis südwestdeutscher Kanzleien. Die Ausweitung des Absatzmarktes seit den 40er Jahren verdankt sich hauptsächlich dem Kommunikationsnetz der elsässischen Landvogtei. In der Spätzeit sorgte Hans Schilling für eine Ausweitung des Kundenkreises auf bürgerlich-städtische Besitzer in Konstanz.

Die Konzeptwechsel bei der Handschriftenproduktion und die Erweiterung der Auftraggeberkreise spiegeln sich auch in Veränderungen des Werkstattstils, dessen Herkunft am Oberrhein verortet wird. Rezipiert wurden aber nicht nur Motive aus der Buchmalerei, sondern gerade in der Blütezeit des Unternehmens auch Druckgraphik (S. 175) bis hin zur Übernahme ganzer Bildtypen z.B. aus Kupferstichen des Meisters E. S. Derartige Stilveränderungen kann Saurma-Jeltsch vereinzelt mit Interessen der Auftraggeber in Zusammenhang bringen. Die größere gestalterische Freiheit der Illustratoren ist damit einerseits auf ein verändertes Publikum, andererseits auf eine inhaltlich breitere Handschriftenproduktion zurückzuführen.

Zugleich wird offensichtlich, daß sich die Funktion der Bilder im Verlauf der Produktion erheblich wandelte. Für die "Fragen nach den Möglichkeiten einer gezielten Modifikation der Bildinhalte und den Zusammenhängen zwischen der Ausrichtung von Programmen und der Arbeitsweise" bieten die siebzehn illustrierten Historienbibeln aus der Lauber-Werkstatt eine breite Untersuchungsgrundlage. In ihnen lassen sich zwei unterschiedliche Ausrichtungen der Illustrationsprogramme erkennen, die jedoch mit den textlichen Redaktionen nicht identisch sind. Während die Illustrationen des ersten Typs nach Exemplarizität streben und es dem Betrachter durch ihre Gliederungsfunktion erleichtern, sich den Inhalt einzuprägen, also eine didaktische Funktion erfüllen, läßt sich im zweiten Typ eine stärkere Emotionalisierung und Ausrichtung der Bilder auf den einzelnen Betrachter konstatieren. In den profanen Textgattungen läßt sich die Übernahme von Bildformeln aus den Historienbibeln erkennen, ohne daß daraus notwendigerweise eine Bedeutungsübertragung resultiert. Auch in ihnen ist aber ein analoger Wandel in den Bildtypen hin zu einer größeren szenischen Vielfalt und zu stärkerer subjektiver Erfahrung (S. 222) zu beobachten.

In ihrer Schlußbetrachtung resümiert Saurma-Jeltsch nochmals ihre Thesen zur "Typenvielfalt von Werkstätten" (S. 222), zum Einfluß von Reformbewegungen auf die Handschriftengestaltung (S. 227) und zu ihrer Ansiedlung im "Kontext ständischer Politik" (S. 235). Angesichts der präzise herausgearbeiteten kodikologischen und stilistischen Veränderungen der Handschriftenproduktion vermögen die mit den griffigen Schlagworten "Materialverlag", "Kleinbetrieb", "Produktionszirkel" und "Gelegenheitsgesellschaft" belegten Organisationsformen durchaus zu überzeugen.

Problematischer ist Saurma-Jeltschs Versuch, die "Handschrifen im Milieu der Reformen" (S. 227) anzusiedeln. Der Bezug zu Tendenzen der Devotio moderna, insbesondere ihr Anliegen, auch Laien an den Text der Bibel heranzuführen, ist allenfalls für die Historienbibeln plausibel zu machen, die allerdings nur einen verhältnismäßig kleinen Teil der Lauberschen Produktion ausmachen. Gerade die Vielzahl von ähnlichen Forderungen in den Schriften von Autoren wie Gerhard Zerbolt von Zutphen, Johannes Gerson und Geiler von Kaysersberg 3 macht deutlich, daß das Bemühen, die Lauber-Handschriften als Umsetzungen reformerischer Ideen zu deuten, allzu eindimensional verfährt. Die Bilder reagieren allenfalls auf zeitgenössische Strömungen, dienen ihnen aber nicht als bloßes Vehikel; in den Epenhandschriften lassen sich derartige Einflüsse nur mit Mühe greifen.

Auch Saurma-Jeltschs Bemühen, die Handschriften als Ausdruck politischer Bestrebungen ihrer Auftraggeber zu interpretieren, läßt Fragen offen. Zwar betont Saurma-Jeltsch, daß Handschriften nur ein Medium für die Selbstinszenierung ihrer adligen Besitzer darstellten; inwieweit Büchern und den in ihnen enthaltenen Texten und Bildern über diesen Benutzerkreis hinaus tatsächlich eine Propagandafunktion zukommen konnte, bleibt nur schwer nachvollziehbar. Aufschlußreich gewesen wäre hier eine Analyse etwaiger Benutzungsspuren oder Annotationen in den Handschriften, die jedoch auch in den beigegebenen Handschriftenbeschreibungen keine Erwähnung finden. Die schlechte Qualität der kopierten Texte 4 liefert jedenfalls ein Indiz dafür, daß die Codices doch eher (ungelesene?) Objekte der Repräsentation darstellten als "reformerische Inhalte" (S. 238) (und politische Ansprüche) wirkungsvoll vermitteln konnten.

Der Monographie ist ein mit 337 Abbildungen reich illustrierter Tafelband beigegeben, der detaillierte Beschreibungen von 84 illustrierten sowie 4 unillustrierten Handschriften und von 8 Fragmenten enthält (S. 1–140). Bedauerlicherweise sind die Handschriftenbeschreibungen mit dem Untersuchungstext nur schlecht verzahnt, da dort auf die Handschriften nicht mit ihrer Bibliothekssignatur oder Katalognummer, sondern mit "sprechenden" Kurznamen Bezug genommen wird; für eine Zuordnung ist jeweils das Register zu konsultieren. Gelegentlich zeugen terminologische Unsicherheiten ("Fraktura" S. 53, "Initie" S. 176) davon, daß die Untersuchung nicht aus der Feder einer Buchhistorikerin stammt. Das Lesevergnügen wird zudem durch das – dem Bildband geschuldete – Großformat des Buches geschmälert, das für die Lektüre einen Schreibtisch erforderlich macht, dessen Fläche groß genug sein muß, um den aufgeschlagenen Text- und Bildband nebeneinander zu legen, ohne daß das Orientierungsvermögen des Lesers im zweispaltig gesetzten, dicht argumentierten Gedankengang leidet.

Diese Quisquilien beeinträchtigen jedoch Saurma-Jeltschs beeindruckende Gesamtleistung nur am Rande; die Verbindung von detailreichen kodikologischen und kunsthistorischen Analysen zu einem stimmigen, wenn auch vielleicht etwas überzeichneten Gesamtbild wird ihre methodische Wirkung auch über das engere Untersuchungsgebiet der Lauber-Handschriften hinaus entfalten.


Dr. Bettina Wagner
Bayerische Staatsbibliothek
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Ins Netz gestellt am 11.11.2002
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


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Anmerkungen

1 Rudolf Kautzsch: Diebolt Lauber und seine Werkstatt in Hagenau. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 12 (1895), S. 1–32 u. S. 57–113.    zurück

2 Während Kautzsch der Lauber-Werkstatt 39 Handschriften zuordnen konnte, sind heute mehr als 70 Codices sowie einige Fragmente nachweisbar.    zurück

3 Saurmas Interpretation der Quellen ist jedoch nicht frei von Mißverständnissen: Geilers "warer bescheidner moensch" soll natürlich nicht über "eine bescheidene Haltung" (S. 229), sondern über Verständigkeit verfügen.    zurück

4 Dis bisherigen germanistischen Bemühungen um die Lauber-Texte stellt Christoph Fasbender in Übersicht dar: Húbsch gemolt – schlecht geschrieben? Kleine Apologie der Lauber-Handschriften. In: ZfdA 131 (2002), S. 66–78.   zurück