Wanzeck über Yeandle: Die Bedeutungsentwicklung des Wortes Scham bis um 1210

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Christiane Wanzeck

Die Bedeutungsentwicklung
des Wortes Scham bis um 1210

  • David N. Yeandle: >schame< im Alt- und Mittelhochdeutschen bis um 1210. Eine sprach- und literaturgeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung einer ethischen Bedeutung (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte) Heidelberg: Winter 2001. XXVII, 264 S. Kart.
    EUR (D) 46,-.
    ISBN 3-8253-1150-3.


In dieser Arbeit geht es um die monographische Behandlung des Wortes Scham im Alt- und Mittelhochdeutschen, das heißt um die ethische Dimension des Schambegriffs. Bisher hat sich die sprach- und literaturgeschichtliche Behandlung des Begriffs schame auf kürzere Abschnitte innerhalb von Einzelstudien zu ausgewählten Werken beschränkt, allen voran Wolframs Parzival. Eine umfassende Darstellung, in der beide Ebenen berücksichtigt werden, liegt nun hier in angemessener Form vor. Der Aspekt der Interdisziplinarität, also der Verbindung von Sprach- und Literaturwissenschaft im Bereich der Wortforschung 1, ist ein großer Gewinn für die Arbeit.

Aufbau der Untersuchung

Zunächst eine Übersicht über den Inhalt dieses Buches: Die Einleitung befaßt sich mit dem Forschungsstand und dann der Einführung in das Problem der Entwicklung des Schambegriffs und der Herausbildung der ethischen Bedeutung. Es folgen Hinweise auf die Methodik der Untersuchung, mit denen sich der Leser über den Aufbau der Untersuchung orientieren kann. Unter dem Punkt "Wesensbestimmung des Schambegriffs" werden die verschiedenen Aspekte, der psychologische und der anthropologisch-soziologische Aspekt der Scham, definiert und beschrieben. Der linguistische Aspekt ist in dem kurzen Abschnitt "Etymologisches und Sprachspezifisches", in dem die bisherigen Ergebnisse zur Herkunft des Wortes Scham referiert werden, berücksichtigt.

Abschließend stellt der Verfasser in einer Übersicht anhand der im Hauptteil besprochenen Textbelege die innere Struktur der Bedeutung von schame zusammen. Dieses Klassifikationsmodell bildet die Zusammenfassung und gleichfalls die Grundlage für das weitere Vorgehen in der Arbeit. Der Hauptteil enthält je ein Kapitel zu schame in althochdeutscher und frühmittelhochdeutscher Zeit und neun Kapitel, in denen bestimmte mittelhochdeutsche Autoren und Texte jeweils im Zentrum stehen (3. Hartmann von Aue, 4. Herbort von Fritzlar, 5. Ulrich von Zatzikhoven, 6. Nibelungenlied, 7. Wolfram von Eschenbach (Parzival), 8. Wirnt von Grafenberg, 9. Gottfried von Straßburg, 10. Wolfram von Eschenbach (Willehalm und Titurel) und 11. Walther von der Vogelweide).

Der Schluß faßt die Ergebnisse auf zahlenmäßiger Grundlage zusammen (der Anhang enthält vier Graphiken dazu) und bündelt die Ergebnisse der Entwicklung des Schambegriffs. Schließlich gibt es eine Bibliographie, die sehr übersichtlich in drei Teile untergliedert ist: 1. Texte und Übersetzungen, 2. Forschungsliteratur und 3. Wörterbücher. Das Register erschließt dem Leser die Arbeit unter den verschiedensten Gesichtspunkten, z. B. der Wortbedeutung, der thematischen Gliederung sowie des Autors oder des Textes.

Das Buch ist übersichtlich gegliedert (leider sind im Inhaltsverzeichnis nicht alle Gliederungspunkte aufgenommen) und sorgfältig geschrieben. Es bietet eine umfangreiche Materialuntersuchung mit einer Auswertung der semantischen Struktur des Wortes schame. Eine Studie dieser Art lesbar zu schreiben ist ein besonderes Verdienst. Trotz der sehr differenzierten Aufgliederung der Bedeutung von schame bleibt der Text auch für Leser, die nicht vom Fach sind, noch zugänglich. Der mit großer philologischer Genauigkeit herausgearbeiteten komplexen Wortsemantik kommt es zugute, daß sich der Verfasser schon über einen längeren Zeitraum intensiv mit der Problematik der speziellen Wortbedeutung von schame befaßt hat, zu sehen auch an den zahlreichen weiteren Veröffentlichungen von Yeandle zu diesem Wort.

Analyse der Vorgehensweise

Kommen wir jetzt zum einzelnen dieser Abhandlung. Zuerst geht es um die Aufstellung einer Klassifizierung der Belege zu dem Wort schame, das heißt einer Bestandsaufnahme der Einzelbedeutungen. Der Verfasser entwickelt für die Beschreibung der Wortbedeutungen ein Konzept, das zunächst zwischen "ethischen" und "nicht-ethischen Belegen" unterscheidet. Diese beiden Hauptgruppen enthalten fünf Untergruppen (1. Scham als primäres Konzept / gesellschaftliche Scham, 2. höfische Scham, 3. ritterliche Scham, 4. religiöse Scham, 5. erotische Scham), die sich aufgrund von Teilbedeutungen weiter verzweigen. Die Wortbedeutungen von schame zu beschreiben und in sogenannte "Schamkategorien" einzuordnen gelingt, ohne daß einerseits eine unübersichtliche enzyklopädische Beschreibung oder andererseits eine Unregelmäßigkeiten gänzlich außer acht lassende Klassifizierung erstellt würde. Durch die Ansetzung von Gruppenbedeutungen werden die semantischen Zusammenhänge gekennzeichnet.

Die Einordnung der Belege in ein System von Bedeutungstypen hilft die historischen Belegstellen zu präzisieren und die einzelnen Lesarten zu strukturieren. Der Verfasser hat die Möglichkeit genutzt, die Sach- und Begriffsebene bei der Bedeutungsgliederung miteinzubeziehen. Solch ein Vorgehen kann eine lexikographische Beschreibung im Unterschied zur Einzelwortuntersuchung nur bedingt leisten. Im DWB (8: 2108) 2 steht dementsprechend z. B. bei Wolframs Parzival-Beleg dem scham versliuzet sînen munt, / daz dem verschamten ist unkunt (299, 17f.) die kurze Erläuterung "im mhd. von der maszvollen zurückhaltung des fein erzogenen mannes" entgegen der im vorliegenden Buch aufgestellten Klassifizierung in Form der Beleggruppenumschreibung "höfisch-ethisch: Scham führt zu Schweigsamkeit bzw. Zurückhaltung" (S. 142 f.). Durch die Verallgemeinerung der Bedeutungen ist es gelungen, Belege ähnlichen Inhalts zusammenzuordnen.

Betrachten wir nun die kleinsten selbständigen Einheiten, die Teilbedeutungen der Untergruppen des Wortes schame. Mit diesem weiteren Gliederungsabschnitt der komplexen lexikalischen Bedeutungen hat Yeandle insgesamt eine detaillierte hierarchische Anordnung der Einzelbedeutungen vorgelegt. Dabei hat er sich zum Ziel gesetzt, die Besonderheiten der Gebrauchsweisen als solche sichtbar zu machen und nicht in einer Gliederungsebene zusammenzufassen.

Auf diese Weise erhält bei den nicht-ethischen Belegen z. B. die Untergruppe höfische Scham die Differenzierung negative Fremdscham oder Schmach, die sich ihrerseits aufgliedert in die Varianten spezifisch auf Minne bezogen, – auf Sippe bezogen, – auf standesmäßige Angelegenheiten bezogen, – auf Armut bezogen und – auf >êre< bezogen. Solche Bedeutungsverzweigungen erleichtern es, die verschiedenen geschichtlichen Wirklichkeitsbestandteile von schame zu erfassen und die Verwendung des Wortes in frühen deutschen Texten zu verstehen.

Darüber hinaus hat Yeandle mit seiner Zusammenstellung der gesamten Lesarten zu schame einen wichtigen Beitrag für die lexikalische Semantik geleistet, die auf solche Einzeluntersuchungen angewiesen ist, wenn sie Aussagen zu den Gebrauchsweisen von Wörtern machen will. Der Vorteil von sehr genauen Bedeutungsermittlungen kann aber auch zum Nachteil werden, wenn der Eindruck entsteht, daß gewisse Unschärfen bei der Bedeutungsabgrenzung bestehen. Ein Beispiel aus der vorliegenden Studie dafür ist die feine Unterscheidung in höfische Scham spezifisch auf die Sippe bezogen (bezieht sich z. B. auf die Abstammung Parzivals) vs. höfische Scham spezifisch auf standesgemäße Angelegenheiten bezogen. (bezieht sich auf den sozialen Rang oder Status in Wolframs Parzival)
(S. 158).

Von der Sache her wäre eine Trennung dieser beiden Bedeutungen nicht gerade zwingend gewesen, doch zeigt es auch, wie tief Yeandles Differenzierung geht. Die Operation des Abstrahierens zur Bestimmung eines historischen Wortgebrauchs ist ein wesentliches Verfahren, Bedeutungen festzulegen 3, wobei die konkrete Umsetzung immer wieder neue Probleme aufwirft. Eine Bedeutungsgliederung ist von daher meistens kritisierbar. Deshalb wäre es voreilig, die oben genannten Bedeutungen zusammenzufassen, da Yeandle seine Entscheidungen vor dem Hintergrund des gesamten Belegkorpus getroffen hat.

Den zentralen Aspekt dieser Arbeit bildet die Analyse der Textbelege, die in komprimierter und unverfälschter Form die nötige Information zum historischen Wortgebrauch von schame liefern. Der Verfasser diskutiert die Textstellen der Belege und gibt Erläuterungen zum Kontext. Durch die häufig ausführlich besprochenen Textstellen wird die Beleginterpretation in dieser Spezialuntersuchung nachvollziehbar, da eine breite Argumentation geführt wird, um einen entsprechenden Bedeutungsansatz zu begründen. Wenn vorhanden, stellt der Verfasser die unterschiedlichen Ansätze in der Forschung vor und setzt sie zu seinen Ergebnissen in Beziehung (vgl. z. B. den zweiten Willehalm-Beleg der religiösen Scham auf S. 192). Nicht zu unterschätzen ist auch die von Yeandle gegebene Möglichkeit, durch die Wiedergabe eines längeren Belegtextes die Zuverlässigkeit des Bedeutungsansatzes selbst überprüfen zu können.

Yeandle begrenzt sich aber nicht allein auf die Belegabbildung, sondern stellt weiterhin Zusammenhänge her, die auf der Belegfrequenz beruhen. Die Angaben zur relativen Frequenz folgen am Ende eines jeden Kapitels unter dem Oberpunkt "Statistiken". Damit stützt der Verfasser seine Aussagen über das Bedeutungsgefüge von schame und bestimmt das Gewicht einer "Schamkategorie" im gesamten Gefüge. Aufgrund der hohen Belegzahl zu schame sind die aus der Statistik hergeleiteten Bewertungen als seriös einzustufen.

Abschließende Beurteilung

Im ganzen ist das Buch eine vorbildliche wortgeschichtliche Studie, die es versteht, eine Brücke zwischen Sprach- und Literaturgeschichte zu schlagen. Es weist eine große Materialfülle auf und läßt mit Hilfe der Argumentationen die aus der Belegauswertung gewonnenen Schlußfolgerungen überzeugend werden. Wünschenswert ist es, daß dem Buch weitere wortgeschichtliche Untersuchungen dieser Art folgen. Dem an historischer Wortforschung interessierten Leser möchte ich zum Schluß die Lektüre dieser Untersuchung nachdrücklich empfehlen.


Dr. Christiane Wanzeck
Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3, RG
D-80799 München

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Ins Netz gestellt am 29.09.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Ernst Hellgardt. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

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Anmerkungen

1 Zur Funktion der Wortforschung als Schnittpunkt von Sprach- und Literaturwissenschaft siehe Adrian Mettauer (2002), Wortforschung im Schnittpunkt von Sprach- und Literaturwissenschaft. In: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000 "Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert". Hrsg. von Peter Wiesinger unter der Mitarbeit von Hans Derkits. Bd. 2: Lexikologie und Lexikographie. Betreut von Oskar Reichmann, Peter Rolf Lutzeier und Zaiping Pan. Bern, Berlin u. a., S. 313–319.   zurück

2 DWB: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (1854–1960). 16. Bde. Leipzig. Quellenverzeichnis 1971. Nachdruck: München 1984.   zurück

3 Weiterführende Informationen zu diesem Verfahren der Bedeutungsermittlung bei Oskar Reichmann, Dieter Wolf (1998), Historische Lexikologie. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. vollst. neu bearb. und erw. Aufl. Hrsg von Werner Besch, Anne Betten, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger. 1. Teilbd. Berlin, New York, S. 636.   zurück