Wehinger über Teschke: Proust und Benjamin

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Brunhilde Wehinger

Proust mit Benjamin und
Benjamin mit Proust gelesen

Kurzrezension zu
  • Henning Teschke: Proust und Benjamin. Unwillkürliche Erinnerung und dialektisches Bild (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 306) Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. 176 S. Kart. EUR (D) 25,-.
    ISBN 3-8260-1767-6.


Der Verfasser beschäftigt sich mit Marcel Prousts Roman A la recherche du temps perdu aus der Perspektive Walter Benjamins und erörtert Benjamins Geschichtsphilosophie am Beispiel des "dialektischen Bildes" aus der Perspektive eines aufmerksamen Proust-Lesers. Die Studie besteht aus zwei Hauptteilen sowie einem Exkurs, genannt "Zwischenstück", zum Begriff der Individualität bei Leibniz, in dem auf die Leibniz-Studien von Gilles Deleuze rekurriert wird, um Spuren der Monade und der ihr eingeschriebenen "petites perceptions" in A la recherche du temps perdu aufzuzeigen. Begründet wird der Exkurs damit, dass der Verfasser das Strukturprinzip der Recherche als eine auf Leibniz zurück verweisende Form der "Monade" begreift. Darüber hinaus wird der Stellenwert der "Monade" als eine "Reflexionsform isolierter Totalität" im Denken Walter Benjamins ausgelotet.

Unwillkürliche Erinnerung und Proustsche Ästhetik

Im ersten Hauptteil (Kapitel 1) steht Prousts Konzeption der "unwillkürlichen Erinnerung" im Mittelpunkt des Interesses. Analysiert werden Themen und Motive (Laterna magica, Madeleine, "Traum und Erwachen", Kunst, Musik, Gesellschaft u. a.) sowie Romanfiguren (Marcel, Swann, Elstir, Albertine etc.), deren literarische Gestaltung Prousts Arbeit an der "unwillkürlichen Erinnerung", das heißt am Schlüsselbegriff der Proustschen Ästhetik, strukturieren und dem Roman sowohl seine philosophische Tiefendimension als auch seine ästhetische Wirksamkeit verleihen.

Bei der Textinterpretation rekurriert Teschke auf Benjamins ästhetische, philosophische und geschichtstheoretische Kategorien, um das Verhältnis von Ästhetik und Philosophie, Metaphysik und Geschichte im literarischen Oeuvre Marcel Prousts herauszuarbeiten. Am Beispiel der für die Argumentation treffend ausgewählten Textpassagen aus der Recherche wird jeweils nach der Funktion literarischer Motive oder philosophischer Topoi für die Evokation der "unwillkürlichen Erinnerung" und nach deren Bedeutung für das Verstehen des Ganzen gefragt.

Am überzeugendsten gelingt dies meines Erachtens am Beispiel der berühmten Madeleine-Episode, deren ästhetische Komplexität und thematische Fülle der Verfasser wie folgt zusammenfaßt:

In der Episode der Madeleine vollzieht sich die Engführung aller bisher angeschlagenen Motive. Inklusion des Ganzen im Kleinsten, Erinnerung qua Vergessen, verjüngende Kraft des Erinnerns, leibhaftige Geistesgegenwart, präzise Phantasie, Bilder ohne Abgebildetes, Anamnesis des Niegesehenen, schöpferische Anschauung, passive Synthesis als Kraft der Zusammenschau; selbst das große Thema der Liebe findet sich hier, denn was ist die Treue zum Vergangenen anderes als Liebe zu ihm? (S. 35)

Mit der Madeleine-Episode habe Proust die Formel für das Zusammenspiel all der in der Recherche evozierten Momente gefunden; es seien indes noch weitere 3000 Seiten im Roman notwendig, "damit die Welt im Stand der Ähnlichkeit ihre Geheimnisse ganz preisgibt" (ebd.). Der von Proust eingeschlagene "Umweg" mit den Stationen der Liebe, der Namen, der Pariser Salonwelt, der Literatur, Malerei und Musik erweise sich schließlich als der kürzestes, weil er als einziger zum Ziel führe (S. 36).

Benjamins Erwiderung auf Proust:
das dialektische Bild

Dass sich im Werk Walter Benjamins eine bemerkenswerte Vielzahl von ästhetischen und geschichtsphilosphischen Topoi findet, die eine offensichtliche Affinität zu Proust aufweisen, setzt der Verfasser als bekannt voraus. Unter anderem verweisen Benjamins Begriff der Aura, seine Konzeption des Gedächtnisses, seine Vorstellung von der Diskontinuität der Zeit und der Eruption des Vergangenen und nicht zuletzt seine Vorstellung vom Glück auf die Recherche. Diese Übereinstimmungen seien in ihrem "Gehalt" jedoch erst zu verstehen, wenn geklärt sei, "was sie Proust schulden" (S. 111). Am deutlichsten habe Benjamin seine Bezugnahme auf die Recherche in Zusammenhang mit dem "dialektischen Bild" markiert, das im Mittelpunkt des zweiten Teils (Kapitel 3) der hier anzuzeigenden Studie steht: "Das dialektische Bild ist zu definieren", so Walter Benjamin in Über den Begriff der Geschichte, "als die unwillkürliche Erinnerung der erlösten Menschheit" (ebd.).

Aus der Perspektive Benjamins stelle Proust den "Präzedenzfall des rettenden Gedächtnisses" dar, während – sozusagen aus der Perspektive Prousts, die sich der Verfasser für seine Benjamin-Lektüre zu eigen macht – die Aufgabe des dialektischen Bildes (das uns vor allem im Passagen-Werk begegnet) darin bestehe, "das Verhältnis von Rettung und Eingedenken" in ein Verhältnis "zur Logik historischer Erkenntnis" (ebd.) zu setzen.

Der Verfasser unternimmt im Folgenden den Versuch, die theologisch-metaphysische, die ästhetische und die biographische Dimension des dialektischen Bildes zu erläutern. Dabei nimmt er das gesamte Werk Benjamins in den Blick und betont seine werkimmanente Vorgehensweise: "Ohne äußeres Zutun, nur kraft der immanenten Rekonstruktion eines zentralen Begriffes mitsamt seiner Vorgeschichte soll an ihm selbst aufspringen, was und wie das darin Gedachte Proust erwidert" (S. 112).

Autobiographie und historische Erfahrung

Aus der Sicht der Proust-Leserin erscheint Kapitel 3.4. über den "biographischen Ursprung des dialektischen Bildes" von besonderem Interesse. Die Skizzierung der intellektuellen Biographie Walter Benjamins im historischen Kontext der 1930er Jahre, das heißt des Nationalsozialismus, trägt zum Verständnis des komplizierten Verhältnisses zwischen dem Proust-Übersetzer Walter Benjamin und dem Autor der Recherche bei.

Am Beispiel der Berliner Kindheit um neunzehnhundert wird die Übereinstimmung mit und die Differenz zu Prousts Darstellung der Kindheitserinnerung aufgezeigt. Für Benjamin und für Proust gelte übereinstimmend Benjamins Diktum, "dass das Gedächtnis nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist, sondern deren Schauplatz" (S. 141), während die Differenz auf der Ebene der literarischen Form ausfindig zu machen sei. In der vielfach überarbeiteten Berliner Kindheit habe Benjamin das Autobiographische (das die Recherche auszeichnet) durch die Fokussierung auf die historische Erfahrung, die sich in den Dingen der Berliner "Großstadtkindheit" verberge, vertauscht. Meines Erachtens gelingt es dem Verfasser, Walter Benjamins literarische Evokation der Kindheitserinnerung als eine in besonderer Weise aufschlussreiche Erwiderung auf Marcel Prousts Kindheitserinnerung in A la recherche du temps perdu zu entziffern.

Den an Proust und Benjamin interessierten Leserinnen und Lesern bietet diese nicht immer leicht lesbare Studie subtile Einblicke in die komplexe Konstellation des >literarischen Dialogs< zwischen zwei >Künstler-Philosophen< des 20. Jahrhunderts.


PD Dr. Brunhilde Wehinger
Forschungszentrum Europäische Aufklärung e. V., Potsdam
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Ins Netz gestellt am 15.04.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Uwe Steiner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


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