Michael Weiss über Achim Diehr: Speculum corporis

Michael Bastian Weiß

Körper in der Musik des Mittelalters

  • Achim Diehr: Speculum corporis. Körperlichkeit in der Musiktheorie des Mittelalters. (Musiksoziologie 7) Kassel u.a.: Bärenreiter 2000. 367 S. Kart. DM 58,00.
    ISBN 3-7618-1356-2.


In einer als gegenphasig beschreibbaren Bewegung hat sich in der philosophischen Diskussion der letzten Jahrzehnte mit der Problematisierung der Themenbereiche der Subjektivität und der Autorkategorie eine auffällige Aufwertung der Begriffe von Körperlichkeit beziehungsweise Leiblichkeit ergeben. Die beiden Seiten der Unterscheidung scheinen korreliert zu sein, wenngleich auch nicht im Sinne einer einsträngigen Kausalbeziehung.

So verweist etwa Seán Burke 1 bei einem der Wortführer der modernen Autortheorie, Roland Barthes, auf ein nicht einfach einsträngig aufzulösendes Verhältnis von Körper und Ich. Auch Gilbert Ryle, der in sprachanalytischer Ausrichtung über den Leib-Seele-Dualismus arbeitete, konnte in The Concept of Mind 2 zu keiner positiven Bestimmung einer der beiden Seiten kommen; immerhin versuchte er sie durch den Nachweis zu scheiden, daß das Sprechen über sie unterschiedlichen logischen Ausdruckstypen verhaftet ist.

Es läßt sich jedoch etwa mit Gernot Böhme als Grundkonsens festhalten, daß auf die traditionelle philosophische "Leibvergessenheit" in Folge des Descarte´schen Dualismus mit einer deutlichen Aktualisierung des "menschlichen Leibes" geantwortet wurde 3 . Wird das starke Paradigma der Subjektivität in Frage gestellt, und wird dadurch die Stabilität der Autorkategorie angetastet, dann rückt offensichtlich die Körperlichkeit als eine bis dahin vernachlässigte Seite der Unterscheidung in den Vordergrund.

Körperlichkeit und Medientheorie

Dieser Diskussionszusammenhang ist der Kontext, in den sich Achim Diehr mit seinem Buch Speculum corporis stellt. Untersucht wird das Phänomen der Körperlichkeit in der Musiktheorie des Mittelalters. Schon mit dem Titel "Körperlichkeit" ruft er den eben skizzierten Zusammenhang unweigerlich hervor; ob er ihn mit eher assoziativ wirkenden Zitaten aus der Literatur in der Einleitung genügend ausführlich und systematisch nachzeichnet, mag dahingestellt bleiben. Entscheidend ist für Diehrs Fragestellung, daß er in jener philosophischen Diskussion per se zunächst nur eine "oberflächliche Analogie" zu der von ihm bearbeiteten geisteswissenschaftlichen und im näheren Sinne musikwissenschaftlichen Fragestellung sieht.

Indem Diehr das in den letzten Jahren stark in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückte Oralitäts/Schriftlichkeitsproblem als gewissermaßen medientheoretisch gewendete Fassung der Körperlichkeitsproblematik identifiziert, vollzieht er jedoch die oben angedeutete Verschiebung von Auktorialität zu Körperlichkeit dadurch auch im musikwissenschaftlichen Fachbereich mit.

Diehr führt hierbei die Schwierigkeit aus, daß die Eigenart der mittelalterlichen Kommunikationsverhältnisse (S. 15) eine Überbewertung der Schriftlichkeit verbietet, gleichzeitig jedoch durch die auf uns gekommene Faktenlage eine Rekonstruktion desjenigen Bereichs der Medialität der Kunst, der unter "Oralität" oder "performance" subsumiert wird, durch das Medium der Schriftlichkeit "gebrochen" ist.

Dennoch nimmt Diehr an, daß es möglich ist, den Zusammenhang von "Körper, Geste und Musik" (S. 16), wie er in theoretischen Quellen der Zeit überliefert wird, bis zu einem gewissen Punkt zu rekonstruieren. "Gestik, Mimik, Kleidung und Stimmen" als Elemente der oralen und damit aus dem Überlieferungszusammenhang eliminierten Schicht der Kunstausübung könnten also stärker als in der bisherigen Forschung betont werden.

Diese Identifizierung der mittelalterlichen Medialitätsproblematik mit der bisher weniger aktualisierten Körperseite von Descartes' Dualismus 4 hat zwei Vorteile. Einerseits kann ein mit hohem Geltungsanspruch auftretendes Forschungsgebiet 5 als Bestandteil einer größeren und abstrakteren Problematik, eben der Körperproblematik, interpretiert werden; andererseits könnte sich die Möglichkeit eröffnen, das Begriffsfeld der mittelalterlichen Körperlichkeit mitsamt seiner Begleitbegriffe ("Performanz", "mündliche Kommunikation", "präsenter Sinn" [S. 27] u.a.) gleichsam als eine Substitutionsfunktion der älteren Funktion der Autor/Werk-Unterscheidung anzubieten und plausibel zu machen.

Um diese Möglichkeiten zu prüfen, muß (1.)nach einem Referat der Thesen und Ergebnisse Diehrs gefragt werden, wie er sich zu Einwänden verhalten kann, die (2.) sowohl in methodologischer als (3.) auch in inhaltlicher Hinsicht möglich sind.

Bei letzteren geht es darum, auf Kritik zu reagieren, die sowohl aus Diehrs eigener Arbeit als auch der Problemstellung und ihrer Diskussion in medientheoretischen, philosophischen, literatur- und musikwissenschaftlichen Diskursen abgeleitet werden kann.

Besonderes Augenmerk muß dabei auf die Verwendung des Begriffes der Körperlichkeit gerichtet werden, der ja von Diehr ausdrücklich innerhalb der Aufwertungsbewegung der letzten Jahrzehnte situiert wird, gleichzeitig jedoch über die Diskussion der mittelalterlichen Medialität näher bestimmt werden soll. Eine resümierende Einordnung der Arbeit (4.) hebt deren interdisziplinären Charakter hervor.

1. Die Attraktivität der Körper

Daß Diehr in der Skizze seines Gedankengangs (S. 20) zwei Untersuchungsbereiche seiner Studie unterscheidet, überzeugt im Hinblick auf seine folgende Darstellung nicht völlig. Gegenübergestellt werden

    (a) die "unterschiedlichen Formen des Zusammenspiels von Körper und Musik" und
    (b)"die Auswirkung dieses Zusammenspiels auf die musikalische Praxis".

Es wäre jedoch zu fragen, ob man die Unterscheidung dem Inhalt nach vielleicht eher zwischen dem eher metaphorischen Gebrauch des Terminus "corpus" als Titel eines Gegenstandsbereiches und der tatsächlichen Einbeziehung von Körperlichkeit in die musikalische Praxis (was man als Oralität oder, besser, Kommunikationssituation bezeichnen könnte) treffen sollte. Diese Differenz wäre präziser, stellt jedoch, wie die nachfolgende Kritik zeigen soll, die innere Einheit des Themenbereiches in Frage.

Nachfolgende Zusammenfassung folgt dem Aufbau des Buches.

(a) Entitäten in Harmonie

Die Definitionen von "musica" im Hinblick auf Körperlichkeit, die Diehr in einem breit angelegten Überblick aus musiktheoretischen Werken von Augustinus bis Johannes de Grocheio gewinnt, weisen im Verlaufe des Mittelalters eine Tendenzverschiebung auf. Diehr faßt sie als Interessenverlagerung von spekulativer, auf antiken Vorstellungen beruhender Theorie hin zu praktischen Fragen des Choralgesangs.

Gemein ist diesen Vorstellungen, daß die Körpermetaphorik ein Moment der Entitätenbildung mit sich bringt. Das heißt, daß Einzelbestandteile wie etwa Individuen der kirchlichen Gemeinde über harmonisierende (d.i.: synchronisierende) Maßnahmen wie etwa den Rhythmus zu einer - zusammengesetzten - Körpereinheit verbunden werden; diese Vorstellung war im Mittelalter weit verbreitet, wie der von Diehrs zitierte Kanoniker Hostiensis (13. Jahrhundert) zeigt.

Auch das 2. Kapitel, das sich mit der Proportionalität der Körper befaßt, betont den Begriff der Harmonie, die die göttlich präetablierten und sinnvollen Beziehungen der Körper zueinander als ein proportional geordnete Weltganzes beschreibt. Die Musica ist hierbei das Tertium zwischen Menschenkörper und Weltkörper, was es schwierig macht, ihren ontologischen Status zu bestimmen. Als Repräsentation systemischer Zahlenverhältnisse gehört sie der intelligiblen Welt an, gleichzeitig ist sie aber auch sinnlich wahrnehmbar.

Attraktivität des Körpers als Metapher

Diehr hält es nicht für möglich, eine generelle Interpretationsentscheidung zu treffen, ob der Gebrauch des Terminus "Körpers" eher metaphorisch oder wörtlich zu verstehen ist. Er hält jedoch fest, daß die Körpermetaphorik in jedem Falle von besonderer Attraktivität gewesen sein muß. Er erklärt diese, unter kursorischem Hinzuzug semiologischer und psychoanalytischer Theorie, als anthropologisch universelle Plausibilität der "Kopplung von Abstrakta an die Teile des menschlichen Körpers". Diese Kopplung würde gleichsam zu einer leichten Begreifbarkeit qua Bildlichkeit führen.

Vor allem die etwas ausführlichere Behandlung von Augustinus De Musica (S. 66 - 79) führt zu der These, daß das allgegenwärtige Darstellungsmittel "Körper" Ausdruck der Schwierigkeit ist, "in einer körperzentrierten und überwiegend oral geprägten Kommunikationsgemeinschaft ´Zeit´ ohne das kontaminierende Gedächtnis des Körpers darzustellen".

Die Attraktivität des Körperbegriffs wird also durch die spezifisch mittelalterlichen medialen Bedingungen erklärt. So könnte man also von einer Anbindung derjenigen Zeitverläufe an den Raum sprechen, die als reine Geistestätigkeiten keine Maßeinheiten: als Gliederungspunkte, aufweisen. Gerade diese unstrukturierte "beunruhigende Bewegung in der Signifikatenkette" (S. 78) ist theologisch prekär, da das Fehlen von Rhythmus, Analogie, Proportion, die eben erst in der Körperanbindung hergestellt werden, und die "prinzipielle Mehrdeutigkeit von Sprache seit dem Sündenfall" möglicherweise "Phantasmata" produziert (ebd.).

(b) Körper und Körperteile
in memorialtechnischer Funktion

Wenn oben zwischen dem terminologischen Gebrauch des Begriffs "corpus", unter den Diehrs die deutschen Synonyme Körper/Leib faßt, und dem tatsächlichen Einbezug des Körpers in die musikalische Praxis unterschieden wurde, dann sollte diese Differenz nicht als undurchlässig verstanden werden. Über die hohe Plausibilität und Attraktivität der Körpermetaphorik läßt sich nämlich eine Verbindung dieser beiden Bereiche herstellen. Zu nennen sind sowohl memorialtechnische Zwecke als auch Erklärungen von musikalischen Phänomenen, die mit dem damaligen Stand der Musiktheorie (vor allem des eng limitierten Tonsystems) nicht vereinbar sind.

In einer Gesellschaft mit primär oral ablaufenden Kommunikationssituationen ist die Erfordernis einer leistungsfähigen Memorialtechnik kaum zu überschätzen. Diehr stellt vor allem zwei Möglichkeiten der Einbeziehung von Körpern heraus. Körper können in ihrer Ganzheit oder in ihrer Zusammengesetztheit aus einzelnen Teilen zur Speicherung und Aktualisierung von Gedächtnisinhalten eingesetzt werden.

Die erste Möglichkeit diskutiert Diehr etwa an der Musica disciplina von Aurelianus Reomensis, der acht der neun Musen die Tonarten des Oktoechos zuordnet und der neunten Muse die Verkörperung der "differentiae" als die Anschlußformeln der Gesänge reserviert. Aribo hingegen stellt in De Musica ein verzweigtes System vor, das die Musen unterschiedlich rubrifiziert und so unterschiedliche Aspekte von "musikalischem Wissen" gespeichert und abgerufen werden können.

Die Metaphorik von Körperteilen wird etwa von Pseudo-Johannes de Muris ("De Musica") oder Engelbert von Admont gebraucht. In beiden Fällen wird durch die Analogisierung von Körperteilen wie etwa Gelenken (Engelbert) mit den Halbtonschritten des Musiksystems deren Gebrauch erklärt:

"Wie die Gelenke bei der Bewegung der Glieder, so würden auch die Halbtöne bei der Bewegung und Mutation der ´voces´ Rauheit im Gesang verhindern, da durch sie ein zu ausgeprägtes Fallen und Steigen von zu vielen aufeinanderfolgenden Ganztönen vermieden würde" (S. 96).

Interessant ist hierbei also, daß diese Metaphorik offenbar als so nachvollziehbar gilt, daß sie gebraucht wird, wenn es um die verbale Darstellung und Erklärung eines Problems geht. Denn im Übergang von adiastematischer zu diastematischer Notation erwächst, wie Diehr zeigt, die Schwierigkeit, Halbtonschritte darzustellen, für deren Repräsentation noch gar keine Töne im System zur Verfügung stehen.

Ein weiteres diesbezügliches Beispiel ist die berühmte Guidonische Hand, die Diehr in Übereinstimmung mit der neueren Literatur 6 als Merkhilfe deutet (wer schon einmal die Anzahl der Tage eines Monats mit seinem Fingerknöcheln errechnet hat, hat eine Vorstellung von der Praktikablität einer solchen Merkhilfe).

Einheitsstiftung durch Schlußformeln

Diese Differenz der Anwendung des Körperbegriffs auf Ganzes/Teil wird überlagert durch eine zweite Differenz, nämlich die von konkreten Körpern wie etwa den oben genannten allegorischen Figuren versus Körpern in einem als abstrakt verstandenen Sinn.

Besonders der Micrologus von Guido von Arezzo wird dahingehend interpretiert, daß die Körper-Metaphorik sich auf den Cantus als Ganzes bezieht. Dabei rücken die jeweiligen Schlußformeln der Gesänge in den Vordergrund, die erst den zugrundeliegenden Modus erkennen lassen und damit dem Gesang, wie Guido ausdrücklich formuliert, sein "farbiges Gesicht" geben ("coloris faciem ducere"). Von größter Wichtigkeit ist die hierbei schon implizierte Beobachtung, daß der Gesang beim Hören erst retrospektiv als Ganzes identifiziert werden kann und damit auf die ihn erst konstituierende Gedächtnisleistung angewiesen ist. Auch beim Lesen, das durch die sich mittlerweile durchsetzende Schriftlichkeit möglich wird, ergibt sich das Körperganze erst in Beziehung auf den einheitsstiftenden Schluß.

Diehr beschreibt hierbei einen Interessenskonflikt zwischen Praxis und Theorie: Während in der Choralpraxis "modal uneinheitliche" Gesänge vorkamen, forderte die Theorie, diese zu emendieren; innerhalb der Körperterminologie wurde derjenige Gesang, der keine stabile Modalität auswies, folgerichtig als "monströs", mißgestaltet, betrachtet. Dieser Konflikt wird dadurch verschärft, daß durch den Einbezug der antiken Ethoslehre moralische Geltungsansprüche mit den im engeren Sinne ästhetischen Phänomenen verbunden werden.

In einem recht detaillierten und spezifisch notationstheoretischen Teil zeigt Diehr, daß nach Guido auch dem "kleinstmöglichen Teil" des Cantus-Ganzen, "der Note nämlich, Körperhaftigkeit attestiert" wird. Zu wenig ausgeführt ist hier leider Diehrs resümierender Verdacht:

Man mag in diesem Prozeß auch ein Moment von Kompensation sehen; im Bereich der Musiktheorie wird der Bedarf an Rückbindung an den Körper - ob bewußt oder unbewußt - umso stärker, je weiter die Ablösung von einer fast ausschließlich körpergebundenen Memoration voranschreitet.(S.164)

Die voraussetzungsreiche Rede von Kompensation und Bewußtsein kann nicht erklären, wieso eine solche Kompensation denn notwendig werden sollte. Eben so gut könnte man ja davon ausgehen, daß mit neuen Formen der Speicherung von Wissen die Körperlichkeit in memorialtechnischer Funktion verdrängt wird. Eine Kompensation einer solchen obsolet gewordenen Körperbezüglichkeit würde ja eine der Memorialtechnik externe Wertzuschreibung voraussetzen, etwa eine Kritik an einer solchen Körpervergessenheit oder ähnliches.

Diehrs hier nur sehr reduziert wiedergegebene Thesen werden durch eine Anwendung der Ergebnisse in einer Einzelstudie zu Frauenlobs "Marienleich" ergänzt. Diehr demonstriert hier eine textanalytische Anwendung einer für Körperlichkeit sensibilisierten Interpretationsperspektive. Die "Kopplung des Textes an zwei Sprecherkörper" (S. 313), nämlich einen Visionär und eine Vrouwe, wird als Möglichkeit interpretiert, einen umfangreichen Text formal zu bewältigen.

2. Hin zu einer Theorie von Körperlichkeit

Es dürfte durch die bisherige Darstellung einigermaßen deutlich geworden sein, daß Diehrs Untersuchung in hohem Maße theoretische Inhalte voraussetzt. Die leitende Vorstellung ist hierbei das mediale Problem von Oralität und Schriftlichkeit.

Zu Beginn hatte Diehr völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß über diese Problematik in den mit ihr befaßten Wissenschaften keinesfalls einheitliche Meinungen herrschen. So ist die Vorstellung eines "Medienwechsels" zwar oft zitiert, aber weiterhin diskussionsbedürftig, ob dieser etwa teleologisch verstanden werden kann (und damit Wertungen unterworfen werden kann), ob Oralität und Schriftlichkeit tatsächlich konzeptuell radikal getrennt werden können, oder ob die Wissenschaft etwa über anthropologische Konstanten wahrheitsfähige Aussagen über die historische Wirklichkeit der vorgestellten Phase der Oralität treffen kann.

Auch wenn diese Vorstellung als ein Arbeitsbegriff oder eine Hypothese der Untersuchung erst zugrundeliegen muß, wäre eine deutlichere Ausweisung von Diehrs diesbezüglichen Thesen, etwa in einem eigenen Unterpunkt, wünschenswert gewesen. Um etwa im 4. Kapitel die große Bedeutung von Bewegung und Gestik in der als oral vorgestellten Kommunikationssphäre des Mittelalters festzustellen, genügt keine bloße Folge von Beispielen, auch wenn sie aus verschiedenen Disziplinen stammen (S. 166ff.). Hier würde man eine ausreichend elaborierte Theorie benötigen, die den Status von performativen Akten in der mittelalterlichen Medialität wirklich plausibel erklärt.

Kritik

Es ergibt sich zum Beispiel, wie Diehr selbst anklingen läßt, das Problem, daß eine Kopplung von Gesten mit Emotionen: zur Verstärkung ihrer Wirkung und der besseren Memorierbarkeit, ein Bewußtsein von erlebender Individualität voraussetzen müßte; dessen Möglichkeiten und Beschaffenheit in der betreffenden Epoche müßten jedoch erst geklärt werden.

Solche Thesen jedoch scheinen eher assoziativ auf, und führen mitunter zu vorschnellen Schlüssen. So ist es wohl nicht möglich, in der - von Diehr mediengeschichtlich als vollendet vorgestellten ! - Schriftlichkeit die Voraussetzung dafür zu sehen, daß

der Cantus als eigenständige, relativ textunabhängige musikalische Gestalt in den Blick gerät. Anfang und Ende, der Bezug von Schlußton und Abschnittsendtönen untereinander, werden dank der Entkopplung von Notenzeichen und Text aufeinander beziehbar und können als Ganzes visualisiert werden. (S.132)

So ist es etwa nicht klar, weshalb ein wesentlicher Unterschied zwischen der Prozessualität des Singens/Hörens (oral) und der des Lesens (schriftlich) getroffen werden kann, wenn doch beide als mentale Repräsentationsfunktionen in ihrer Prozessualität Zeit voraussetzen. Hier wäre der Einbezug einer zusätzlichen Differenzierung des Oppositions-paares mündlich/schriftlich von Wulf Oesterreicher 7 hilfreich gewesen.

Oesterreicher unterscheidet auf der Schriftlichkeitsseite zwischen Verschriftung und Verschriftlichung, wobei, kurz gesagt, Verschriftung als bloße Fixierung oraler Gegebenheit größere Anteile solcher Produktions-bedingungen enthält. Diese Differenzierung hätte eine solche Überschätzung der Medialität der Schriftlichkeit vielleicht vermieden.

Diejenigen Stellen, die einer Ausweisung von Diehrs diesbezüglichen Begriffen von Medialität, Kommunikation usw. am nächsten kommen, etwa zu Beginn des 4. Kapitels, sind zum einen zu wenig detailliert, zum anderen sind die angeführten Beispiele sehr zufällig ausgewählt.

Theoretische Konsistenz

Diehr entscheidet sich nicht für einen einzigen Disziplinzusammenhang, sondern springt zwischen Freuds Hysteriebeschreibung, Meads Sozialbehaviourismus, linguistischen Modellen und anderen Beispielen hin und her.

Zu einer konsistenten Theorie kann er so nicht kommen, allenfalls zu einer Skizzierung, wie wichtig mündliche Kommunikation für das Mittelalter war. Problematisch ist jedoch, daß solche Thesen von Diehr häufig aus zitierten anthropologischer Konstanten gewonnen werden; es wird nicht reflektiert, daß deren Anwendung auf andere Epochen das Problem der Ahistorizität mit sich bringt (etwa S. 168). Dieser Einwand gilt neben dem medientheoretischen Hintergrund auch für den philosophischen bzw. soziologischen.

Wenn Diehr im Zusammenhang mit dem Micrologus von Guido von "Komplexitätsreduktion" spricht (S. 241), wüßte man gerne, ob er eine solche Luhmann-Referenz im Rahmen von dessen Theorie versteht oder metaphorisch gebraucht. Ähnliches gilt für die Vorstellung einer "Ausdifferenzierung der Musik unter den Auspizien des Medienwechsel" (S. 23). Freilich wäre auch ein theorieexterner Sinn nicht verwerflich, doch sollte ein derart spezifischer Sprachgebrauch ausgewiesen werden.

Diehr zieht einen bewundernswert breiten Textcorpus heran; anders wäre wohl ein so umfassendes Thema nicht zu bearbeiten. Naturgemäß bleibt Diehr, selbst wenn er nach eigener Aussage Augustinus De Musica "sehr viel Raum widmet", hinsichtlich der Reflexionsstufe zu sehr im Referieren. Eine noch ausführlichere Darstellung hätte in den Bereich vordringen können, in welchem am Text selbst Widersprüchlichkeiten, Begründungsprobleme u.ä. aufgedeckt werden können.

Autorkonzept

Schließlich ist die für eine musikwissenschaftliche Dissertation seltsame Zurückhaltung, Notenbeispiele zu geben, schwer verständlich. Sie hätten die Nachvollziehbarkeit der Arbeit deutlich erleichtert. Es wäre etwa von großer Bedeutung, würde Diehr tatsächlich zeigen und nicht nur en passant erwähnen, daß Guidos Micrologus als Folge des vorgestellten Medienwechsels bereits "erste Formen von Kompositionen" enthält. Kompositionen welcher Art, welchen Begriffs, und haben sie, was ja impliziert scheint, einen Autor - als einen personalen Autor?

3. "Körperlichkeit"
im formalen und spezifischen Sinne

Speculum corporis, der Titel von Diehrs Untersuchung, ist ein abgewandeltes Bild des Jacobus von Lüttich. Bei Jacobus meint "Musicae Speculum" einen "Spiegel der Musik", in welchem die Leser "mit den Augen des Geistes" sowohl theoretische/praktische als auch allgemeine/besondere Musik beobachten können. Dieser mittelalterlichen Werkkonzeption entsprechend sollen auch bei Diehr unterschiedliche Blickwinkel auf den "Körper und sein Verhältnis zur Musik" ermöglicht werden.

Der Begriff des "Körpers" meint hier sowohl den menschlichen Körper als auch den metaphorischen Gebrauch der Körperterminologie für die Beschreibung (melodisch-modale Einheit des Gesangs), Erklärung (Halbtöne) und didaktische Speicherung von musikalischem Material. In dem Zusammenfassungskapitel "Metaphorizität und medialer Status" wird die bisher ausgebreitete Materialfülle ausdrücklich in diese zwei grundsätzlichen Bedeutungsbereiche aufgeteilt. Daß eine eindeutige Entscheidung zwischen "figuralem" und "nicht-figuralem" Sprechen nicht immer möglich ist, fällt weniger ins Gewicht, da davon ja die eigentümliche Attraktivität der Körperterminologie nicht betroffen ist. 8

Sowohl das durch den Untertitel der Arbeit ausgedrückte Programm als auch die allgemeine Einleitung, die eine "Wiederkehr des Körpers" skizziert hatte, legen nahe, daß Diehr mit "Körper" und "Körperlichkeit" den modernen Sprachgebrauch meint, der damit nicht zuletzt die Aufwertung der Sphäre des Leiblichen, Fleischlichen gegenüber der traditionell betonten Unterscheidungsseite des Mentalen oder auch Seelischen meint.

Körperbegriff mit doppelter Referenz

Genau in der doppelten Referenz des Begriffs "Körper" auf den Menschen sowie auf den Objektbereich der Musik liegt jedoch die konzeptuelle Schwierigkeit, den Begriff des Körpers hinsichtlich seiner Bedeutung genügend zu spezifizieren. Eine solche Spezifikation müßte vor allem dem historischen Gebrauch und Status des Begriffes gerecht werden. Daß die Verwendung des menschlichen Körpers zu memorialtechnischen Zwecken (etwa die Guidonische Hand) unter den engen Bedeutungsbereich von "Körper" gefaßt werden kann, scheint nicht erklärungsbedürftig.

Ob jedoch die metaphorische Rede vom Körper im Hinblick auf die Musik, unabhängig von der aktualen Verwendung des Begriffes, auch dessen spezifischen Sinn notwendig aufweisen muß, scheint überaus fraglich. Gerade die von Guido von Arezzo im Micrologus gegebene Analogie von "Gesicht des Gesangs" und dem "habitus" der Völker indiziert doch eher den Gebrauch des Körpers im Sinne eines zusammengesetzten Ganzen.

Dann jedoch muß gefragt werden, inwieweit der Begriff noch im eigentlichen Sinne als "Körper" verstanden werden kann und nicht vielleicht durch Synonyme wie "System" ,"Regelkomplex", "Organismus", ja vielleicht gar ganz abstrakt "Gegenstand" ersetzt werden könnte. Der Verdacht der Beliebigkeit wäre dann nicht weit; ein Verdacht, der durch die leichte Auffindbarkeit des Begriffes in disziplinären Nachbardiskursen wie der Buchwissenschaft, Rhetorik oder Staatswissenschaft (vgl. Kapitel 3) nicht eben entkräftet wird.

Während Diehr der Frage nach dem figürlichen oder nicht-figürlichen Gebrauch des Metaphernkreises nachgeht, wird die Möglichkeit, es könnte sich bei diesem Begriff um einen bloßen Platzhalter handeln, einem Begriff nur für zusammengesetzte Objekte, nicht geprüft. Auch die Beschreibung des Musikkörpers als sowohl gegliedert als auch bewegt (vgl. Kapitel 4) könnte diesen Verdacht stützen. "Körper" wäre dann nur ein abstrakter Verständigungsbegriff für ein physikalisches Objekt, ähnlich, wie etwa noch Thomas Hobbes 9 von natürlichen und künstlichen Körpern spricht und damit diesen Begriff hinsichtlich seiner spezifischen und modernen Bedeutung entleert.

Wäre ein solch leerer Begriff jedoch durch andere Begriffe ersetzbar, würde der für die vorliegende Aufgabenstellung relevante Bereich drastisch reduziert. Die Leistungsfähigkeit des Körperbegriffs als Interpretationshilfe sinkt, wenn dieser Begriff überhistorisch als wenig aussagekräftige Universalkategorie, konstruiert wird.

4. Fazit: Interdisziplinarität als Chance

Auch, wenn die durch die anfängliche Nennung der Körperdiskussion geweckte Erwartung hinsichtlich eines Begriffs von Körperlichkeit in der mittelalterlichen Musiktheorie nur von einem Teil des exponierten Materials erfüllt wird, kann Diehr abschließend (und wiederum sehr knapp) konstatieren, daß das Mittelalter auch im Hinblick auf seine Musiktheorie nicht körperfeindlich war. Daß diese Körperfeindlichkeitsthese, allerdings ohne Hinblick auf die Musiktheorie, sowohl von Norbert Elias als auch einem seiner kompetentesten Kritiker, Hans-Peter Duerr, etwas differenzierter vertreten wird, sei dahingestellt. Einen Ausblick auf dieses eher im weiteren Sinne kulturgeschichtlich zu verstehendes Thema muß von Diehr nicht verlangt werden.

Trotz der Schwierigkeit einer genügenden inhaltlichen Spezifizierung der Körperterminologie wurde die in der Einleitung beschriebene Möglichkeit der Subsumierung des allgemein gewachsenem Interesse an Körperlichkeit mit dem Problem von Oralität/Schriftlichkeit ausführlich dargelegt. Gern hätte man noch erfahren, inwieweit Diehr zumindest im Mittelalter eine Substitution der klassischen Autor/Werk-Unterscheidung durch Körperlichkeits- beziehungsweise Kommunikationsphänomene für möglich hält.

Diehr bezieht in seine Studie die Arbeit anderer Disziplinen, vor allem die textwissenschaftliche Mediävistik, ein. Gerade in der abschließenden Detailstudie zeigt der Verfasser Kompetenz auch auf dem Gebiet linguistischer Fragestellung. Und auch, wenn er manche Voraussetzungen nur ungenügend oder zumindest unsystematisch genannt hat, kann er mit einem großen Maß von Methodenbewußtsein den meisten Schwierigkeiten seiner Darstellung begegnen.

Eleganz und Genauigkeit

Bewundernswert bleibt die Eleganz und Genauigkeit, mit der Diehr so konzise und musikwissenschaftlich haltbar Grundbegriffe der Wissenschaft erklärt, die Lesern anderer Disziplinen wahrscheinlich nicht geläufig sind (hier muß auf die Diskussion der rhythmischen Modi Garlandias hingewiesen werden). Genau dieses Methodenbewußtsein, gepaart mit der interdisziplinären Perspektive, benötigt die Musikwissenschaft, wenn sie im Konzert der Geisteswissenschaften weiterhin einen relevanten Platz einnehmen will.


Michael Bastian Weiß, M.A.
Libellenstraße 29
80939 München

Ins Netz gestellt am 13.02.2001

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Anmerkungen

1 Séan Burke: The Death and Return of the Author. Criticism and Subjectivity in Barthes, Foucault and Derrida. Edinburgh 1992, Second Edition 1998, S. 60.    zurück

2 Gilbert Ryle: The Concept of Mind. Reprinted with a new Introduction by Daniel C. Dennett in Penguin Classics 2000, etwa S. 23: "The belief that there is a polar opposition between Mind and Matter is the belief that they are terms of the same logical type". Natürlich betrifft dieser für die sprachanalytische Philosophie so typische Optimismus, eine eindeutige Lösung über den Sprachgebrauch zu geben, weniger das historische Problem, weshalb denn diese Differenz so lange so erfolgreich war.    zurück

3 Gernot Böhme: Leib: Die Natur, die wir selber sind. In: Herbert Schnädelbach/Geert Keil (Hg.): Philosophie der Gegenwart - Gegenwart der Philosophie. Hamburg 1993, S. 219 - 234.    zurück

4 Ryle sieht diesen Dualismus ausdrücklich als "Descartes´ Myth", vgl. dazu das diesbezügliche Kapitel in Gilbert Ryle (2000), S. 13 - 25. Einer ähnlichen Terminologie bedient sich ein naturwissenschaftlicher Autor, der aus der Neurologie kommt. Vgl. Antonio R. Damasio: Descartes´ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, aus dem Englischen von Hainer Kober. München 1997, vor allem S. 328ff. Während Ryle jedoch eine neue Differenz zieht, die sich auf den Sprachgebrauch bezieht, geht es Damasio um die Aufhebung der "abgundtiefen Trennung von Körper und Geist" (vgl. S. 330).    zurück

5 Karl Stackmann hat diesen Geltungsanspruch der teilweise provokativ auftretenden "New Philology" unvoreingenommen untersucht. Zuzustimmen ist ihm in der synthetisierenden Bewegung, in dem er das Neue in das Alte integriert. Vgl. Stackmann, Neue Philologie? In: Joachim Heinzle (Hg.): Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt/M. u.a. 1999, S. 398 - 427.    zurück

6 Diehrs Hauptgewährsmann ist hier Helmut Hucke: Die Cheironomie und die Entstehung der Neumenschrift. In: Die Musikforschung 32 (1979), S. 1 - 16.    zurück

7 Wulf Oesterreicher: Verschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit. In: Ursula Schaefer (Hg.): Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Tübingen 1996, S. 267 - 292, besonders 271ff.    zurück

8 Übrigens wird die Körpermetaphorik in einer viel späteren Epoche für ein anderes Phänomen wieder Attraktivität: für die Beschaffenheit des romantischen symphonischen Orchesters. Vgl. etwa die für breite Leserkreise gedachte Schift Hans Gáls Anleitung zum Partiturlesen (Wien 1923), in der das Orchester als "Organismus" bezeichnet wird (S. 5). Auch hier spielt die durch diese Terminologie mögliche Beschreibung eines Zusammengesetzten als Ganzes eine Rolle ("Bewegung dieser hundert Arme", ebd.). Der mediale Kontext ist freilich nun stärker auf Schriftlichkeit abgestellt, wobei diese mediale Stufe als nachgeordnet begriffen wird: Mit der Partitur, dem Text an sich, solle der Musikfreund nur "unter zwei Augen" verkehren (S. 41).    zurück

9 Thomas Hobbes: Elemente der Philosophie. Erste Abteilung: Der Körper. Übersetzt von Karl Schuhmann. Hamburg 1997.    zurück