Wetzel über Walter: Unkeuschheit und Werke der Liebe

Michael Wetzel

Diskurse über Sexualität


  • Tilmann Walter: Unkeuschheit und Werk der Liebe. Diskurse über Sexualität am Beginn der Neuzeit in Deutschland. (Studia Linguistica Germanica 48) Berlin, New York: Walter de Gruyter 1998. 597 S. Geb. DM 248,-.
    ISBN 3-11-016085-4



Michel Foucaults Thesen zum Verhältnis von Sexualität und Wahrheit in der Moderne sind nicht nur bei Historikern, sondern auch bei Literaturwissenschaftlern auf offenen Ohren gestoßen. Die provokante Behauptung, daß alles Reden über Liebe und Lust diese gerade ausgetrieben habe, trifft die Dichtung natürlich im besonderen Maße. In der von Foucault eröffneten Perspektive solidarisiert sie sich vielmehr mit derjenigen Tendenz der Humanwissenschaften seit dem 18. Jahrhundert, die auf den Begriff der Repressionshypothese gebracht wird, d.h. der diskursanalytisch diagnostizierten Enterotisierung des exponierten Gegenstandsfeldes der Sexualität. In diesem Sinne wird das vor allem in der Literatur der Jahrhundertwende 1900 verstärkte ja wilde Interesse an sinnlichen Leidenschaften suspekt und einer Liaison von Pathologie und Repression des sezierten Objekts Sex geständig.


Mit Foucault in die frühe Neuzeit

Vereinfacht gesehen wäre mit der von Foucault unterstellten Schwelle im 18. Jahrhundert, an der die ars erotica einer scientia sexualis weiche, impliziert, daß in der Zeit davor ein ungebrochenes Lustleben poetisch sagbar gewesen sei. Die Literaturgeschichte hat dieser umgekehrten Perspektive weniger Aufmerksamkeit geschenkt und mehr die repressiven Konsequenzen der neueren Entwicklungen analysiert. Daher ist die große Studie von Tilmann Walter in der Tat ein Novum, wagt sie sich doch in die Frühzeit der literarischen Moderne vor, wo diese eigentlich noch gar nicht modern und doch schon progressiv gegenüber den mittelaterlichen Wertemaßstäben einer katholischen Glaubendogmatik ist. Es geht mithin um die Untersuchung des semantischen Stellenwertes des Begriffs von Sexualität in der historisch brisanten Epoche des 15. und 16. Jahrhunderts, brisant, nicht nur, weil an dieser Jahrhundertwende der für die Neuzeit so bedeutsame Prozeß der Reformation beginnt, sondern auch, weil in diese Zeit die Neudefinition des untersuchten Textmaterials als Druckwerke durch das neue Medium des Buchdrucks fällt.


Reden über Sexualität

Walters Arbeit berücksicht all diese Aspekte und versteht sich dabei genau genommen als Diskursanalyse und nicht als realhistorische Untersuchung. Entsprechend liegt ihr Tenor auf den Textstatus der Gegenstände, wobei drei Gattungen bestimmend sind:

  • theologische Abhandlungen
  • Dichtungen im poetischen wie erbaulich unterhaltenden Sinne
  • medizinische Fachliteratur

Zwischen allen dreien versucht der Autor im Sinne Foucaults ein Referenzverhältnis herzustellen, wobei die konkreten Texte im Vordergrund stehen und ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Diskursen eher einen abstrakten Bedeutungshorizont markieren. Dennoch bekennt sich der Autor insofern uneingeschränkt zu Foucaults Methode der Diskursanalyse, als es auch ihm nicht um den Wandel z.B. der Erkenntnis von biologischen Wahrheiten geht, sondern um die Rekonstruktion des Redens über Sexualität, in dem sich alles Biologische in soziale Übereinkünfte mit ihrer kultur- und zeitgebundenen Spezifität auflöst.

In diesem Sinne wird Foucaults "Fröhlicher Positivismus" zitiert, aber auch Foucault hat - wie viele andere Theoretiker des Feldes - sich vorwiegend auf die Analyse von normativen Vorstellungen von Experten beschränkt. Hier geht Walter mit seinem Vergleich der drei Textgattungen weiter, indem er nicht nur die präskriptiven Texte der Theologie analysiert, sondern auch die deskriptiven Dispositive der Humanwissenschaften und vor allem die spielerisch fingierenden Produkte der Dichtung gewissermaßen komparatistisch heranzieht. Im Grunde genommen geht es in der beleuchteten historischen Umbruchphase, in der die starren Ordnungen sich auflösen und durch die protestantische Streitkultur und die vom Buchdruck geschaffene Öffentlichkeit ins Fließen geraten, immer wieder um eins: nämlich die Findung des rechten Maßes zwischen orthodoxer Erstarrung und libertärer Ausschweifung.


Theologische Abhandlungen

Natürlich nutzt auch die katholische Moraltheologie das neue Medium Gutenbergs zum Zwecke der Propagierung ihrer katechetischen Abhandlungen, in denen jedoch anders als in der evangelischen Botschaft die bedingungslose Unterwerfung unter die Autorität der Kirche gepredigt wird. Sexualität steht hier allein unter dem Diktat der Fortpflanzung, d. h. ist als voreheliches Phänomen undenkbar - außer im Register der Kardinalsünden. Jungfräulichkeit, Ehe und Blutsverwandtschaft sind gewissermaßen die Orientierungsgrößen einer Rede von körperlichen Praktiken, die jenseits der spirituellen Reinheit gradlos in Sodomie übergehen. Deren Erscheinungsformen sind jedoch - wie im Buch an unterschiedlichen Beispielen demonstriert wird - sprachlich ebensowenig differenziert wie die Möglichkeiten einer Sprache der Zärtlichkeit. Erst Luther durchbricht diesen prokreativen Zwangszusammenhang, indem er Sexualität und Begierde zu anthropologischen Grundbedingungen der Ehe und Elternliebe erklärt, die nur unter den abweichenden Umständen des Mißbrauches einer Sündhaftigkeit anheimfallen.


Spielcharakter der Literatur

Hier ist der Einsatzort der Literatur, die zunächst einmal im Schutze der dichterischen Freiheit die Grenze zwischen Gesetz und Übertretung vermessen kann. Walter wendet sich in diesem Sinne den drei Motivkomplexen des Erotischen, Obszönen und Pornographischen in der Dichtung zu, wobei ihn auch hier vor allem die textlichen und argumentativen Strategien der Rechtfertigung des ethischen Standpunktes zu Fragen des Sexuellen interessieren. Untersucht werden Prosadichtungen, Mären, Reimpaarschwänke des 15. und 16. Jahrhunderts, die vorwiegend in der Tradition der französischen Fabeln und italienischen Novellen (im Stile Bocaccios) sowie der deutschsprachigen späthöfischen Kleinepik stehen und also auch für das frühe Nürnberger Fastnachtspiel andere Quellen reklamieren als nur die des jahrhundertealten Volksbrauchtums.

Ob man nun aber die Werke von Hans Folz, von Johann Fischart oder das von Johann Hartlieb ins Deutsche übersetzte Traktat De Amore des Andreas Cappelanus heranzieht, so fällt auf, daß neben einem moralisch belehrenden oder nützlichen Tonfall auch Passagen voller fäkaler Zoten und obszöner Anspielungen auftauchen. Diese moralische Widersprüchlichkeit erklärt sich aus dem Spielcharakter des literarischen Umgangs mit dem Thema, der sich in rhetorischen Strategien der Satire Bahn bricht und mit seinen detaillierten Beschreibungen der Genitalienbereiche und der Belustigung über Erscheinungsformen sexueller Erregung nicht unbedingt den Anspruch einer Aufklärung der Geheimnisse körperlicher Liebe verfolgt. Dennoch bleibt auch die dichterische Feier der "Buhlschaft" der Entscheidung zwischen schlechter und guter Buhlschaft, der Frage nach dem rechten Maß verpflichtet: die Satiren über den unter dem Joch des Zölibats leidenden und zum Sexmonster entartenden Mönch dienen ebenso wie die entscheidende Differenz zwischen weiblicher Züchtigkeit und Frigidität oder die Verurteilungen der Eheschließung zwischen altermäßig stark divergierenden Partnern einer "libidinalen Ökonomie" (Lyotard) der Kleinfamilie als Keimzelle der Prokreation.


Medizinische Literatur

Auch die Moral der erbaulichen und unterhaltenden Literatur folgt einer Ökonomie des "Ganzen Hauses" als Gleichgewicht zwischen der Vorstellungen von Ehe und der Naturalwirtschaft. Der dritte, eigentlich tragende Pfeiler des diskursgeschichtlichen Dispositivs von Sexualität jener Epoche ist aber die medizinische Literatur, die im wesentlichen der antiken Theorie eines Gleichgewichts der Säfte folgt. Hier findet der protestantische Einspruch gegen die negativen Folgen einer Enthaltsamkeit ebenso wie gegen sexuelle Verausgabung seinen physiologischen Widerhall. Es geht gerade darum, jedes Übermaß zu vermeiden, wobei die zeitgebundenen Sprechweisen über die sexuellen Leidenschaften nicht zuletzt vor dem Hintergrund der damaligen Epidemien von Pest und Syphilis ein mythisch dämonisiertes Bild von ihrem Gegenstand zeichnen. Walter analysiert die textuelle Produktion eines Bildes vom weiblichen Geschlecht, dessen anatomische Details genauso wirklichkeitsfremd sind wie die Beschreibungen geschlechtlicher Leidenschaft, denen z.B. die Kategorie des Orgasmus völlig unbekannt ist.


Gelungener Einblick in die Genealogie des Diskurses über Sexualität

Dem Autor gelingt es so, ein facettenreiches Bild von der untersuchten Epoche zu entwerfen, das sich von allen Hypostasierungen fern hält und allein auf die textuellen Zeugnisse der zeitgenössichen Einbildungskraft rekurriert. Er liefert damit ein Stück diskursgeschichtlicher Analyse, das sicherlich auch im Sinne des früh verstorbenen Foucaults gewesen wäre und die Aufmerksamkeit weg von den großen Epochen der kulturgeschichtlichen Entfaltung einer Rede von Liebe, Lust und Leidenschaft und hin zu den molekularen Diskursen der geheimen Lüste einer Frühzeit lenkt, die manche Tendenz der erotischen Moderne noch in der Frische ihrer Entstehungsphase zeigt und somit einen neuartigen Einblick in die Genealogie der gegenwärtigen Rede von der Sexualität gewährt.


PD Dr. Michael Wetzel
Universität Gesamthochschule Kassel
Wissenschaftliches Zentrum II
Gottschalkstraße 26
D-34109 Kassel

Ins Netz gestellt am 27.09.2000

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