Wetzel über Wehde: Typographische Kultur

Dirk Wetzel

Die Sprache der Typen

Kurzrezension zu
  • Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 69) Tübingen: Niemeyer 2000. 496 S. Kart. DM 146,-.
    ISBN 3484350695


Schrift ist immer mehr als nur die Codierung von Phonemen. Die Anmutung eines Schriftzeichen hat eine zusätzliche informative Wirkung auf den Leser: sie beeinflußt die Erwartungshaltung an den Text und damit seine Rezeption. Sie kann die Mitteilungsintention des Autors unterstützen, aber auch stören. Die Gestalt der Schrift vermittelt immer zusätzliche Bedeutungsinhalte, vergleichbar mit der Mimik und der Sprachmelodie eines Sprechers.

Was für die individuelle Note einer Handschrift gilt, mit der man Rückschlüsse auf den Charakter des Schreibers zieht, gilt auch für typographische Texte, bei denen die Zurechnung aber offenbar auf die Gesellschaft erfolgt. Der Gesellschaftsbezug wird schnell einsichtig, wenn man bedenkt, daß für eine Privatperson bis vor wenigen Jahren der Druck von typographischen Zeichen – sieht man einmal von der Schreibmaschine ab – schon aus ökonomischen Gründen weitgehend unüblich war und Drucksachen in der Regel über eine gesellschaftliche Instanz (Verlage, Ämter etc.) publiziert wurden.

Typographische Schrift folgt einer Standardisierung, die sich am ästhetischen Geschmack einer Epoche orientiert. Erst heute, im Zeitalter der True Type Fonts und der Tintenstrahldrucker, mit denen jedermann in der Lage ist, Druckschriften zu produzieren, beginnt dieses Differenzierungsmuster teilweise an Kontur zu verlieren.

Semiotischer Unterbau zur Typographie

An der gesellschaftlichen Referenz von Typographie setzt Susanne Wehdes Arbeit an. Sie möchte den bisher rein ästhetisch beschreibenden Theorieansätzen, wie sie von Schriftgestaltern wie Aicher, Tschichold etc. geleistet wurden, einen zeichentheoretischen Unterbau für typographische Kultur zur Seite stellen, der die Voraussetzungen für Semantisierungsprozesse von typographischen Formen und deren Regelhaftigkeit erklären könnte.

Dies soll, ausgehend von allgemeinen semiotischen Theorien, vornehmlich von Peirce und Eco, anhand einer Analyse der typographischen Praxis im 19. und 20. Jahrhundert vorgenommen werden.

Basierend auf dem Begriffspaar denotativ und konnotativ wird unterschieden zwischen Inhalt und Ausdruck, bzw. zwischen lexikalischen und assoziativen Schriftcodierungen. Typographie wird als konnotatives Zeichensystem beschrieben, das sich autonom zu den denotativen Systemen lexikalischer Zeichen und kultureller Inhalte entwickelt, wenngleich beide Systeme nicht autark voneinander existieren können. Jede schriftliche Mitteilung muß durch eine konnotative Semantik zum Ausdruck gebracht werden, und umgekehrt wird die konnotative Semantik vom Kontext der Erwartungsmuster der jeweiligen denotativen Sinnsysteme bestimmt.

Eine solche Semantik der Typographie kann sich grundsätzlich an allen Unterschieden des Layouts festmachen: angefangen von der Plazierung jeder Einzeltype auf dem Druckbogen, dem Duktus einer Schrift bis zum Verhältnis von Weißraum und Grauwert des Textteils. Das Zusammenspiel aller dieser Parameter liefert eine spezifische Syntax der Typographie, die zusätzlich zum denotativen Inhalt "gelesen" werden muß.

Heterogenes Konzept

Doch das Desiderat, die Regelhaftigkeit der typographischen Kultur zu extrahieren, wird von Susanne Wehde zwar als forschungsleitendes Ziel ihrer Arbeit aufgeführt, ihren eigenen Beitrag sieht sie aber eher in der problementfaltenden Vorarbeit denn in einem konkreten Lösungsansatz und merkt an, die Studie sei "bewußt heterogen angelegt", "eine Mischung aus thesenhaften Generalisierungen und historischer Differenzierung", die zu "selektiver Lektüre ein[lädt]" (S. 19).

Diese Vorgehensweise hinterläßt beim Rezensenten ein gemischtes Gefühl. Auf der einen Seite hat die Autorin mit viel Akribie ein äußerst beachtliches Handbuch zur Typographie geschrieben, bei dem es schwerfällt, überhaupt kritische Töne anzuschlagen, wenn man es an den Erwartungen mißt, die man an ein Handbuch oder ein Grundlagenwerk zu stellen hat. Bis ins kleinste Detail werden typographische Formen und Wirkungen dokumentiert und mit den zugehörigen Fachtermini versehen. Hier ist vor allem die zeichentheoretische Reformulierung der Phänomenbeschreibungen zu würdigen, mit der sich die Arbeit von den üblichen ästhetischen Beschreibungen der Typographen abhebt.

Auf der anderen Seite hat Wehde das Buch nach eigenen Angaben aber ausdrücklich nicht als Handbuch konzipiert. Und wenn man sie beim Wort nimmt, bleibt der latente Verdacht, daß die großherzige Einladung zur selektiven Lektüre ein bißchen von der fehlenden konzeptionellen Stringenz der Arbeit ablenken soll, die dann zu attestieren wäre.

Über weite Strecken ist die Ausarbeitung überwiegend ein Literaturbericht – ein hervorragender zwar, der viele unterschiedliche Literaturquellen und Ideen zusammenführt –, aber es fehlte dann die neuentwickelte Grundhypothese, die sich durch die Arbeit hindurchzöge und am Ende mit einem Ergebnis gewertet werden könnte, ja es gibt nicht einmal irgend eine andere Konklusion oder ein Fazit. Das Buch endet unvermittelt bei Punkt 7.6.3.3.

So ist es ein wenig bedauerlich, daß die Autorin lediglich die >Aussaat< übernimmt und die >Ernte< anderen überläßt. Es wird zwar dargelegt, daß sich die Theoriebausteine von Peirce, Eco und anderen heranziehen lassen, um typographische Phänomene und ihre Funktionalität zu beschreiben, aber es bleibt offen, wie sich aus der Theorie eine generalisierte Regelhaftigkeit typographischer Kultur, also ein Meta-Modell konstruieren läßt.

Frakturstreit und Avantgarde

Der an zwei Hauptthemen fixierte historische Teil der Arbeit (rund die Hälfte des Buches) tröstet allerdings über diesen konzeptionellen Schönheitsfehler hinweg. Gerade anhand des ersten Themas, dem epochenübergreifenden Schriftstreit über die Verwendung von Fraktur- und Antiqua-Schriften, deren gesellschaftliche Konnotation besonders ausgeprägten Umwertungen ausgesetzt war, lassen sich einzelne Theoriebausteine besonders eindrucksvoll testen.

So beginnt die konnotative Differenzierung der deutschen Fraktur zur lateinischen Antiqua in der frühen Neuzeit, als sich die reformatorische Literatur durch Fraktursatz von den Schriften der lateinischen Kirche abgrenzen wollte.In der Aufklärung indes galt die Fraktur zeitweise als dem neuen Zeitgeist nicht angemessen, während die Antiqua als Repräsentant einer paneuropäischen Ausdrucksform angedacht wurde.Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bevorzugte man die Fraktur wiederum als Ausdrucksmittel einer patriotischen Gesinnung. Interessanterweise wird die Fraktur aber ausgerechnet von den Nationalsozialisten nicht mehr verwendet, wohingegen heute Frakturschriften politisch mit nationalsozialistischem Gedankengut assoziiert werden.

Das zweite historische Thema behandelt die Kunsttypographie zwischen 1890 und 1930, einer Zeit, in der viele avantgardistische Künstler und Schriftsteller die Typographie als Gestaltungsobjekt und Ausdrucksmittel entdeckten (Stichwort: Dada) und die konventionelle gesellschaftliche Konnotation typographischer Dispositive förmlich >auf den Kopf< stellten. Hier bieten sich breite Ansatzpunkte, die Funktionalität konnotativer Semantiken der Typographie zu analysieren.

Zusammenfassend läßt sich die Studie von Susanne Wehde als neues typographisches Standardwerk würdigen, zumal sie keineswegs auf die Semiotik fixiert ist und sich geradezu als Bindeglied für zukünftige theorieübergreifende Schriften eignet, die das Thema Typographie aufgreifen werden.


Dirk Wetzel
Universität Erlangen-Nürnberg
Buchwissenschaft
Harfenstr. 16
D-91054 Erlangen

Homepage

Ins Netz gestellt am 30.01.01

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Prof.Dr. Ursula Rautenberg.

Sie finden den Text auch angezeigt im Portal LR - Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]