Willems über Pfister / Zweifel: Dialektische Liebschaften

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Thomas Willems

Dialektische Liebschaften

  • Michael Pfister / Stefan Zweifel: Pornosophie & Imachination. Sade LaMettrie Hegel (Batterien; 68) München: Matthes & Seitz 2002. 283 S. / 20 Abb. Geb. EUR (D) 34,-.
    ISBN 3-88221-836-3.


"Wir haben das Glück, ein Werk zu kennen, über dessen Grenzen sich hinauszuwagen keinem Schriftsteller zu keiner Zeit gelungen ist; wir haben also in gewisser Hinsicht in dieser so überaus relativen Welt der Literatur ein wirkliches Absolutum zur Hand und suchen nicht, es zu befragen?" 1

Michael Pfister und Stefan Zweifel vermessen in ihrer von der Universität Zürich angenommenen Dissertation Pornosophie & Imachination die inneren Grenzen und Tiefenschichten des literarischen >Absolutums< de Sade und befragen es mit La Mettrie und Hegel, wobei sie in der Tradition der Pornosophie kein "Blatt vor den (Mutter-) Mund" (S. 10) nehmen.

In der "porneutischen Vorbemerkung", die diskret über Methode, Intention oder Zielsetzung der Verfasser schweigt, wird der Diskurs der Pornosophie als "Zwittergattung porno-philosophischer Bücher" (S. 9) genealogisiert, die aus der "gefährlichen Liebschaft" zwischen "philosophischer Hochaufklärung" und "erotischer Aufklärung von unten" (S. 10) hervorgegangen sei; aus der Kreuzung von Voltaires Dictionnaire philosophique mit Clelands Fanny Hill oder Rétif de la Bretonnes Pornographe mit Rousseaus Contrat Social. Der Höhepunkt des doppeldeutigen Genres der Pornosophie sei de Sades Hauptwerk Justine und Juliette 2, das Pfister / Zweifel als erste vollständige deutsche Edition in zehn Bänden neuübersetzt und herausgegeben haben.

Darin, so die Quintessenz der Herausgeber, "vervollkommnet Sade sein Weltverständnis, das auf kosmologischer Ebene die ewige Bewegung der Materie, auf der politischen die permanente Revolution der Gesellschaft und in individuell-moralischer Hinsicht die treibende Kraft der menschlichen Triebe zum Zentrum hat; alles in allem ein beinahe unentwirrbares Gespinst von Ratio und Eros." 3 Hinter dieser Hochzeit von Vulva und Geist – die es beide zu öffnen gelte – stecke die pornosophische Überzeugung, dass die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit durch die sexuelle Aufklärung vorbereitet werden müsse. Die kritische Stoßrichtung der Werke des Goldenen Zeitalters der Pornosophie (1650–1800) richte sich gegen Kirchenmoral und Obrigkeit, wobei die acht Jahre nach der Kritik der reinen Vernunft erscheinende Philosophie im Boudoir laut Lacan "die Wahrheit der Kritik" 4 ausspreche.

De Sade (1740–1814), so Pfister / Zweifel, treibe die Intellektualisierung der Erotik sowie die Erotisierung des Intellekts auf die Spitze und bringe den Phallo-Logozentrismus seiner Epoche in jenem Bild auf den Punkt, wo einer seiner Heldinnen ein Phallus im Gehirn wächst: "Ich ficke, also bin ich" (S. 10), lautet die Pop-Moderne Formel, bei der "die cartesianische Evidenzerfahrung ins Fleisch verlegt" wird. Dagegen scheint der kreative Gedankenstrom der Verfasser einem wilden Denken zu entspringen, das inhaltlich von der "Hirnbrünstigkeit der Aufklärung" über die "Schwelle der Moderne" zum "Gipfel der Negation" fließt, um gegen Ende ins "Reich der bösen Imagination" zu münden, wo sich das Subjekt schließlich auflöst.

Surmoralisches

Schon diese ersten "surmoralen" Gedankenstriche zeigen, dass Pfister / Zweifel de Sades karnevaleske Texte jenseits von Gut und Böse unterlaufen, übertönen, travestieren und ein provokatorisches Spiel mit ihnen treiben. Als Kronzeuge dient ihnen dabei de Sades "Lehrmeister" Julien Offray de La Mettrie (1709–1751), einer "der größten Materialisten aller Zeiten" (Max Horkheimer), der ebenso wie de Sade kein starres Gedankensystem proklamiert, sondern Denkexperimente am offenen Textkörper durchführt, so dass die Stil- und Philosophievielfalt dieser Autoren im Versuch alles zu sagen die Autorität der Vernunft untergräbt. In dem Moment, wo das Verschwiegene, Verdrängte, Hässliche, Ekelerregende und die tiefsten Abgründe der menschlichen Begierde an die Oberfläche des Bewusstseins kommen, "wird die enzyklopädische Vernunft von ihrem eigenen Wahnsinn erfasst..." (S. 16) und der Diskurs der Klassik gelangt an sein Ende. 5

Wurden La Mettries polyphone Texte in der ideengeschichtlichen Tradition bisher meist durch die Brille der Naturwissenschaften gelesen und als Anregungen für Marx und Engels interpretiert, so "erweitern" Pfister / Zweifel die verkürzte philosophische Lesart vom "Maschinenmenschen" um den Begriff der La Mettrieschen Imagination, die als "automatische" (selbstbewegte) Instanz, alle Geisteskräfte unter sich fasst und "ohne Kontrolle durch einen Maschinisten immer neue Vorstellungen und Ideen, Bilder und Maximen" fabriziert, "was in eine zunehmende Auflösung aller philosophischen Konzepte und natürlich der Moral mündet." (S. 21)

Schließt man dieses Konzept der Imagination mit de Sades "auf den ersten Blick rein mechanizistisch wirkender Erotik" (S. 21) kurz, entsteht eine "Doktrin der Imachination", in der das unbeherrschbare Spiel der Einbildungskraft die alles beherrschende kalte Vernunft zum schmelzen bringt. Ziel ist dabei nicht der Mensch als Maschine, sondern der erotische Textkörper, eine Textmaschine, die unsere Wahrnehmung erweitert und die Phantasie von den gesellschaftlichen Zwängen befreit.

Ebenso wie de Sades La Mettrie-Rezeption keine wissenschaftlich-objektive ist, scheint auch Pfister / Zweifels de Sade-Rezeption vom Lustprinzip geleitet, nur dass de Sades "récriture"-Strategie – das Um-, Ab- und Weiterschreiben fremder Texte in den eigenen – produktionsästhetische Spuren hinterlassen hat, denen die Verfasser nun nachspüren und die sie spielerisch (um-)zudeuten versuchen. Demnach sei es de Sades Eigenart gewesen, durch seinen einseitig-obsessiven Blick verborgene Tendenzen im Werk La Mettries aufzuspüren, diese durch manipulative Eingriffe zu verschärfen, um in einem obszönen Akt der Enthüllung zu zeigen, was hinter dessen Denken verborgen lag.

So setzt sich de Sade mit seinem Gedicht "Die Wahrheit (gefunden in den Papieren La Mettries)" (S. 69 ff), die Totenmaske seines Lehrmeisters auf und wandelt dessen agnostischen Skeptizismus in einen radikal-blasphemischen Nihilismus um. Er verkündet in La Mettries Namen, dass der Mensch von Natur aus schlecht sei und das Laster von der Natur erwünscht. Gleichzeitig treibt er mit seiner einseitigen La Mettrie-Lektüre die Dialektik der Aufklärung auf die Spitze, indem er durch exzentrische Abweichung und entgrenzende Heterogenität den homogenisierenden Systemzwang der Aufklärung sprengt und deren dunkle und verdrängte Seite beleuchtet. Diese radikale Weitertreibung des aufklärerischen Denkens mündet schließlich im literarischen Triebverbrechen, wie es de Sades Werk repräsentiert.

Die Schule der Souveränität

In seinem Text Justine und Juliette, so Pfister / Zweifel, lasse de Sade den Autor mit verschiedenen Stimmen sprechen (S. 93), um den Leser von seinen Glauben an dessen Autorität zu erlösen. Indem de Sade diverse stilistische Gattungen und sprachliche Stilmittel verkuppele, könne der Leser in der Polyphonie des Textes seine eigenen Vorstellungen einfließen lassen und so seine philosophische Souveränität erkennen. Gleichzeitig entfalte sich durch die jede normative Sexualität sprengende Aufwertung "individueller Abartigkeiten" (S. 94) auch die erotische Souveränität des Lesers. De Sade lüfte alle sprachlichen und philosophischen Schleier, wozu ihm die Ironie diene, in die sich schon La Mettrie gehüllt hatte, um seine wahren Gedanken zu verschweigen.

Pfister / Zweifel führen aus, dass sich de Sade auf La Mettrie berufen habe, um seiner eigenen "Erotik des Isolismus einen Anstrich von Autorität zu verleihen: Fontenelles These, sexuelle Liebe komme ohne gegenseitige Befriedigung und Zartgefühl aus, >findet sich auch bei Montesquieu, Helvétius, La Metrrie usw. und wird stets die Ansicht jedes wahren Philosophen sein.<" 6 (S. 109) Für de Sade steht die Einbildungskraft über der Realität, weil sie einen Ausweg aus dem Ekel darstellt, der auf alle Orgien folgt, wohingegen in La Mettries Erotikkonzeption die Imagination der Lust vorausgeht und mit der Fähigkeit zur Liebe verbunden bleibt. 7 La Mettrie distanziert sich zwar ausdrücklich von den obszönen Werken bestimmter Schriftsteller, doch unterstellen ihm Pfister / Zweifel ein "ironisches Doppelspiel"
(S. 111) , da er die obszönen Autoren zwar offiziell verurteilt, ihnen aber insgeheim eine größere Wirkung auf die Sinne zugesteht als der Libertinage. So stelle sich schließlich die Frage, ob hinter La Mettries "Metaphysik der Zärtlichkeit" nicht die "wahren Männerphantasien" (S. 112) verborgen lägen und ob er nicht mehr Freude am Exzess hatte, als er zugeben wollte.

Was der Pornosoph de Sade andererseits vom Erotiker La Mettrie gelernt habe, sei das kokette Spiel von Enthüllung und Verschleierung, denn – so zitiert de Sade La Mettrie – "vieles lässt sich trefflicher ausdrücken, indem man es verschweigt (schreibt la Métrie [sic] irgendwo); man reizt die Begierde, indem man die Neubegierde des Geistes auf einen teilweise verhüllten Gegenstand lenkt, dessen Geheimnis man nur erahnen kann, wiewohl man sich damit brüsten möchte, es zu lüften." 8 (S. 124) Dabei verschleiert de Sade, dass seine La Mettrie-Lektüre vor allem von seinen eigenen Leidenschaften gesteuert wird und sich seine Vernunft ebenso maskiert wie die seines Lehrmeisters. Der Hintersinn von de Sades pornographischer Maskerade ist die Abtreibung der bürgerlichen Vorstellungen von Erotik, damit er als Pornosoph zum wahren Erotiker werden kann, wenn die Erotik das ist, "was das Sein in uns in Frage stellt" (George Bataille).

Aus diesem Grund evoziert de Sade im rhetorischen Kostüm seiner Zeit die unästhetischsten Gegenstände und reißt damit einen Abgrund zwischen Form und Inhalt auf, in die hinein er die Boileauschen Spielregeln des 18. Jahrhunderts stößt. Am Horizont der philosophisch ausschweifenden Abhandlungen offenbart sich eine "neue Sprache der Erotik", 9 die Pfister / Zweifel in Anlehnung an Roland Barthes als "Metasprache der Erotik" bezeichnen. Kein Loch und keine Leerstelle dürfen im Textkörper offen bleiben, während die grammatikalischen Subjekte und Objekte im Satzgefüge ihre Stellung wechseln wie die Orgienteilnehmer im Pornogramm.

Akrobatischen Stellungsspielen folgen akrobatische Gedankenexperimente, wie sexuellen Entladungen rhetorische folgen, bis zuletzt alle Valenzen der (Körper-)Sprache gefüllt sind und sich das Thema erschöpft hat, damit die nächste (Sprach-)Orgie beginnen kann. Ziel dieser endlosen Wiederholungen, sei es, die "Widerstände der Leser [...] durch stetige Erosion" (S. 100) zu brechen, um sie in die eigenen Abgründe blicken zu lassen und sie durch das Medium der Sprache ins grenzenlose Reich der Imagination, das heißt, der absoluten Souveränität einzuführen.

Der sado-masochistische Textkörper

La Mettries und de Sades Verwirrspiel mit verschiedenen Denk-, Sprech- und Schreibstilen äußert sich in einer Vielzahl oszillierender Positionen, in denen Hegel bei der Lektüre von Diderots Neveu de Rameau ein Merkmal der durch die Aufklärung notwendig eintretenden Entfremdung erkannte (S. 135). Dieser Ausdruck des "zerrissenen Bewusstseins", dem es unmöglich ist, eine bestimmte Position einzunehmen, führt zur Verkehrung, so dass alles Gesagte sein Gegenteil bereits in sich trägt. Pfister / Zweifel erkennen darin den Kern der La Mettrieschen Ironie – einer Vorläuferin der romantischen Ironie im Sinne Schlegels (S. 136) –, womit sie sich einen interpretatorischen Freischein ausstellen, da auch sie das Gesagte oder dessen Gegenteil aus den Texten heraus- oder in sie hineinlesen.

Hegel nimmt hierbei eine Vermittlerposition zwischen der These La Mettrie und der Antithese de Sade ein, durch die beide Positionen in der Ironie dialektisch aufgehoben werden und beliebig gegeneinander ausgespielt werden können. Ebenso wird Hegels Begriff der Anerkennung mit Kojève interpretiert und die Hegelsche Herr-Knecht-Konstellation von Pfister / Zweifel in einer sadomasochistischen Struktur gespiegelt, wozu ihnen Pauline Réages Geschichte der O dient. Während der Knecht bei Hegel dem Teufelskreis der Begierde durch Arbeit entkommen kann, verliert er bei de Sade die anerkennende Instanz, wenn er sich von seinem Herrn lossagt. Um diesem "Dilemma" zu entkommen und die erstarrenden Machtverhältnisses zu durchbrechen, lässt de Sade Herren und Knechte in seinen Texten die Rollen tauschen. Auf de Sades sadomasochistische Schreibpraxis übertragen bedeutet das, dass es innerhalb des de Sadeschen Schreibens aufgrund der Verwendung von aufklärerischen und gegenaufklärerischen Texten zu paradoxen Passagen und sadomasochistischen Momenten kommt, in denen sich im Sinne Hegels erotische Herr-Knecht-Verhältnisse einstellen.

Die Helden peitschen aus und lassen sich auspeitschen und loben sowohl die Revolte als auch die Tyrannei. Diese "Ästhetik des Widerstreits" (S. 163) korrespondiert auf der produktionsästhetischen Ebene mit der sadomasochistischen Strategie der >récriture<, durch die sich de Sade einerseits dem fremden Text unterwirft, ihn andererseits aber gewaltsam verändert und bis zur Dekonstruktion radikalisiert. De Sade spielt in dieser dialektischen Maskerade eine schreibende Doppelrolle, deren "secret" als Ausfluss und Geheimnis bezeugt, dass er Justine und Juliette, Henker und Opfer in einer Person ist. Hinter der "Ästhetik des Widerstreits", die im Rachen des doppelköpfigen Textmonsters "Juliette und Justine" schlummert, materialisiert sich das Phantasma im Wunsch, alles zu sagen.

Dieses "alles", das nach Bataille alles das zur Sprache bringt, was in der Kultur verschwiegen wird – die Gewalt, die Lust und das Böse – äußert sich im Lachen und im Schrei. Das Lustgeheul der Libertins und der Schmerzensschrei der Opfer sind zwei Seiten desselben "Sprachspiels", wobei der physische Anlass der Schmerz / Lust identisch sein kann. 10 De Sade zeigt damit einerseits, dass "das Gebiet der Erotik im wesentlichen das Gebiet der Gewaltsamkeit, der Vergewaltigung ist" 11, andererseits macht er im Nebeneinander von "erotischer Gewalt" und intellektuellen Diskursen über sie sichtbar, wie tief die Gewalt in der bestialisierten "Tierart Mensch" (S. 202) verankert ist.

Im Reich der Imachination

Im letzten Teil des Buches führt der "Widerstreit von Vernunft und Imagination" auf ästhetischer Ebene zur "Inthronisierung der Phantasie" (S. 167). Nach La Mettrie funktioniert die Imagination automatisch und fabriziert immer neue Vorstellungen, Ideen, Bilder und Maximen, was in einer zunehmenden Auflösung aller philosophischen Konzepte und der natürlichen Moral mündet. Sein Begriff der >machine<, den er zum Leitbegriff seiner polemischen Aufklärung macht, kommt – wie La Mettrie selbst – von der Medizin her und ist eine durchgängige Bezeichnung für den menschlichen Körper (S. 189), der aus selbsttätigen Binnenmaschinen zusammengesetzt ist und einer "Mechanik der Lust" unterliegt. De Sades
(Schreib-) Maschinenmetapher befeuert zudem die ungebundene Lust der freien Imagination, transformiert Sexualität in Schrift und erhitzt so die Gemüter.

Die spielerische Kopplung von Imagination und Maschine befreit den Menschen als >Imachination< aus der Welt der Tatschen, indem eine "absolute Poesie des Gehirns" (S. 173) erzeugt wird, die den Menschen gegen die Ideologie- und Religionsmaschinen schützt. Entsprechend wird in Juliette und Justine eine Gottesmaschine, die zur Verblendung der Menschen dient, in eine nützliche Orgienplanungsmaschine umfunktioniert. Im Reich der Imachination, in dem alles erlaubt ist und alles gesagt werden darf, besteht der "Sade-Effekt" 12 darin, die Text-Maschine darauf zu programmieren, alles zum Ausdruck zu bringen, um die vermeintlich gesicherten Überzeugungen und Wertsysteme des Lesers zu zerstören und das Subjekt zu spalten.

Die zeichensetzende Argumentations- und Todesmaschine begräbt den Leser unter der Textmasse und macht aus dem Roman ein Folterinstrument, das sich ins Gedächtnis einschreibt oder dessen Phantasien austreibt, so dass der Leser zum Komplizen des Bösen wird und sich (ihm) die Frage stellt, ob das Böse nur im Text oder auch in uns existiert. Gleichzeitig führt die Imachination in den (a)politischen Raum, wo sie, ohne Stellung zu beziehen, die Verabsolutierung einzelner Prinzipen negiert und für die Abschaffung aller Gesetze plädiert (bis auf eines, das vor den Repressionen des Staates schützt und dem Individuum erlaubt, seine Eigenheiten auszuleben). Da de Sade jedoch gleichzeitig alle Formen öffentlicher Gewalt karnevalistisch inszeniert, entlarvt er die Machtgelüste sexueller Triebe und verortet die Leidenschaft der politischen Haltung in der Triebstruktur des jeweiligen Anführers als "unumschränkte Befriedigung seiner Gelüste." 13 Die "Politik" de Sades entpuppt sich so in letzter Konsequenz als Politik der "crise" 14 (S. 84), die unmittelbar ins mediale "Theater des Terrorismus" 15 unserer Tage führt.

Interessant an diesen "heterologen" (Bataille), zitatreichen und gegen Ende diffuser werdenden und sich wiederholenden Ausführungen Pfister / Zweifels ist die Übertragung der Maschinenmetapher auf die Romanfigur Justine, die als "Femme machine" (S. 206) einen Gegenentwurf zu Rousseaus restriktivem Keuschheitsideal im Emile darstellt. Während Rousseaus pessimistische Bewertung der Sexualität einen fremd- und selbstunterdrückenden Tugendbegriff preise, setze de Sade diesem in der Figur der Justine das "Prinzip Lust" entgegen, so dass Pfister / Zweifel de Sades Werk unter "Vorbehalt zahlloser mysogyner Stellen" (S. 208) fortschrittlich-feministische Aspekte attestieren. Justine sei die emanzipierte Frau par excellence, da sie die "patriarchalen Machtverhältnisse doubliert" (S. 209), die Herrschaftsstrategien demaskiert und ihre Lust in die eigene Hand nimmt.

Neben diesen feministisch-imachinativen Momenten zeichnen Pfister / Zweifel auch die Traditionslinie des de Sadeschen Denkens nach, das mit seiner Ästhetik des Hässlichen und seiner Anti-Ethik zur Fundgrube und Projektionsfläche der Autoren des Dandyismus, der Dekadenz und jeglicher Avantgarde wurde. Baudelaire, Flaubert, Barthes, Bataille, die Dada- und die Surrealisten, sie alle kreisen um diesen "Fixstern am Himmel der Klassiker" (S. 12), dessen Werk in letzter Konsequenz selbst zu einer Maschinerie wird; zu einer Wunschmaschine, in der "alles zugleich funktioniert" (Deleuze / Guattari), in der das Subjekt verschwindet und die Maschine schließlich implodiert:

Auch die sadesche Textmaschine löst sich schließlich – über die Progression der verschiedenen Fassungen von Justine, die Digression im intertextuellen Bezug auf die Philosophie im Boudoir und andere seiner Werke sowie die Regression im Rahmen seiner >récriture< von Thérèse Philosophe und anderen Vorgängerwerken – zuletzt im Computerprogramm SARA auf, denn welcher Leser könnte mit einem Ausstoß von einer Textseite in 2939 Milisekunden (bei einem >Psychometer<-Wert von immerhin 78!) mithalten? Lässt man der Maschine freien Lauf, zerstört sie ihren Leser und damit sich selbst, denn wer hält sie noch in Gang, wenn niemand mehr ihre Texte lesen will oder kann. (S. 238)

Fazit

Michael Pfister und Stefan Zweifel haben mit ihrer leichten, spitzen Feder den Textkörper de Sades geöffnet und den darin verschwundenen Autor aus den Triebwerken seiner eigenen Text-Maschine befreit, wobei ihnen La Mettries Imagination als Motor und Hegels Dialektik als Katalysator dienen. Zum Vorschein kommt ein ambivalentes Bild des maschinenhaften "homo sexualis", das nicht nur den "freiesten aller Menschen" (Apollinaire) und Befreier des Einzelmenschen zeichnet, sondern neben dem "Feministen" de Sade auch den Theoretiker des Egoismus und des Rechts des Stärkeren. Eingedenk dieses Pandämonismus, dessen "Erotik der Entmenschlichung von Entfremdung, Gebrochenheit und Depersonalisierung" (S. 214) geprägt ist, stellt sich unter anderem die Frage, ob diese imaginäre Erotik und Anti-Ethik im Zeitalter der verschwindenden Realität (Baudrillard) immer in Literatur münden muss oder auch im Mord enden kann. 16

Vielleicht lassen sich die postmodernen "Phänomene" des Sextourismus oder Ego-Shootings durch die de Sadeschen Skandaleffekte verbotener Gedanken und die Einblicke in die eigenen Abgründe besser verstehen. Da Michael Pfister und Stefan Zweifel selbst imachinativ argumentieren, verwandeln sie ihren Text in der Tradition Deleuze / Guattaris in eine autoerotische (Junggesellen-) Maschine, die den Erotiker La Mettrie und den Pornosophen de Sade mit dem etwas zu kurz kommenden Dialektiker Hegel verkuppelt. Dabei produzieren sie gleichzeitig kreative Konnexionen, die in anderen Medien münden, wie die anregenden Exkurse "König Ubu und der kategorische Imperativ zum Verbrechen" oder Pasolinis "Sodom"-Verfilmung zeigen.

Das Dialektische dieser Liebschaften spiegelt sich nicht nur in den Bezügen, Beziehungen und von den Verfassern inszenierten, argumentativen Stellungswechseln der Autoren untereinander wider, sondern manifestiert sich auch in der Lust der Verfasser am eigenen Text, die vor allem dem Objekt der zu untersuchenden Begierde (de Sade) entspringt.

Vielleicht gerade deshalb wird der Leser das Gefühl nicht los, dass es den Verfassern in Anlehnung an ihr Vorbild auch darum geht, "auf der Ebene der Phantasie möglichst ungesehene literarische Effekte zu erzielen", so dass weite Teile dieses philosophisch-erzählerischen Werks wie "ein wildes Gemengegelage und eine Huldigung an die Imachination des Maschinisten" (S. 27) erscheinen.

Dennoch ist dieses Buch aufgrund seiner gedanklichen Bandbreite und des kurzweiligen Stils nicht nur für den künstlerischen >Menschen in der Revolte< (S. 18) zu empfehlen, sondern auch für jene, die von den Rändern der Aufklärung ins Herz der Finsternis vordringen wollen, für Pornosophen und Pragmatiker, sowie alle Leser mit Lust am Text. Dass es sich bei dieser "Untersuchung" letztlich um eine lustvoll-inzestuöse Vergewaltigung de Sades unter dessen eigener Anleitung handelt, hätte dem "göttlichen Marquis" (Breton) selbst wohl am besten gefallen, was letztlich nur beweist, dass de Sade "für jede neue Generation von Lesern ein Absolutum bleibt" (S. 12).


Thomas Willems
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Germanistisches Seminar
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Anmerkungen

1 Maurice Blanchot: Lautréamont et Sade. Paris 1963, S. 17.   zurück

2 D.A.F. de Sade: Die neue Justine oder Vom Missgeschick der Tugend, gefolgt von der Geschichte ihrer Schwester Juliette oder Vom Segen des Lasters, übers. und hg. v. Stefan Zweifel und Michael Pfister. 10 Bände. München 1990–2002.   zurück

3 Michael Pfister / Stefan Zweifel: Pornosophie & Imachination. Sade LaMettrie Hegel. München 2002, S. 11.   zurück

4 Jacques Lacan: Kant avec Sade. In: Ecrits II. Paris 1971, S. 120.   zurück

5 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M. 1988, S. 264.   zurück

6 D.A.F. de Sade : Aline et Valcour ou le Roman philosophique. In: Euvres I, hg. V. Michel Delon (Bibliothèque de la Pléiade) Paris 1990, 1995 und 1998 (Pléiade).   zurück

7 Vgl. La Mettrie: Oeuvres philosophiques II (Corpus des Oeuvres de philosophie en langue francaise) Paris: Fayard 1987, aufgrund der Ausgabe "A Londres, chez Jean Nourse, 1751" (Oeuvres 1751), S. 135.   zurück

8 D.A.F. de Sade: Juliette und Justine 4, S. 76. Pfister / Zweifel weisen darauf hin, dass diese Passage wortwörtlich bei La Mettrie abgeschrieben sei (vgl. La Mettrie: Oeuvres 1751 II, S.101; Oeuvres 1774 II, S.215).   zurück

9 Roland Barthes: Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 7.   zurück

10 Vgl. Roland Barthes: Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 147.   zurück

11 George Bataille: Die Erotik. München 1994, S. 19.   zurück

12 Michael Tort: Der Sade-Effekt. In: Das Denken des Marquis de Sade (Fischer Taschenbücher; 7413: Fischer Wissenschaft) Frankfurt a.M. 1988, S. 107.   zurück

13 De Sade: Justine und Juliette. Bd. 9, S. 95.   zurück

14 "Mit >crise< bezeichnet der Franzose auch den Orgasmus, und so wie der dauernde Orgasmus das Ziel von Sades Erotik ist, ist die revolutionäre Dauererregung die permanente Krise der Revolution."    zurück

15 Vgl. Samuel Werber: Türme und Höhlen. Das Theater des Terrorismus und das gute Gewissen Amerikas. In: Lettre International, Nr. 58. Herbst 2002. Berlin. S. 18.   zurück

16 "Die imaginäre Erotik endet in der Literatur und nicht im Mord." Simone de Beauvoir: Soll man de Sade verbrennen? (Rororo; 5174) Reinbek bei Hamburg 1983, S. 40 f.   zurück