Wolf über Costazza: Karl Philipp Moritz und Ästhetik des 18. Jahrhunderts

IASLonline


Norbert Christian Wolf

Karl Philipp Moritzens
endgültige Erhebung zum Klassiker

Über Alessandro Costazzas
große Arbeit zu Moritz
und der Ästhetik des 18. Jahrhunderts

  • Alessandro Costazza: Schönheit und Nützlichkeit. Karl Philipp Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. (IRIS 10) Bern u.a.: Peter Lang 1996. 221 S. Kart. sFr 50,-.
    ISBN 3-906755-96-7.
  • Alessandro Costazza: Genie und tragische Kunst. Karl Philipp Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. (IRIS 13) Bern u.a.: Peter Lang 1999. 500 S. Kart. sFr 86,-.
    ISBN 3-906761-70-3.


Inhalt

"Vier Vorurteile und ihre Folgen" | Auseinandersetzung mit der aktuellen Forschungslage | Methodische Vorgehensweise | Schönheit und Nützlichkeit | Die >Thatkraft< des bildenden Genies | Empfindsamkeit und Dilettantismus | Tragik und Tragödie? | Fazit

Wie der gemeinsame Untertitel der beiden angezeigten Bücher des italienischen Germanisten Alessandro Costazza erahnen läßt, handelt es sich hier nicht um jeweils eigenständige Arbeiten, sondern um eine als zweibändige Monographie konzipierte monumentale Untersuchung zu Karl Philipp Moritzens ästhetischen Schriften. Der ohne Einleitung beginnende zweite Band läßt sich nur als Fortführung und Einlösung der im ersten Band offengelegten Prämissen und aufgeworfenen Fragestellungen angemessen würdigen, weshalb hier beide Bände zusammen besprochen werden. Das zentrale Projekt der ambitionierten Studie ist die historische Situierung der Moritzschen Ästhetik in den Rahmen der übergreifenden philosophischen und ästhetischen Diskussion des (deutschsprachigen) 18. Jahrhunderts.

"Vier Vorurteile und ihre Folgen"

Zu Beginn des ersten Bandes diskutiert Costazza zunächst eingängig die angeblich "ausgebliebene Rezeption" von Moritzens Ästhetik (S.11—33) — ihm zufolge eine veritable Lücke in der literatur- und philosophiegeschichtlichen Forschung, die er durch vier persistente "Vorurteile" erklärt:

  1. "Moritz' geniale Ignoranz", i.e. seine vorgebliche Unbelesenheit und Unkenntnis der wichtigsten literarischen und philosophischen Werke seiner Zeit;

  2. die Behauptung von Goethes angeblicher "Urheberschaft" der wichtigsten Ideen der ästhetischen Programmschrift "Über die bildende Nachahmung des Schönen";

  3. die "psychologisch-individualistische Interpretation" von Moritzens Ästhetik insgesamt, die dessen Theoretisieren als unmittelbare Antwort auf seine persönliche Erfahrung bzw. auf eine lebensgeschichtliche Problematik deutet und

  4. die "Säkularisierungsthese" Robert Minders, wonach "Moritz' Ästhetik nichts anderes als die Übertragung mystisch-pietistischer Kategorien auf das Gebiet des Schönen wäre" (S.12).

Das erste >Vorurteil< entkräftet Costazza schlüssig durch den Hinweis auf die bereits von Moritzens Freund Marcus Herz benannten "Affektationen des damals grassierenden Geniewesens" (S.15), welche dem in der Goethe-Nachfolge stehenden Schriftsteller die distinguierende Stilisierung voraussetzungsloser Originalität und unsystematischer Arbeitsweise nahelegten. Gerade diese Bewunderung für den gleichzeitig in Rom weilenden Verfasser des "Werther" läßt es jedoch kaum geboten erscheinen, das traditionelle zweite >Vorurteil< einfach umzudrehen und mit überraschender Ausschließlichkeit zu behaupten, daß "Moritz und nicht Goethe während ihres ersten römischen Aufenthalts der >Geber< war" (S.23). Dem widerspricht nicht nur alle psychologische Wahrscheinlichkeit, sondern auch der Bericht des Jüngeren in den Briefen an Klischnig (23.11.1786), Campe (20.1.1787) und Herder (17.2.1787). Wieso sollten denn die Anregungen in dieser intellektuellen Freundschaft nur in eine Richtung verlaufen sein? Goethes schon vor der Begegnung mit Moritz zu beobachtende italienische Selbststilisierung als "gelehriger Schüler" ist hierfür jedenfalls kein überzeugendes Argument. Der große argumentative Aufwand Costazzas scheint in dieser Angelegenheit gar nicht nötig, denn Moritzens faktische Autorschaft der zentralen Programmschrift deutscher Autonomieästhetik wird ohnehin seit geraumer Zeit nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt.

Im Rahmen seiner Kritik des dritten >Vorurteils< — der psychologistischen Deutung — entwickelt Costazza die einleuchtende These, daß Moritzens Autonomieästhetik "nicht so sehr eine Reaktion auf den eigenen Dilettantismus, sondern genau umgekehrt die notwendige Voraussetzung der Dilettantismuskritik selbst" gewesen sein muß (S.29f.). Ein wenig überzogen in ihrer polemischen Schärfe scheinen dagegen die als solche zwar sicherlich berechtigten Einwände gegen eine ausschließliche Gültigkeit von Minders "Interpretation der Moritzschen Ästhetik als Säkularisierung mystisch-pietistischer Begrifflichkeit" (S.30), zumal Costazza keineswegs den beanspruchten "Nachweis" (S.140) von deren genereller Unangemessenheit erbringt. Die alte Säkularisierungsthese und die von ihm verfolgte Rationalismusthese schließen sich übrigens nicht einmal notwendig gegenseitig aus: Kann eine habituelle Prägung durch den väterlichen Quietismus nicht auch Moritzens spezifische Auseinandersetzung mit den Aporien der rationalistischen Schulphilosophie und Ästhetik beeinflußt haben? Die von der älteren Forschung konstatierten Affinitäten zwischen der interesselosen Kunstbetrachtung und der uneigennützigen Haltung des gläubigen Quietisten gegenüber Gott beruhen jedenfalls keinesfalls "ausschließlich auf >überraschenden Wortanalogien<" (S.32), sondern auch auf manifesten Strukturparallelen kultureller Praxis.

Costazzas bisweilen recht kritischer Umgang mit der vorliegenden Sekundärliteratur gründet freilich forschungsstrategisch in seinem innovativen Vorhaben, Moritzens Ästhetik in ihrem theoriegeschichtlichen Kontext zu verstehen und vor deren Hintergrund philosophisch zu nobilitieren. Es stellt sich dabei allenfalls die Frage, ob die "Legitimität" Moritzens und seine "Relevanz im Zusammenhang des ästhetischen Diskurses der Zeit" (S.33) überhaupt noch umständlich begründet werden muß, nachdem er mittlerweile mit einer eigenen zweibändigen Ausgabe in die "Bibliothek deutscher Klassiker" aufgenommen wurde und zur Zeit sogar eine dreizehnbändige kritische Gesamtausgabe entsteht.

Auseinandersetzung mit der aktuellen Forschungslage

Ähnlich wie die >psychologische Interpretation< älterer Machart verfahren nach Costazzas Skizze der Forschungslandschaft auch die meisten rezenteren Arbeiten (Egon Menz, Thomas P. Saine, Peter Rau, Raimund Bezold, Alo Allkemper): Ästhetische Theorie werde dort "nicht im Zusammenhang der kunsttheoretischen Diskussion der Zeit" analysiert, "sondern immer als Antwort auf außerästhetische, weltanschauliche oder metaphysische Fragestellungen" (S.35). Die allenthalben konstatierte sukzessive Autonomisierung des ästhetischen Bereichs im 18. Jahrhundert erscheint von einem solchen Verfahren rückwirkend negiert. Dabei könne die sowohl bei Mendelssohn als auch bei Moritz zentrale Frage nach der >Wahrheit der Kunst< jedoch unmöglich verstanden werden, "wenn man sie unabhängig von jener erkenntnistheoretischen Krise betrachtet, die zu Baumgartens Begründung der Ästhetik geführt hat" (S.36).

Die intensive und durchaus wertende Auseinandersetzung mit der Moritz-Forschung im ersten Teil des ersten Bandes ist insbesondere deshalb hervorzuheben, weil Costazza in den späteren Kapiteln seiner Studie nur noch in speziell begründeten Fällen darauf Bezug nimmt. Daß etwa die Arbeiten von Mark Boulby, Claudia Kestenholz und Wolfgang Grams dabei überhaupt nicht erwähnt werden, 1 ist umso auffallender, als die Untersuchung insgesamt neben einer beeindruckend breiten Quellenaufarbeitung auch durch profunde Literaturkenntnis besticht.

Methodische Vorgehensweise

Costazza selbst verfolgt einen ideengeschichtlichen Ansatz, den er an einigen zentralen Punkten seiner Darstellung durch sozialhistorische Einschübe sinnvoll ergänzt. Er distanziert sich allerdings explizit von einer "Jagd auf unmittelbare Quellen und Abhängigkeiten", welche "die wahren Zusammenhänge eher verschleiert", woraus wohl auch sein völliges Desinteresse an konkreten Rezeptionsnachweisen resultiert. Es sei nämlich offensichtlich, "daß sogar die wortwörtliche Übernahme bestimmter Sätze in einem veränderten Kontext deren Funktion und Bedeutung völlig verändert" (S.44). Angesichts dieser einleuchtenden Erkenntnis mag es einigermaßen überraschen, wenn dann doch von "realen Abhängigkeitsverhältnisse[n]" (S.24) die Rede ist oder sogar die Möglichkeit einer "unmittelbare[n] Quelle von Moritz' Auffassung der uneigennützigen ästhetischen Haltung" trotz fehlender "absoluter Sicherheit" immerhin prinzipiell angenommen wird (S.139f.). Darstellungstechnisch wählt Costazza ein zirkuläres hermeneutisches Verfahren, das er folgendermaßen präsentiert:

In einem ständigen Perspektivenwechsel sollen die Moritzschen Texte im Hinblick auf die zentralen Fragestellungen und auf die wichtigsten Positionen der Zeit gelesen und interpretiert werden, während andererseits auch die Rekonstruktion des ästhetischen Diskurses des Jahrhunderts von der Interpretation der ästhetischen Schriften Moritz' auszugehen hat. Das Ergebnis eines solchen Verfahrens sollte dann aber nicht nur eine neue Interpretation und ein besseres Verständnis vieler Aspekte der Moritzschen Ästhetik im Zusammenhang seiner Epoche sein, sondern es müßte zugleich auch einen neuen, wenigstens zum Teil ungewöhnlichen Blick auf die gesamte [!] Entwicklung der ästhetischen Diskussion in Deutschland im 18. Jahrhundert ermöglichen. (S.47)

Wie aus dieser ambitionierten methodologischen Grundlegung ersichtlich ist, zielt Costazza auf eine wechselseitige Erhellung der allgemeinen und der spezifisch Moritzschen ästhetischen Theorie. So sind die z.T. sehr ausführlichen Referate ästhetikgeschichtlicher Entwicklungen des 18. Jahrhunderts (insbesondere im zweiten Band) bisweilen nur recht lose über ein allgemeines Begriffs- oder Problemfeld mit der konkreten Analyse von Moritzens Texten verbunden, von denen sie stets ausgehen und in die sie dann jeweils früher oder später wieder münden — mit dem wohl nicht unerwünschten darstellerischen Nebeneffekt, daß das Moritzsche Denken immer wieder als gedankliche Synthese der maßgeblichen Strömungen und Tendenzen erscheint und sich auch spätere Entwicklungen bereits bei ihm gebündelt ankündigen.

Indem die extensive Kontextualisierung — sachlich wohl durchaus gerechtfertigt — in erster Linie durch Schriften aus der rationalistischen deutschen Schul- und Popularphilosophie erfolgt, in nur weitaus geringerem Maß aber durch eine von Künstlern und Schriftstellern verfaßte praxisorientierte Kunsttheorie, erscheint Moritz freilich in einem (vom Autor so vielleicht gar nicht beabsichtigten, zumindest nicht thematisierten) recht akademischen Licht. Auch darin besteht wohl ein wichtiger Unterschied zu seinem Freund und Mentor Goethe, dessen >unakademisches< und >ungelehrtes< Theoretisieren einer allerdings vergleichsweise >moderneren< Diskursformation entspricht als Moritzens recht abstrakte und spekulative Antworten auf die Aporien der rationalistischen Ästhetik und Metaphysik. Vielleicht ist auch das ein Grund für die so unterschiedliche Wirkung beider Autonomieästhetiker, zumal Goethe seine theoretische Doktrin durch die eigene poetische Praxis wirkungsvoll untermauerte.

Den materialen Ausgangspunkt für die drei Hauptabschnitte der Untersuchung bilden die drei Hauptteile des Aufsatzes "Über die bildende Nachahmung des Schönen", wobei zum besseren Verständnis mancher z.T. recht enigmatischer Passagen aber auch auf die genaue Analyse zahlreicher anderer Schriften zurückgegriffen wird, insbesondere auf die wichtigen Texte "Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Prinzip des in sich selbst Vollendeten", "Die Signatur des Schönen" und "Die metaphysische Schönheitslinie". Die Entstehungszeit des letztgenannten verlegt Costazza übrigens trotz des darin angeblich manifesten "Ausdruck[s] eines früheren Stadiums der ästhetischen Diskussion in Deutschland" gegen die mittlerweile etablierte Vordatierung — nicht ganz leicht nachvollziehbar — zurück in die 1790er Jahre (Bd. 2, S.37—40).

Schönheit und Nützlichkeit

Nach Costazzas überzeugender Deutung antwortet Moritzens Konzept der Kunstautonomie auf die Aporien der "rationalistischen Lusttheorie" (Subjektivismus und Intellektualismus) in der Leibniz-Wolff-Tradition, deren Vertreter (Gottsched, Bodmer, Breitinger, Johann Elias Schlegel, König, Baumgarten, Georg Friedrich Meier, Mendelssohn, Sulzer u.a.) die Begriffe des >Schönen< und des >Nützlichen< unter dem Gesichtspunkt des dadurch ausgelösten Vergnügens auf problematische Weise einander angenähert oder sogar verknüpft hatten. Moritz dagegen habe die von beiden Begriffen vorausgesetzte, zunehmend subjektbezogene Vorstellung der >Vollkommenheit< als Quelle des Vergnügens durch den objektivistischen Begriff des >Ganzen< ersetzt. Den "Versuch einer Vereinigung" interpretiert Costazza als direkte Replik auf Mendelssohns "Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften" sowie (meines Wissens erstmals) auch auf Johann August Eberhards daran anschließende "Theorie der schönen Wissenschaften", derzufolge das Vergnügen am Schönen aus der subjektiven Vollkommenheitserfahrung des Rezipienten resultiert (vgl. Bd. 1, S.123f.). Erst Moritzens definitive Verabschiedung der Vollkommenheit und damit des Vergnügens als "Endzweck" ermögliche demgegenüber eine "objektive Bestimmung des Schönen" (S.75), wodurch sich seine Fassung der Kunstautonomie auch von Kants späterer subjektiver Bestimmung ("Zweckmäßigkeit ohne Zweck") unterscheide (S.68 u. 141—143).

Was aber mag Moritz dazu bewogen haben, das Vergnügen als "Endzweck" bzw. "Grundsatz" der schönen Künste so radikal zu verwerfen? Als "zentrale Motivation" nennt Costazza hier "die konkreten tiefen Veränderungen des damaligen literarischen Lebens infolge der Entstehung eines literarischen Marktes [...], welche die Grundsätze und den allgemeinen moralischen Optimismus der aufklärerischen Wirkungsästhetik pervertiert und faktisch falsifiziert hatten" (S.127). Daß die sozialhistorische These von der Begründung der Autonomieästhetik als konzeptuelle Antwort auf die "Entstehung einer Massen- und Trivialliteratur" (S.131) nicht ganz neu 2 und in der deutschen Literaturwissenschaft derzeit auch nicht >trendy< ist, ändert nichts an ihrer großen Überzeugungskraft, 3 die Costazza mit einigen Zitaten aus Moritzens "Übersicht der neuesten dramatischen Literatur in Deutschland" nochmals anschaulich unter Beweis stellt (S.129f.). Überraschen mag allenfalls, daß die Ausführungen zu den Folgen der Entstehung eines literarischen Marktes trotz der ausschlaggebenden Bedeutung, die Costazza ihnen zuspricht, vergleichsweise knapp gehalten und im auffallenden Unterschied zu den sonstigen, ideengeschichtlichen Kapiteln v.a. aus der Sekundärliteratur gearbeitet sind. Doch liegt dies wohl in der darstellerischen Absicht begründet, eine ästhetikgeschichtliche Studie nicht mit außerästhetischem diskurshistorischem Material zu überfrachten.

Daß die von Moritz vorgenommene Substitution des Baumgartenschen Begriffs der >Vollkommenheit< durch die angeblich von Shaftesbury stammende Vorstellung vom >Ganzen< "mit der Idee des Organismus unlösbar verbunden" sei (S.144f.), kann nach Costazza als weiterer theoriegeschichtlicher Vorteil gelten, der auf Kant und Schiller sowie auf die moderne, formalistische und strukturalistische Lehre von der "Selbstreferentialität der poetischen Sprache" voraus deute: "Denn das in sich vollendete Kunstwerk faßt sozusagen auch die eigene Bedeutung in sich, die nicht mehr auf eine äußere Wirklichkeit, sondern nur auf sich selbst, auf das Signifikante hinweist" (149f.). Costazzas Befund, der sich durch einen Vergleich zwischen der "Signatur des Schönen" und Lessings "Laokoon" erhärten und differenzieren läßt, berührt sich mit den Ergebnissen Helmut Pfotenhauers, 4 die an dieser Stelle allerdings nicht erwähnt werden.

Im Rahmen einer Rekonstruktion der zeitgenössischen Debatte um die organizistische Kategorie der >Ganzheit< wäre im übrigen allererst auf die Poetik der Stürmer und Dränger zu verweisen, die sich damit in den 1770er Jahren intensiv beschäftigt hatten und Shaftesburys diesbezügliche Überlegungen in der Rezeption der Folgezeit wohl einigermaßen überlagerten. 5 Mit ihnen ist Moritz sicher unmittelbar in Berührung gekommen. Wie dem auch sei — jedenfalls basiert auf der in einer Strukturanalogie zur Leibnizschen Monadologie stehenden "Annahme einer grundsätzlichen Homogenität des Ganzen und seiner Teile" (S.162) jene auch von Moritz vertretene "Hermeneutik der Goethezeit" (Peter Szondi), "die zwar die Distanz zwischen dem klassischen Griechentum und der modernen Welt deutlich und oft schmerzhaft empfindet, für die jedoch die Möglichkeit eines Verständnisses jener vergangenen Zeit durch die Idee der Humanität bzw. der Einheit der menschlichen Natur von vornherein immer garantiert ist" (S.163).

Im letzten Kapitel des ersten Bandes situiert Costazza den "Versuch einer Vereinigung" in den unmittelbaren Diskussionszusammenhang, in welchem er als Artikel der "Berlinischen Monatsschrift" ursprünglich erschienen ist: die dort geführte Debatte um die >wahre Aufklärung<. Moritzens in diesem Kontext völlig singuläre ästhetische Stellungnahme kann als eine veritable "Provokation" (S.166) der Hauptadressaten Mendelssohn und Eberhard bezeichnet werden. Darüber hinaus propagiert sie "das Projekt einer nicht-entfremdeten Rationalität" (S.167), dessen gesellschaftsanalytische Herleitung und kritische Stoßrichtung Costazza durch die Analyse paralleler Gedankenfiguren in den "Denkwürdigkeiten, aufgezeichnet zur Beförderung des Edlen und Schönen" offenlegt. Moritzens Projekt steht in krassem Widerspruch zum utilitaristischen Aufklärungsverständnis nicht allein vieler Beiträger der "Berlinischen Monatsschrift" (Svarez, Gedike, Mendelssohn, Kant), sondern auch der meisten Volksaufklärer (Becker, Zollikofer, v. Rochow) und Pädagogen (Basedow, Campe, Villaume, Bahrdt, Stuve). Den paradoxen Umstand, "daß ausgerechnet einer der führenden und angesehensten Psychologen des 18. Jahrhunderts zum Überwinder der psychologischen Wirkungsästhetik der Aufklärung wurde" (S.165), motiviert Costazza durchaus nicht unprekär mit "einer tiefen Enttäuschung über die Möglichkeiten der Pädagogik" (S.197). Moritzens >antikompensatorische< Autonomieästhetik erhält solcherart unter der Hand doch wieder Züge des Kompensatorischen und erscheint als vorweggenommene Parallelaktion zu Schillers vieldiskutiertem Konzept >ästhetischer Erziehung<.

Die >Thatkraft< des bildenden Genies

Ohne lange Umschweife stellt Costazza zu Beginn seines zweiten Bandes den mittleren Teil der "Bildenden Nachahmung des Schönen" in den Rahmen der zeitgenössischen Diskussion um die Prinzipien der Naturnachahmung und des schöpferischen Genies, die häufig als antagonistisch wahrgenommen worden sind: Moritz dagegen nehme eine vermittelnde Position ein, indem er einerseits das traditionelle Mimesisgebot durch dessen Ausrichtung auf die natura naturans "über seinen angeblichen Tod hinaus noch für die Kunstauffassung der Romantik verfügbar" mache und andererseits "eine objektivierte Idee vom Genie" entwickle, "die den Velleitarismus und die ästhetische Willkürlichkeit [!] des Sturm und Drang in Richtung auf eine höhere Naturgesetzmäßigkeit überwindet und somit auf die deutsche Klassik hinweist" (S.14). Wie im zitierten Vokabular deutlich wird, nimmt hier Costazza selbst die literaturhistorische Optik der Klassiker ein.

Die "textnahe, paraphrasierend nachfragende Erkundung" (S.23) des Moritzschen Texts, dessen Gliederung noch einmal genau gemustert wird, macht zwei zentrale Problemkomplexe sichtbar: zunächst die Korrespondenz zwischen dem unfaßbaren >großen Ganzen der Natur< und dem nur >eingebildeten Ganzen< des Kunstwerks und sodann die zwischen beiden Bereichen vermittelnde >dunkelahnende Thatkraft<, die die "Offenlegung eines >inneren Wesens< der Wirklichkeit" durch das Kunstwerk erst ermöglicht (S.25f.). Moritzens Behandlung dieser zusammengehörigen Phänomene führt u.a. zur "radikale[n] Umkehrung der Leibniz-Wolffschen Stufenleiter der menschlichen Erkenntnis" (S.27). Eine genauere Beleuchtung seiner produktiven Auffassung künstlerischer Produktion erzielt Costazza durch die vergleichende Analyse der "Metaphysischen Schönheitslinie" sowie durch eine ausholende Rekonstruktion der "Quellen" für die darin vertretenen Vorstellungen von Auslese- und Aufmerksamkeitstheorie (Mendelssohn, Lessing, Sulzer), vom >Dichtungsvermögen< (Meier, Baumgarten, Tetens) sowie von >anschauender Erkenntnis< (Resewitz, Blankenburg, Lenz).

Die extensive und äußerst kundige Kontextualisierung nimmt hier wie öfters im zweiten Band fast übertriebene Ausmaße an, was zur Folge hat, daß bei der Lektüre der überaus materialreichen Ausführungen das spezifische ästhetische Projekt Moritzens leicht aus dem Blick gerät. Auch scheint es keineswegs ausgemacht, daß etwa die von den Vertretern des Sturm und Drang propagierte wirkmächtige Idee des schöpferischen Genies tatsächlich in den rationalistischen schul- und popularphilosophischen "Reflexionen über die Naturnachahmung bzw. über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunst [...] ihren tiefen Ursprung" hat (S.86). An solchen Punkten manifestiert sich gewissermaßen die Crux einer im konventionellen Sinne ideengeschichtlichen Rekonstruktion, die für jeden theoretischen Gedanken einen eindeutig bestimmbaren unikalen "Ursprung" und zugleich eine "grundlegende Kontinuität" (S.85) intellektueller Traditionen in nationalkulturellen Kontexten postuliert, meist ohne sich um Rezeptionsnachweise sowie um die konkrete Interessenlage der jeweiligen Rezipienten überhaupt zu kümmern. Freilich hat der zentrale deutsche Protagonist der Genieästhetik, Herder, die deutsche Schulphilosophie Baumgartens etc. gut gekannt, doch scheinen unmittelbare Anregungen durch sensualistische Genietheorien aus der zeitgenössischen französischen und englischen Debatte dem Herderschen Projekt gerade in seiner anti-akademischen Stoßrichtung weitaus verwandter zu sein. Dasselbe gilt — in vielleicht abgeschwächter Form — wohl auch für Lenz.

Im Vergleich mit stärker >genealogisch< ausgerichteten Verfahren hat Costazzas ideengeschichtliche Rekonstruktion aber zweifelsohne auch gewichtige Vorteile: So kann er Moritzens Konzept der >Thatkraft< durch eine minutiöse Herleitung aus Baumgartens und Meiers Vermögenspsychologie als produktive Erkenntnisleistung sehr genau profilieren, indem er immer wieder Parallelen und Differenzen — etwa zu älteren Konzeptionen der >Dichtungskraft< oder der >Aufmerksamkeit< — benennt. Auch wird erst vor dem Hintergrund der Tradition die "radikale Umwertung des schul- und popularphilosophischen Erkenntnissystems" durch Moritzens konsequente, nun aber verstandeskritisch gewendete Rehabilitation der >dunklen< Erkenntnis offensichtlich (S.92f.).

In ihrer Differenzierungsleistung liegt generell eine große Stärke der angezeigten Arbeit, die Costazza allerdings immer wieder selbst zu konterkarieren droht, wenn er ästhetische Kategorien wie etwa das >Idealische< und das >Charakteristische< allein aufgrund von begrifflichen Strukturanalogien gegen alle Erkenntnisse der Kunstwissenschaft gleich prinzipiell ineinssetzt und sich in der Folge wundert, weshalb das die damaligen Kontrahenten noch nicht taten: "Die Tatsache, daß man bis Solger warten mußte, um diese Übereinstimmung von Besonderem und Allgemeinem bzw. von >Charakteristischem< und >Idealischem< deutlich zu erkennen, erklärt die vielen Mißverständnisse jener Diskussion" (S.100). Die apostrophierten "Mißverständnisse" erweisen sich allerdings als handfeste ästhetische Auffassungsunterschiede, wenn man einen Blick auf die konkrete künstlerische Praxis wirft, die sich hinter den abstrakten Begriffen verbirgt. Angesichts der konkurrierenden und in mehrerer Hinsicht antagonistischen Statuendeutungen in der Laokoon-Debatte (etwa hinsichtlich der Funktion und Bedeutung von >Schönheit< und >Ausdruck<) kann die Position Aloys Hirts hier keineswegs mit jener Lessings, Winckelmanns oder Goethes gleichgesetzt werden. 6 Vollends >entelechisch< erscheint Costazzas Argumentation dann, wenn er "die tiefste, womöglich Hirt selbst nicht bewußte Natur des >Charakteristischen<" erkundet und in ihr die geheimen Wurzeln des Goetheschen Symbolbegriffs vermutet (S.102), die von der bisherigen Moritz-Forschung doch mit Vorliebe für ihren eigenen Schützling reklamiert worden waren. 7

Historisch sehr erhellend ist dagegen die genaue Rekonstruktion von Moritzens erkenntnistheoretischem Skeptizismus (in Differenz zur Kantschen Transzendentalphilosophie) sowie dessen Konfrontation mit Goethes Weimarer Spinozismus. Costazza erweist sich hier als profunder Kenner auch der Goetheschen Position und räumt mit dem Mythos eines angeblichen Moritzschen ästhetischen Spinozismus im Anschluß an Herders "Gott" gründlich auf. Statt dessen betont er in diesem Zusammenhang nochmals die Herkunft der genialen >Thatkraft< aus der bis zu Leibnizens Konzept der >anschauenden Erkenntnis< zurückverfolgten schul- und popularphilosophischen Tradition, vor deren Hintergrund er bei Moritz eine paradoxale "Irrationalisierung des künstlerischen Schaffensprozesses" konstatiert. Einerseits würde dadurch das gerade erst als Subjekt der Kunstproduktion inthronisierte >bildende Genie< gleich wieder aus seiner aktiven Rolle verdrängt und "immer mehr zum bloßen Werkzeug und später sogar zum Opfer eines dunklen Naturtriebes degradiert", und andererseits gerate "die Verwechslung des echten mit dem falschen Bildungstrieb" dadurch zu einer argumentationslogischen Notwendigkeit, was den sogenannten >Dilettantismus< als unvermeidbares Phänomen erscheinen läßt (S.137).

Empfindsamkeit und Dilettantismus

Eine eingängige, 150-seitige Auseinandersetzung mit dem Dilettantismus unternimmt Costazza in der Folge. Moritzens ästhetische Schriften treten jetzt eher in den Hintergrund. Ausgangspunkt der Überlegungen ist vielmehr die Analyse der Darstellung des Dilettantismus im Roman "Anton Reiser", die dieses "Phänomen der Goethezeit" (Helmut Koopmann) als Resultat von Reisers übersteigertem, gleichwohl zeittypischem Empfindsamkeitskult präsentiert. Gegen die dezidierten Urteile des (vom >moralischen Arzt< zum Autonomieästhetiker gewandelten) Erzählers im vierten Teil des Romans nimmt Costazza Reisers Schauspielerei allerdings ausdrücklich in Schutz und erläutert sie als bloße "Repräsentantin einer unterschiedlichen Auffassung der Schauspielkunst" (S.196), nämlich des empfindsamen >Gefühlsschauspielers< (gegenüber dem >denkenden Schauspieler<). Die negative Wertung dieser Auffassung in den >nachitalienischen< Passagen des psychologischen Romans wird durch eine prinzipielle italienische Konzeptionsveränderung motiviert, die mit dem konzeptuellen Wandel zwischen "Wilhelm Meisters theatralischer Sendung" und den "Lehrjahren" vergleichbar sei. Als Angelpunkt der narrativen Präsentation von Reisers Schauspielerei sowie seiner literarischen Produktion sieht Costazza die "Kritik des Erzählers an der Empfindsamkeit" (S.203), was ihn wiederum auf die Dilettantismusproblematik zurückführt.

Gegen alle Versuche, das Problem des Dilettantismus als transhistorisches Phänomen zu marginalisieren, beharrt Costazza sicherlich zurecht auf dessen konsequenter Historisierung. Dies ist insbesondere für seine Profilierung der zeitdiagnostischen Relevanz von Moritzens Position vorteilhaft. Enttäuschend mutet es freilich an, wenn in einem wiederum äußerst knappen, aber argumentativ dennoch zentralen Kapitel zu den "kunstsoziologischen und literaturtheoretischen Voraussetzungen des Dilettantismus" plötzlich pauschal "die Entwicklung und Durchsetzung der bürgerlichen Klasse" als ausschlaggebender Beweggrund für die Entstehung >regressiver< und >narzißtischer< Formen von Empfindsamkeit angeführt wird (S.218). Die Darstellung stützt sich hier fast ausschließlich auf ältere, mittlerweile selbst historische Sekundärliteratur (Leo Balet / Eberhard Gerhard, Arnold Hauser, Christa Bürger etc.), die sich zudem selber nur am Rande mit den Phänomenen der Empfindsamkeit und des Dilettantismus beschäftigt hat; eine Auseinandersetzung mit der neueren Forschung findet dagegen überhaupt nicht statt. 8 So lobenswert Costazzas Versuch einer sozial- und diskurshistorischen Perspektivierung auch immer sein mag — hier hätte er wohl besser ganz darauf verzichtet, denn mit dem obsoleten Rekurs auf eine wie immer amorphe >bürgerliche Klasse< als Kollektivsubjekt unterschreitet er das Reflexionsniveau der aktuellen Forschungsdiskussion genauso wie das seiner eigenen Untersuchung.

Verzichtbar wären vielleicht ebenfalls die langen Kapitel zu Goethes und Schillers Äußerungen und Schemata "Über den Dilettantismus" sowie zu Goethes "Wilhelm Meister"-Projekt gewesen. Die darin vorgestellten Ergebnisse hätten an anderer Stelle angemessener und wohl auch prominenter publiziert werden können. Hier aber im Rahmen einer ohnehin sehr ausführlichen Studie zur Moritzens Ästhetik stören sie deren Gesamttektonik und ermüden den Leser, den in der Folge noch ausholende Exkurse über Goethes "Werther", Büchners "Lenz", Herders "Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele" und über zahlreiche weitere Schriften der Zeit als Beispiele für die "Krise des modernen Subjekts" erwarten. Der Protagonist des "Anton Reiser" wird daraufhin selbst als "typischer Repräsentant eben jener [...] aporetischen modernen Subjektivität" vorgestellt (S.301), der sich an der Vorstellung des philosophischen >Egoismus< abquält (S.309ff.), sie aber nicht wirklich bewältigen kann — ebenso wie seine Parallelfigur im "Andreas Hartknopf", deren einschlägige Bemühungen allenfalls in einen >pluralistischen Idealismus< münden (S.325). Eine >wirkliche< Lösung ist mit dem begrifflichen Instrumentarium der Popularpilosophie nicht zu erlangen, weshalb Moritz die nach wie vor virulente Problematik in den Bereich der Ästhetik überführt.

Tragik und Tragödie?

Im letzten großen Abschnitt seines Buchs stellt Costazza den dritten Teil der "Bildenden Nachahmung des Schönen" in den Kontext der im 18. Jahrhundert lebhaft geführten Debatten über allgemeine Probleme des Tragischen sowie — spezifischer — der tragischen Kunst und des Erhabenen. Er beginnt wieder mit einem summarischen close reading des Moritzschen Textes, um zunächst die darin zentralen Themenfelder herauszuarbeiten. Darunter zählt er Begriffe wie "Zerstöhrung", "Opfer", "Buße", "Mitleid" und "Bildung", die ihm zufolge als Vorstellung einen tragischen "Formungs- und Bildungsprozeß" im Bereich der Kunst indizieren, der parallel zum natürlich-biologischen Entwicklungsprozeß letztlich auf die "Überwindung jeder Form" abziele (S.339). Moritzens "Idee eines ununterbrochenen Lebenskampfes zwischen allen natürlichen Wesen und lebendigen Kreaturen" (S.342) wird in der Folge durch Verweise auf Schelling, Schopenhauer, Jakob Böhme, Shaftesbury und Herder sowie auf ältere eigene Schriften perspektiviert und auf die ihr inhärente >Tragik< hin befragt. Bemerkenswert ist dabei etwa, daß Moritz "keinem Rousseauschen Kultur- und Geschichtspessimismus huldigt und nicht nur in seiner Auffassung der Natur, sondern auch in seiner Bewertung der Geschichte und des menschlichen Handelns etwa Herder und Kant näher steht als Rousseau" (S.364).

Von zentralem Interesse für die Interpretation des Moritzschen Textes ist darüber hinaus die minutiöse Analyse der "Parallelisierung des natürlichen mit dem künstlerischen Produktionsprozeß", die "schon im Titel des Aufsatzes selbst, und zwar im Attribut >bildend< enthalten" sei. Der Begriff der >Bildung< weise "auf eine lange Tradition zurück, in der sich Metaphysik, Mystik, Naturphilosophie, Biologie und Kunst innerhalb eines allgemeinen neuplatonischen Gedankenguts auf eine ganz eigentümliche Art und Weise näher kommen, berühren oder kreuzen" (S.376). Das "wichtigste Merkmal" der überkommenen Begriffsverwendung von >Bildung< bestehe "in ihrem dynamischen Charakter und in ihrer teleologischen Zielgerichtetheit" (S.379), wodurch die Übertragung des daraus abgeleiteten Adjektivs in den Bereich der Ästhetik zu deren "revolutionäre[r] Umdeutung" führe:

Denn einerseits weist das Adjektiv auf eine andere Art der Nachahmung hin, die nicht nur ein mechanisches Abbilden, sondern vielmehr ein Streben nach einem Vorbild und letztendlich eine imitatio dei bedeutet; andererseits deutet es auf die natürliche und biologische Entwicklung, welche ihrerseits in einem allgemein emanationistisch-neuplatonischen Weltverständnis als eine Rückkehr zum ersten Ausgangspunkt und daher auch als eine >Nachahmung< desselben betrachtet werden kann. (S.380f.)

Es verwundert im Rahmen der sehr kenntnisreichen und ausholenden begriffsgeschichtlichen Ausführungen allenfalls, daß die einschlägige und durchaus prominente Begriffsverwendung des jungen Goethe im Essay "Von deutscher Baukunst" (1772) darin keine Erwähnung findet, obgleich sie doch manche Aspekte der Moritzschen Terminologie deutlich präfiguriert. 9

Zuletzt möchte Costazza über "die absolut wichtige Tatsache" aufklären, daß Moritz im dritten Teil seiner ästhetischen Hauptschrift "nicht einfach von der Kunst im allgemeinen, sondern von einer >tragischen Kunst< spricht" (S.428). 10 Er äußert in diesem Zusammenhang sein Erstaunen über die bisherige Forschung, von der die Moritzschen "Ansätze einer Theorie des >Tragischen<" überhaupt nicht wahrgenommen wurden, obgleich sie "sich als schlechthin original erweisen und wichtige Erkenntnisse der späteren, romantischen und postromantischen Tragödientheorie vorwegnehmen" (S.429). Die (angebliche) Forschungslücke kann allerdings nur dann überraschen, wenn Moritzens abschließende Ausführungen vor dem Hintergrund des tragödientheoretischen Diskurses gelesen werden, was vielleicht reizvoll, auch ergiebig, aber keineswegs zwingend ist: So wirkt es zumindest forciert, die letzten Worte der "Bildenden Nachahmung" (in denen weder der Begriff >Tragödie< noch >tragisch< verwendet werden) als Moritzens "Auffassung des Inhalts der >tragischen Kunst<" zu verstehen; eben diese Auffassung und "die damit eng zusammenhängende Idee von deren Wirkung" befinden sich nach Costazza "in diametralem Widerspruch nicht nur zum Tragödienverständnis der Aufklärung, sondern auch zu jenem des Sturm und Drang" (S.431) — doch eben nur, wenn man sie auch damit vergleicht.

Costazza sieht in solchen und ähnlichen Passagen "ein absolut neues Verständnis der Tragödie" (S.439) am Werk, ja er plaziert Moritz sogar an den

Anfang jenes tiefgreifenden Paradigmawechsels [...], der von der moralischen wirkungsästhetischen Auffassung der Aufklärung zum philosophischen Tragödienverständnis des Idealismus, der Romantik und bis zu Schopenhauer und Nietzsche führt

(S.440) — dies alles ungeachtet der (nicht einmal erwähnten, geschweige denn problematisierten) Tatsache, daß der Begriff >Tragödie< im gesamten Aufsatz kein einziges Mal (und auch der Begriff >tragisch< nur einmal 11) begegnet, während ständig vom >Schönen< (nicht aber vom >Erhabenen< im Kantschen Sinn) die Rede ist. 12 Wenn Costazza also behauptet, daß mit Moritz "der Überwinder der aufklärerischen Wirkungsästhetik und der Inaugurator einer neuen >Realästhetik< einen ähnlichen Paradigmawechsel auch auf dem Gebiet der Theorie der Tragödie eingeleitet hat" (S.441), dann stellt sich — bei allem Respekt vor seinen beeindruckenden Kenntnissen — die Frage, ob er Moritzens kursorischer Formulierung über den >tragischen< Stoff der Dichtkunst (und die dadurch ausgelöste "Veredlung unsres Wesens durch das Mitleid") nicht zuviel ideengeschichtlichen Ballast aufbürdet.

Dieser Eindruck erhärtet sich in der Folge durch Costazzas (zwar sicherlich innovative) These, Moritz mache "aus der Tragödie das Mittel einer dionysischen, d.h. tragischen Bejahung des Lebens mit all seinem Schmerz und Leiden", mehr noch: "Durch eine solche Bestimmung der Funktion der Tragödie nimmt Moritz, gleichsam über Schopenhauer hinaus [...], Nietzsches Auffassung vom Wesen und von der Funktion der Tragödie vorweg." (S.450) Und damit noch immer nicht genug: "sogar an eine unmittelbare Beeinflussung" (S.449) Nietzsches durch Moritz, den "Stammvater dieser neuen philosophischen Theorie des Tragischen" (S.452), könne man denken, ganz zu schweigen vom "eindeutig" naheliegenden "unmittelbaren Einfluß" auf Schiller, der noch am ehesten nachvollziehbar scheint. Wozu dient nun aber diese Behauptung einer tragödientheoretischen Vorwegnahme Schellings, der Brüder Schlegel, Hegels, Schopenhauers und Hölderlins (S.439f., 453f.), ja selbst der Altphilologen Jacob Bernays und Wolfgang Schadewaldt (S.464f.) durch Moritz? Nach der Lektüre von gut 660 Seiten anspruchsvollstem Text liegt der Zweck einer solchen Inthronisierung auf der Hand: Der Theoretiker Karl Philipp Moritz wird von Alessandro Costazza endgültig zum Klassiker erhoben, und zwar nicht zuletzt in bisher weniger bekannten Bereichen seines weit verstreuten Schaffens.

Fazit

Die genannten Einwände — insbesondere zum zweiten Band der monumentalen Arbeit — sollten jedoch nicht verdecken, daß es sich bei dem angezeigten Buch um die bislang genaueste, umfang- und materialreichste Untersuchung zu Moritzens Ästhetik handelt, wodurch es sich von der Masse einschlägiger Monographien augenfällig abhebt. Viele der häufig beklagten enigmatischen Formulierungen in den Primärtexten werden hier durch ideengeschichtlich bestens informierte und zugleich äußerst findige Kontextualisierungen erstmals überhaupt verständlich gemacht. Costazzas große Studie ist nicht allein ein gewichtiger Beitrag zur Moritz-Forschung, sondern dürfte auf längere Sicht zu den maßgeblichen historischen Arbeiten über die deutschsprachige literarische und philosophische Ästhetik des 18. Jahrhunderts überhaupt zählen. Und das ist angesichts der Flut an einschlägigen Publikationen sicherlich eine gewaltige Leistung.


Dr. Norbert Christian Wolf
Freie Universität Berlin
Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften
Institut für Deutsche und Niederländische Philologie
Habelschwerdter Alee 45
D-14195 Berlin

Ins Netz gestellt am 30.10.2001
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Anmerkungen

1 Vgl. Mark Boulby: Karl Philipp Moritz. At the Fringe of Genius. Toronto, Buffalo, London: University of Toronto Press 1979; Claudia Kestenholz: Die Sicht der Dinge. Metaphorische Visualität und Subjektivitätsideal im Werk von Karl Philipp Moritz. München: Fink 1987; Wolfgang Grams: Karl Philipp Moritz. Eine Untersuchung zum Naturbegriff zwischen Aufklärung und Romantik. (Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur) Opladen: Westdeutscher Verlag 1992.   zurück

2 Ähnlich, jedoch negativer wertend argumentierte bereits Martha Woodmansee: The Interests in Disinterestedness. Karl Philipp Moritz and the Emergence of the Theory of Aesthetic Autonomy in Eighteenth-Century Germany. In: Modern Language Quaterly 45 (1984), S.22—47; erweiterte Fassung in M. W.: The Author, Art and the Market. Rereading the History of Aesthetics. New York: Columbia University Press 1994, S.11—33 u. 150—157 (Anm.). Costazzas Kritik, die sich an Woodmansees angeblicher Reduktion der sozialhistorischen Hintergründe auf eine "bloß biographische Funktion" (S.133, Anm. 26) entzündet, scheint angesichts der zahlreichen argumentativen Parallelen ein wenig überzogen, zumal es naheliegt, daß Moritz bei der Verabschiedung einer nur am Effekt auf die Rezipienten ausgerichteten Ästhetik durchaus von eigenen Erfahrungen als anspruchsvoller Schriftsteller geleitet war.   zurück

3 Vgl. dagegen die sehr kundige Rezension des ersten Bandes von Yvonne Pauly. In: Lenz-Jahrbuch 7 (1997), S.218—200, hier S.219f., die sich hier allerdings in der gegenteiligen Insinuation erschöpft. Zu modifizieren wäre allenfalls Costazzas >idealistische< Formulierung, derzufolge die Trivialliteratur "sich die von der aufklärerischen Wirkungsästhetik gewonnenen psychologischen Erkenntnisse über die Wirkungsmöglichkeiten bzw. -modalitäten der Kunst aneignete und sie dazu verwendete, um dadurch die Empfindungen und Leidenschaften des breitesten Publikums zu beherrschen, seinen Bedürfnissen und Wünschen entgegenzukommen und dadurch ihre Absatzquoten zu steigern" (S.136). Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die wohl relativ unbekümmert um die Aufklärungsästhetik entstandene Trivialliteratur konnte sich dieser ex post als theoretische Legitimationsinstanz bedienen und falsifizierte sie somit praktisch.   zurück

4 Vgl. etwa Helmut Pfotenhauer: Klassizismus als Anfang der Moderne? Überlegungen zu Karl Philipp Moritz und seiner Ornamenttheorie. In: Victoria von Flemming / Sebastian Schütze (Hg.): Ars naturam adiuvans. Festschrift für Matthias Winner zum 65. Geburtstag. Mainz: Zabern 1996, S.583—597; jetzt auch Sabine M. Schneider: Die schwierige Sprache des Schönen. Moritz' und Schillers Semiotik der Sinnlichkeit. (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften 231) Würzburg: Königshausen & Neumann 1998.   zurück

5 Vgl. dazu die Rezension des ersten Bands von Roland Krebs. In: Etudes germaniques 54 (1999), S.478f.   zurück

6 Ausführlicher behandelt Costazza diesen Themenkomplex in A. C.: Das >Charakteristische< ist das >Idealische<. Über die Quellen einer umstrittenen Kategorie der italienischen und deutschen Ästhetik zwischen Aufklärung, Klassik und Romantik. In: Norbert Bachleitner / Alfred Noe / Hans-Gert Roloff (Hg.): Beiträge zu Komparatistik und Sozialgeschichte der Literatur. Festschrift für Alberto Martino. Amsterdam, Atlanta, GA: Rodopi 1997, S.463—490; ders.: Das >Charakteristische< als ästhetische Kategorie der deutschen Klassik. Eine Diskussion zwischen Hirt, Fernow und Goethe nach 200 Jahren. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S.64—94.   zurück

7 Vgl. etwa Sabine M. Schneider (Anm. 4), S.18, Anm. 8.   zurück

8 Vgl. Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1988; Albrecht Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 15) Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S.605—628; jetzt auch ders.: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München: Fink 1999. [Dieser Band wurde auch in IASLonline rezensiert:http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/bassl2.html]    zurück

9 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 1.2: Der junge Goethe. 1757—1775. Tl. 2. Hg. v. Gerhard Sauder. München: Hanser 1987, S.421: "Die Kunst ist lange bildend, eh sie schön ist, und doch, so wahre, große Kunst, ja, oft wahrer und größer, als die schöne selbst. Denn in dem Menschen ist eine bildende Natur, die gleich sich tätig beweist, wann seine Existenz gesichert ist."   zurück

10 Costazza hat diese These schon 1993 auf der Berliner Moritz-Tagung vertreten, wo sie durchaus kontrovers diskutiert wurde; vgl. A. C.: Karl Philipp Moritz und die tragische Kunst. In: Martin Fontius u. Anneliese Klingenberg (Hg.): Karl Philipp Moritz und das 18. Jahrhundert. Bestandsaufnahmen — Korrekturen — Neuansätze. Tübingen: Niemeyer 1995, S.145—176.   zurück

11 Vgl. Karl Philipp Moritz: Schriften zur Ästhetik und Poetik. Kritische Ausgabe. Hg. v. Hans Joachim Schrimpf. (Neudrucke deutscher Literaturwerke N. F. 7) Tübingen: Niemeyer 1962, S.89: "Der freudige Stoff der Dichtkunst löst sich in sich selber, der tragische in der Veredlung unsres Wesens durch das Mitleid, auf."   zurück

12 Costazzas Kritik an Peter-André Alt, der "Schopenhauers Ausführungen über das Mitleid [...] unmittelbar und unkritisch auf seine Auffassung der Wirkung der Tragödie" beziehe, obwohl Schopenhauer das Mitleid "erstaunlicherweise nie in Zusammenhang mit der Tragödie bringt" (S.460), könnte also auf seine eigene Moritz-Interpretation übertragen werden.   zurück