Zabka über Rosebrock / Fix: Theorie des Deutschunterrichts

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Thomas Zabka

Theorie des Deutschunterrichts
zwischen pädagogischen und philologischen Zielsetzungen

  • Cornelia Rosebrock / Martin Fix (Hg.): Tumulte. Deutschdidaktik zwischen den Stühlen (Diskussionsforum Deutsch 6). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2001. 172 S. Kart. 16,50 €.
    ISBN 3-89676-487-X.


In der prominent besetzten Sektion 1 des Freiburger >Symposions Deutschdidaktik 2000< muss es hoch her gegangen sein. Das zumindest könnte meinen, wer den Titel dieses Tagungsbandes liest. Gemahnt das Wort >Tumulte< doch an Verstöße gegen die guten Sitten des Gesprächs, an massive Handgreiflichkeiten gar. Diese durchaus lustvolle Leseerwartung wird schon in der Einleitung von Cornelia Rosebrock zerstreut: Mit >Tumult< ist kein Kongress-Skandal gemeint, sondern der momentane Zustand der Deutschdidaktik überhaupt. Man stehe am "Ausgangspunkt der Neukonstitution eines disziplinären Selbstverständnisses", und in dieser Phase eines "Paradigmenwechsels" seien "die Normierungen des Diskurses nicht mehr oder noch nicht disziplinär stabilisiert". Mithin sei der Diskurs gekennzeichnet durch eine "bewegte Form der Unordnung" - eben durch den >Tumult< (S. 5).

Paradigmen: Dauer im Wechsel?

Ich halte diese Einschätzung für reichlich übertrieben. Das Sektionsthema hatte gelautet: "Theorie des Deutschunterrichts zwischen pädagogischen und philologischen Zielsetzungen". Es ging mithin um den alten Streit zwischen Lerner- und Gegenstandsorientierung, Subjekt- und Objektprimat, Selbst- und Fremdverstehen. Haben die in Freiburg versammelten Veteranen und Vordenker der Deutschdidaktik wirklich etwas paradigmatisch Neues beigetragen zu diesen Debatten, die geführt werden, seit es die Disziplin gibt? Oder wird mit dem Sammelband am ehesten glücklich, wer die Ansicht von Samuel Becketts Theaterfigur Hamm aus dem Endspiel teilt: "Ich liebe die alten Fragen. Die alten Fragen, die alten Antworten, da geht nichts drüber"?

Ein konsensfähiger Denkstil?

Jakob Ossner 1 erhebt von allen Beiträgern den höchsten Anspruch auf Allgemeingültigkeit, wenn er nicht weniger als einen "Denkstil" fordert (S. 17), der die gesamte wissenschaftliche Deutschdidaktik prägen und tragen möge. Didaktik ist für Ossner eine Handlungswissenschaft – die Wissenschaft vom Unterrichten. Als solche sei sie eine "Entscheidungswissenschaft": In deskriptiver Einstellung erforsche sie reale Unterrichtsentscheidungen und leite daraus in technisch-praktischer Einstellung "Entscheidungshilfen" für den Unterricht ab (S. 24). Dabei müsse differenziert werden zwischen den Entscheidungen für Handlungsziele (sprich: Lehrziele) und den Entscheidungen für Handlungsweisen, die aus dem Repertoire der "Handlungsalternativen" (sprich: Unterrichtsverfahren) ausgewählt werden (S. 27). Didaktik sei einerseits eine "Wissenschaft von der Zielgenerierung" (S. 26), andererseits eine Wissenschaft von den "rationalen", genauer: zweckrationalen Handlungsentscheidungen.

Unvereinbar mit dem geforderten Denkstil ist nach Ossner jeder Versuch, das Unterrichtshandeln aus isolierten Faktoren normativ herzuleiten (S. 27). Weder aus der "Sachbeschreibung" (S. 27) noch aus dem Wissen über die Fähigkeiten der Unterrichteten (S. 24), weder aus den wechselnden "Moden" der Zielsetzung noch aus den je kursierenden "Rezepten" der Unterrichtsmethodik (S. 20) lasse sich einseitig folgern, mit welchen Zielen und auf welche Weise zu unterrichten sei. Der "entscheidungstheoretische" Denkstil sehe "Zielsysteme, Handlungsalternativen und Strategien immer im Zusammenhang" (S. 27).

Grenzen
einer zweckrationalen Deutschdidaktik

Wer wollte diesem vernünftigen Postulat widersprechen? Die Frage ist nur, ob die Theorie des zweckrationalen Handelns tatsächlich geeignet ist, das Zusammenwirken der Unterrichtsfaktoren angemessen zu beschreiben. Um das zu erörtern, müsste man die Lernzieldiskussion der 70er Jahre wieder aufrollen und die Kritik der instrumentellen Vernunft auf unser Thema applizieren. Beides ist hier auf die Schnelle nicht zu leisten. Nur soviel sei eingewendet.

In sehr vielen Situationen des Deutschunterrichts ist es zweifellos möglich, die Analyse von Unterrichtsbedingungen mit dem Erfahrungswissen über Unterrichtsmethoden zu einem zweckrationalen Ansteuern gesetzter Ziele zu verbinden. Was aber ist, wenn ich (als Lehrer) will, dass die Schüler / innen an einem vielschichtigen Text das entdecken, was ihnen (und nicht unbedingt mir) bedeutsam erscheint; dass sie Erfahrungen und Denkweisen schriftlich verarbeiten, die vorauszuplanen ich mir nicht anmaße? In solchen Situationen – die im Unterricht der Sekundarstufen an der Tagesordnung sind – wird man Unterrichtsziele formulieren, die gerade nicht zweckrational umsetzbar sind. Man wird in manchen Situationen fordern, dass die Unterrichteten jene Operationen selbst wählen sollen, die ihrem unvorhersehbaren individuellen Lernen zuträglich sein könnten. Entgegen Ossners Ansicht dürfte die verbreitete fachdidaktische Zurückhaltung in Sachen "Zielgenerierung" nicht allein in der mangelnden "Anstrengung" der Fachleute, sondern zum Teil eben doch "in der Natur der Sache" (S. 27) begründet sein – nämlich in kognitiven, emotionalen und sozialen Prozessen der Rezeption und Produktion von Texten.

Normative Grundlagen
des Deutschunterrichts

Entscheidungen über Unterrichtsziele können nicht zweckrational gefällt werden – es sei denn, man ordnete sie Zielen höherer Ordnung funktional unter. Das aber wäre nur eine Verschiebung des Problems hin zu der nach wie vor offenen Frage: Wie entscheidet man sich für ein übergeordnetes Ziel?

Somit ist, wie Hubert Ivo 2 in seinem Beitrag schreibt, jede "Erschließung von Rationalitätsreserven für die Zieldiskurse" (S. 158) notwendigerweise eine "Verständigung über die letzten Grundlagen" des Deutschunterrichts (S. 160). Ivo fordert eine Reflexion auf jene "axiomatische Konstruktion des homo loquens und des homo scribens" (S. 166), die den Lehrzielen des Deutschunterrichts zugrunde liegt. Empirische Daten wie diejenigen der PISA-Studie hätten überhaupt erst dann eine Aussagekraft, wenn man sie auf jene Kenntnisse und Fähigkeiten beziehe, die von einem erwachsenen Mitglied der Sprachgemeinschaft erwartet werden. Um solche Axiome zu ergründen, schlägt Ivo vor, in "verabredeter Arbeitsteiligkeit" dreierlei zu erforschen: die Lehrpläne für die Schulen, die tatsächlichen Textkenntnisse und Lese- / Schreibfähigkeiten der Schüler / innen sowie die in den Studienordnungen für die Lehrämter geforderten Kenntnisse und Fähigkeiten der Lehrer / innen (S. 162 ff.).

Dieser Katalog ist unvollständig. Auch Schulbücher, Handreichungen und andere Unterrichtshilfen sowie nicht zuletzt das tatsächliche Handeln der Lehrer / innen – all das wäre auf inhärente Bildungsziele hin zu untersuchen. Jürgen Kreft 3 fordert überdies, die gesamte öffentliche "Willensbildung", d.h. den in unserer Gesellschaft geführten "praktischen Diskurs" über die von den Schüler / innen erwarteten Kompetenzen sozialwissenschaftlich zu erforschen und die "normativen Prinzipien", die diesem Diskurs zugrunde liegen, einer "transzendentalen Geltungsreflexion" zu unterziehen (S. 14). Auf deutsch: Die Fachdidaktik soll die öffentlich geführte Debatte daraufhin prüfen, wie haltbar die Zielbegründungen sind. Das kritische Urteil hierüber ist der genuin normative Beitrag der Wissenschaft zum Bildungsdiskurs. Es wäre interessant, genau dies aus Krefts Feder zu erhalten: eine kritische Erörterung der normativen Grundlagen, die in der momentan geführten Bildungsdebatte manifest werden oder unterschwellig wirksam sind.

Muss die Fachdidaktik die Schüler / innen
vor der Germanistik schützen?

Krefts Freiburger Beitrag indes orientiert sich am Sektionsthema und leistet daher etwas anderes: Er kritisiert die normativen Grundlagen einer Deutschdidaktik, die den – auch von Ossner beanstandeten – Versuch unternimmt, aus den Diskursen der Linguistik und der Literaturwissenschaft Entscheidungen über Unterrichtsziele und -methoden abzuleiten. Diesem Unterfangen fehle es schlechterdings an einer vernünftigen Geltungsbasis, denn die Germanistik beschränke sich weitgehend auf die Beschreibung ihres Gegenstands und gebe keinerlei Kriterien dafür an die Hand, was man aus welchen Gründen und auf welche Weise lesen und lernen soll. Deshalb, so Kreft, müsse sich die Fachdidaktik immer dann, wenn es um normative Fragen des Unterrichts geht, mehr an pädagogischem und psychologischem als an germanistischem Wissen orientieren. Anderenfalls erhebe man das Handlungsziel der Wissenschaft, die Gegenstandsbeschreibung, zum pädagogischen Handlungsziel. Der Deutschunterricht gerate dann zu einem "reduzierten Abbild der Linguistik und Literaturwissenschaft" (S. 10).

Eine solche "Abbilddidaktik" kreidet Kreft Teilen der Fachdidaktik an. Sein sprachdidaktisches Beispiel – die Propagierung der Generativen Transformationsgrammatik für den Unterricht – ist freilich zu alt, als dass es für die heutige Situation repräsentativ sein könnte. Und das literaturdidaktische Beispiel ist von ausgesuchter Gehässigkeit. Kreft zeichnet die wissenschaftliche Biographie eines fiktiven Didaktikers nach, der an das literaturwissenschaftlich "jeweils Angesagte" sich anpasst: an den Existenzialismus in den Sechziger Jahren, an die Kritische Theorie in den Siebzigern, an Strukturalismus und Semiotik in den Achtzigern, an den Poststrukturalismus in den Neunzigern. Weil aber "die literarischen Texte den Schülern im Literaturunterricht primär nicht als Gegenstände der Literaturwissenschaft, sondern als Bestandteile der gesellschaftlichen Lebenspraxis begegnen sollen", sei eine derartige Orientierung an den Interessen der Fachwissenschaft verfehlt (S. 13).

Diese Kritik bleibt abstrakt. Denn der Gegensatz von Literaturwissenschaft und gesellschaftlicher Lebenspraxis ist eine unbegründete Setzung. Wenn Krefts karikierender Durchgang durch vier Jahrzehnte Mainstream-Philologie eines zeigt, dann dies: Die Literaturwissenschaft spiegelt den außerwissenschaftlichen Literaturbegriff einer Epoche wider. Nicht anders als Literaten, Kritiker und Teile des Publikums bestimmt sie die Aufgabe und das Wesen von Literatur mal als Ausdruck existenzieller Erfahrungen, mal als kritischen Eingriff in den politischen Diskurs, dann wieder als Unterminierung starrer Identität usw. Literaturwissenschaftliches Handeln ist niemals allein deskriptiv, sondern es fußt auf normativen Entscheidungen über das Was und das Wie von Lektüre, d.h. über kanonische Texte und richtige Lesarten. Petra Küchler-Sakellariou 4 zeigt in ihrem Beitrag, dass jeglicher Umgang mit literarischen Texten, auch der literaturtheoretische (S. 137 ff.), "stets mit vorgängigen […] Wertsetzungen" (S. 127) verbunden ist. Diese Setzungen haben ihre Basis nirgendwo anders als in dem "praktischen Diskurs" (Kreft), der in einer Gesellschaft über Sprache und Literatur geführt wird.

Die verkleinerte "Abbildung" wissenschaftlicher Positionen im Unterricht ist also nicht allein schon deshalb falsch, weil Wissenschaft nichts mit außerwissenschaftlichen Lebenszusammenhängen und normativen Fragen zu tun hätte, sondern weil von Fall zu Fall beurteilt werden muss, ob jene Normen, die den literaturwissenschaftlichen Forschungsentscheidungen zugrunde liegen, mit jenen anderen Normen vereinbar sind, die schulischen Bildungsentscheidungen zugrunde liegen. Man müsste sich schon die Mühe machen, an einzelnen fachdidaktischen Unterrichtsmodellen zu prüfen, ob und in welchen Details beispielsweise ein sozialkritisch, semiotisch oder dekonstruktivistisch inspirierter Unterricht schulischen Bildungszielen entspricht oder ihnen zuwiderläuft. Kreft scheint jedoch davon auszugehen, dass zwischen literaturwissenschaftlichem Handeln und schulischen Bildungszielen ein unüberbrückbarer Hiat besteht und es generell vonnöten sei, die Schüler vor den "fachwissenschaftlichen Überzeugungen und Interessen der Deutschdidaktiker" (S. 9) zu schützen.

Oder soll die Fachdidaktik die Germanistik
vor sich selber schützen?

Ganz anders stellt sich das Verhältnis zwischen Germanistik und Deutschdidaktik für Harro Müller-Michaels 5 dar. "Was die Linguistik und Literaturwissenschaften an Erkenntnissen erarbeiten", werde von der Fachdidaktik daraufhin geprüft, "inwieweit es für die Bildungsprozesse junger Menschen bedeutsam werden kann" (S. 33). Damit sichere die Fachdidaktik der Fachwissenschaft "ihre Verbindung zur Lebenswelt" und konfrontiere sie mit gesellschaftlichen "Relevanzfragen" (S. 39). Die "Bildungspraxis" sei als "Prüfstein für die Theorie" (ebd.) der "wichtigste Anwendungsfall der Germanistik" (S. 36).

Es geht Müller-Michaels bei der schulischen Anwendung germanistischen Wissens also gerade nicht um dessen "Abbildung" (Kreft) im Unterricht, sondern um dessen gesellschaftliche Aneignung. Es wäre tatsächlich glücklicher, die Bildungspraxis einen wichtigen Aneignungsfall zu nennen, denn der Begriff der prüfenden Anwendung legt das Missverständnis nahe, germanistisches Wissen könne und solle bei der Applikation auf Bildungsprozesse gegebenenfalls falsifiziert oder als unnütz ausgewiesen werden. Eine solche Konzeption brächte der Fachdidaktik den Vorwurf ein, hier wolle – frei nach Handke – das Mündel Vormund sein. Theoretische Wissenschaften haben das Recht, auch ein Wissen herzustellen, das für nutzlos erachtet wird, da es nicht unmittelbar praxisrelevant ist.

Wenn Müller-Michaels die Bildung als Prüfstein der Wissenschaft bezeichnet, geht es ihm wohl auch weniger darum, dieses Recht zu bestreiten und die Germanistik vor ihrer eigenen Liebe zum Elfenbeinturm zu schützen, als vielmehr darum, den Grenzbereich zwischen theoretischen und praktischen Bezirken der Literaturwissenschaft auszuloten und die Gangbarkeit eben jener Übergänge zu ertasten, die Kreft pauschal für modischen Morast hält.

Kulturwissenschaftliche Ausrichtung:
Weiterentwicklung oder Einengung?

Auf der Suche nach derartigen Übergängen wird Müller-Michaels nun vor allem im Bereich der kulturanthropologischen Orientierung der neueren Literaturwissenschaft fündig. Er stellt fest, "dass die Germanistik längst keine Philologie mehr ist, sondern sich zur Kulturwissenschaft weiterentwickelt hat" (S. 33). Die literarische Anthropologie rekonstruiere die "anthropologischen Grunderfahrungen in der Literatur vergangener Epochen" und untersuche die spezifisch literarische Gestaltung solcher "Elementarerfahrungen" daraufhin, welche "Leistungen" sie für die "Erklärung von Ereignissen des Lebens" erbracht haben und noch immer erbringen (S. 34). Die ästhetische Leistung der Literatur liege vor allem in der Eröffnung des Möglichkeitssinns: Literarische Fiktionen seien "Gedankenspiele, in denen der Mensch seine Möglichkeiten erprobt, die das Alltagsleben versagt oder einschränkt" (S. 35).

Das so gewonnene Wissen über historische "Denkbilder" (W. Benjamin) lasse sich praktisch-didaktisch nutzen, nämlich in "Unterrichtsreihen zur Anthropologie". In solchen Reihen werde an "Erfahrungen aus der Lebenswelt der jungen Menschen" angeknüpft (S. 38), denn zu allen Zeiten gebe es elementare "Erfahrungen mit Geschlecht, Geburt, Tod, Sexualität" usw. (S. 34). Das "Leitziel" des Unterrichts bestehe darin, "über die Differenz von Fiktion und Lebenswelt den Erfahrungshorizont zu erweitern" (S. 38) und – wie Karlheinz Fingerhut 6 in seinem Beitrag zu diesem Band formuliert – "Vergangenes und Gegenwärtiges als konkurrierende Modelle menschlichen Verhaltens" aufeinander zu beziehen (S. 93).

Kein Zweifel: Mit solchen Modellen lässt sich ein exzellenter, ertragreicher Deutschunterricht halten, der dazu angetan ist, Schüler / innen für Literatur, auch für ältere Literatur, zu begeistern. Indes: Die Formel >anthropologische Grunderfahrungen< bzw. >Elementarerfahrungen des Menschen< scheint mir aus einem didaktischen Grund problematisch zu sein. Sollten diese Termini die Funktion haben, besonders unterrichtstaugliche literarische Inhalte von weniger unterrichtstauglichen Inhalten zu unterscheiden, so wäre Einspruch angebracht: Als Unterrichtsinhalte taugen neben Grunderfahrungen auch Randerfahrungen, neben Allgemeinmenschlichem auch Hochindividuelles. Sollte aber das Randständige und Individuell-Deviante gleichfalls zu den "Elementarerfahrungen" zählen, so würde dieser Terminus jeglichen Inhalt umfassen, er meinte – um ein weiteres Aperçu aus dem Endspiel zu zitieren – "bloß alles" und hätte keine Auswahlfunktion mehr für Unterrichtsentscheidungen.

Etwas einengend ist die Konzentration auf das Phänomen der Fiktionalität. So bedeutsam es auch ist in der Literatur – das Ästhetische geht darin nicht auf. Lyrik ist, nach Käte Hamburgers Beobachtung, sogar überwiegend nichtfiktional. Was künstlerische Texte generell auszeichnet, ist die ästhetische Sprachgestaltung (z.B. die Erzählweise und Wortwahl), die den Lesern neue Erfahrungsmöglichkeiten, neue Sichtweisen auf die Welt eröffnet – womit zugleich ein anderes wichtiges Ziel des Literaturunterrichts formuliert wäre.

Dialektische Perspektiven
Teil 1: Literaturgeschichte

Zurück zur Leitfrage der Sektion. Ähnlich wie Müller- Michaels nimmt auch Karlheinz Fingerhut das Thema "Literaturgeschichte als Lerngegenstand" zum Anlass, die zwischen Subjekt- und Gegenstandsorientierung lokalisierte Antithese zu bezweifeln. Ältere Texte – wie auch Texte aus fremden Kulturen – seien überhaupt nur dann verständlich, wenn die Leser / innen in detaillierter "Spracharbeit […] den Abstand zwischen literarischen Texten der Tradition und der Gegenwart […] erfahren". Nur wenn die Subjekte das Fremde als Fremdes vergegenständlichen, könne es ihnen zueigen werden. "Ohne historische Dimension sind die Texte den SchülerInnen bloß fremd" (S. 91 f.).

Dies ist auch die Position von Claus Ensberg, 7 der in seinem Beitrag hervorhebt: "Historisches Verstehen […] verwirklicht sich in dem Bemühen, zwischen der eigenen Lebenswelt und der Welt des jeweiligen Textes zu differenzieren und beide voneinander abzuheben" (S. 49). Die Schüler / innen könnten die "Differenz" zwischen dem historischen und dem "modernen Welterleben" (S. 50) in Erfahrung bringen, indem sie sich "zeitgeschichtliche Kontexte" aneignen (S. 48) und "einen ersten Einblick in die heuristische Ordnungsfunktion literaturgeschichtlicher Periodisierung" gewinnen (S. 51).

In diesen beiden Punkten nun ist Fingerhuts Beitrag reflektierter und kritischer, denn er hebelt (um nicht zu sagen: hegelt) die besagte Antithese auch von der anderen Richtung her aus. Historische Kontexte und literaturgeschichtliche Epochencharakterisierungen würden in Schulbüchern, Unterrichtshilfen usw. fast immer als ein an sich bestehendes, unhinterfragbares Sachwissen dargeboten. Auf diese Weise werde den Schülern suggeriert, man müsse nur die jeweils behandelten Einzeltexte den Ablagefächern Kontext und Epoche korrekt zuordnen, um eine "richtige" Leistung zu erbringen. Demgegenüber hebt Fingerhut hervor, dass Kontexte und Epochen "ihrerseits historische Konstruktionen sind" (S. 88), die im Literaturunterricht problematisiert und daraufhin befragt werden sollten, welchen Beitrag sie tatsächlich zum Verständnis eines Textes leisten.

Wenn es also einerseits richtig ist, dass nur eine Vergegenständlichung des Fremden dessen Aneignung durch die Subjekte ermöglicht, so gilt andererseits, dass jede Vergegenständlichung immer ein Produkt aneignender Subjekte ist. (Um diesen Zusammenhang kreist auch Heidi Röschs 8 Beitrag über Konzepte der Interkulturalität im Bereich Deutsch als Zweit- und Fremdsprache.) Historisches Textverstehen – das ist Fingerhuts eigentliche These – kann nur dann fruchtbar sein, wenn beide Aspekte im Unterricht methodisch realisiert und reflektiert werden.

Dialektische Perspektiven
Teil 2: Orthographie

Im Bereich der Sprachdidaktik ist es neben Jakob Ossner vor allem Martin Fix, 9 der angesichts der Antithese Gegenstands- vs. Lernerorientierung von einer "unnötigen Opposition" und einem "unfruchtbaren Spannungsverhältnis" spricht: Fachdidaktik sei schließlich die "wissenschaftliche Disziplin, die sich per definitionem mit der Schnittstelle zwischen Subjekt und fachlichem Lerngegenstand beschäftigt" (S. 72 f.).

Am Beispiel der orthographischen Fehlerquelle Konsonantenverdoppelung zeigt Fix, dass am Anfang aller Lehrbemühungen die Frage nach dem Gegenstand (hier: den orthographischen Regeln) steht: "Warum schreibt man das so und nicht anders?" (S. 78). Die Regeln sind denen, die etwas wiederholt falsch schreiben, offenbar fremd. Sie sind dem Subjekt ein äußerlicher Lerngegenstand, bevor sie zu etwas ihm Eigenen werden. Will man die methodische Frage beantworten, mit welchen "Lernstrategien" und "Operationen" die Aneignung gefördert werden kann, so muss man vor allem wissen: "Warum schreibt mein Schüler das [falsch]"? (ebd.). Man muss sich also sowohl am Gegenstand als auch an den Köpfen der Lernenden orientieren.

Das aber ist, ähnlich wie bei Fingerhut, erst die eine Seite der Dialektik. Die Begründung einer Sprachnorm wie der Regel für Konsonantenverdoppelungen ist nämlich nach Fix nur möglich, wenn man untersucht, welche funktionale Bedeutung dieses orthographische Phänomen in den Köpfen der Schreiber hat. Denn dort wird es immer wieder aufs Neue konstruiert. Wie in vielen anderen sprachlichen Problemfällen auch, so gibt es unterschiedliche Erklärungsmöglichkeiten für Konsonantenverdoppelungen: Manchmal werden sie stärker mit den vorausgehenden kurzen Vokalen in Zusammenhang gebracht, manchmal stärker damit, dass eine Silbe auf demselben Konsonanten endet, mit dem die nachfolgende Silbe beginnt (Beispiel: dop-pelt). Die Bedeutung des Phänomens in den Köpfen der Schreiber aber lässt sich, so Fix, besonders gut an Lernprozessen erforschen. Durch die Beschreibung von "Fehlerphänomenen" könne die Sprachdidaktik mithin einen entscheidenden Beitrag zur linguistischen "Modellierung des orthographischen Systems" leisten (S. 83 f.).

Differenzialistische Perspektiven:
Bewertungsfragen

Die Einsicht, dass im didaktischen Denken jede Lernerorientierung immer schon eine Gegenstandsorientierung voraussetzt und umgekehrt, ist zwar richtig und kann den Irrtümern eines einseitig objektivistischen oder subjektivistischen Unterrichts entgegenwirken. In vielen Unterrichtssituationen aber hilft sie nicht recht weiter. Denn tatsächlich wird in der Praxis das, was dialektisch zusammenhängt, prozessual auseinandergelegt, und zwar so, dass einzelne Unterrichtsphasen stärker der Gegenstandserkenntnis oder aber stärker der Subjektentwicklung dienen. Und auch dort, wo beides gleichermaßen zusammenwirkt, ist es für die Diagnose und Bewertung von Schüleräußerungen und den an ihnen sich zeigenden Kompetenzen äußerst hilfreich, die verbundenen Dimensionen voneinander unterscheiden zu können. Bei der Bewertung schriftlicher Arbeiten etwa herrsche, so diagnostiziert Ulf Abraham, 10 beträchtliche "Verunsicherung darüber, was eigentlich geprüft werden soll: Fertigkeiten der Textherstellung […] oder Bereitschaft und Fähigkeit >persönlichen Ausdrucks< und >origineller Darstellung<? Und wie sind die eher textorientierten Erwartungsnormen gegenüber den eher subjektorientierten zu gewichten?" (S. 58).

Um den Lehrenden die Beantwortung solcher Fragen zu erleichtern, unterscheidet Abraham zwischen drei Fragerichtungen der Bewertung.

  1. Die >philologische< Fragerichtung fokussiert das Wissen über die Lerngegenstände, nämlich Wissen über literarische Texte sowie Wissen über Textsorten und Stilebenen eigener Schreibprodukte.

  2. Hingegen fokussiert die >pädagogische< Fragerichtung nicht das Wissen, sondern die in den Schüleräußerungen sich zeigenden individuellen und intersubjektiven Lerneffekte.

  3. Die >tätigkeitsorientierte< Fragerichtung fokussiert die kognitive und interaktive Vorgehensweise der Lernenden.

Bei der Bewertung könne nun unterschieden werden zwischen Detailfragen wie diesen: "Hat er / sie klare Vorstellungen von Form, Struktur, Gestalt des Textes?" – "Wie setzt er / sie den fremden Text für das eigene geistige und emotionale Weiterkommen ein?" – "Kennt er / sie Verfahren zur Erschließung von Texten?"
(S. 67). Den drei Fragerichtungen ordnet Abraham auch noch unterschiedliche Bewertungsverfahren zu. Doch das sollten interessierte Leser / innen selber nachlesen. Es lohnt sich.

Es hat sich gelohnt

Die besprochene Debatte ist weder von paradigmatischer Umorientierung noch von diskursiver Unordnung gekennzeichnet. Doch hat die Ordnung des Diskurses in der Tat eine "bewegte Form" (S. 5). Alte Leitfragen der Deutschdidaktik erneut zu beantworten – das kann zum einen heißen, neue Themen (wie die kulturwissenschaftlichen) einer profunden didaktischen Reflexion zuzuführen. Es kann zum anderen heißen, bei einer sei es dialektischen, sei es differenzialistischen Erörterung alter Probleme Reflexionsfortschritte zu erzielen. Und selbst dort, wo auf alte Fragen alte Antworten gegeben werden – Rüdiger Vogt zeigt in seinem Beitrag, dass die fragend-entwickelnde Gesprächsmethode dem Ziel einer Erziehung zur Mündigkeit widerspricht – ist dies nützlich: Bestimmte Dinge muss man immer wieder sagen. Becketts Hamm hat mit seiner Liebe zu den guten alten Gesprächen also nicht ganz Unrecht.


PD Dr. Thomas Zabka
Universität Hildesheim
Institut für Deutsche Sprache und Literatur
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D - 31141 Hildesheim
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Ins Netz gestellt am 12.09.2002
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Anmerkungen

1 Jakob Ossner: Elemente eines Denkstils für didaktische Entscheidungen. In dem besprochenen Band S. 17–32.   zurück

2 Hubert Ivo: Normierung und Allegorese. In dem besprochenen Band
S. 158–170.   zurück

3 Jürgen Kreft: Deutschdidaktik zwischen Wissenschaft und Sprache oder Literatur, Germanistik und Pädagogik: Asymmetrien und Defizite. In dem besprochenen Band S. 8–16.   zurück

4 Petra Küchler-Sakellariou: Werteorientierung im Literaturunterricht. In dem besprochenen Band S. 126–141.   zurück

5 Harro Müller-Michaels: Deutschunterricht im Spannungsfeld von Wissenschaft, Kultur und leben. In dem besprochenen Band S. 33–40.   zurück

6 Karlheinz Fingerhut: Und die Literaturgeschichte als Lerngegenstand. In dem besprochenen Band S. 88 – 105.   zurück

7 Claus Ensberg: Gegenstand und Schüler: Unterrichtstheoretische Überlegungen in ihrer Bedeutung für die Fachdidaktik Deutsch als integrative Disziplin. In dem besprochenen Band S. 42–53.   zurück

8 Heidi Rösch: Das interkulturelle Paradigma in Deutschunterricht und Pädagogik. In dem besprochenen Band S. 106–124.   zurück

9 Martin Fix: Orthographische Fehler interpretieren – gegenstands- und / oder lernerorientiert? In dem besprochenen Band S. 71–85.   zurück

10 Ulf Abraham: Bewertungsprobleme im Schreib- und Literaturunterricht als Spiegel des ungeklärten Verhältnisses pädagogischer und philologischer Zielsetzungen für den Deutschunterricht. In dem besprochenen Band S. 54–70.   zurück