Zeuch über Zedelmaier / Mulsow: Gelehrtenpraktik und Wissensbegriff in der Frühen Neuzeit

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Ulrike Zeuch

Gelehrtenpraktik und Wissensbegriff in der Frühen Neuzeit

  • Helmut Zedelmaier und Martin Mulsow (Hg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. (Frühe Neuzeit, Bd. 64) Tübingen: Max Niemeyer 2001. VI, 361 S. 12 Abb. Geb. DM 176,-.
    ISBN 3-4843-6564-1.


Wer einen Überblick über Praktiken der Gelehrsamkeit der Frühen Neuzeit gewinnen möchte, hat mit dem von Helmut Zedelmaier und Martin Mulsow herausgegebenen Band ein informatives, an Quellenmaterial reiches Buch zur Hand. Allerdings verspricht der Titel in einer Hinsicht zu viel, in anderer Hinsicht zu wenig. Thema des Bandes sind nicht die Praktiken im umfassenden Sinne und mit dem Anspruch auf Vollständigkeit; das machen die Herausgeber im Vorwort auch deutlich: "Institutionen der Gelehrsamkeit, wie Schule, Universität und Akademie" (S.3) werden nicht eingehend untersucht, "einige für die Wissenskultur der Frühen Neuzeit wichtige Gesichtspunkte fehlen ganz" (ebd.), etwa, wie die Herausgeber anführen, der gelehrte Briefwechsel. Die untersuchten Praktiken sind auf der anderen Seite nicht auf solche der Frühen Neuzeit beschränkt. Das 18. Jahrhundert ist in mehreren Beiträgen Thema. Die sachliche Berechtigung dazu leuchtet unmittelbar ein, da, wie diese Beiträge nahelegen, die Praktiken vor 1800 ohne die Voraussetzungen der frühen Neuzeit hinsichtlich dessen, wie man mit überliefertem Wissen umzugehen, es sich anzueignen und weiter zu vermitteln hat, kaum verstehbar sind.

Der Band behandelt in seinen Beiträgen vier thematische Aspekte:

  1. den Wissenserwerb wie Lesen und Kompilieren,

  2. die Wissensverarbeitung u.a. mit Hilfe des Kommentars,

  3. die Wissensmitteilung sowie schließlich

  4. die Bedingungen, unter denen die Praktiken durchgeführt werden, wie etwa Zensur.

Wissenserwerb

Robert Folger zeigt anhand der Anacephaleosis von 1456, einer Chronik der kastilischen Königsdynastie von Alfonso de Cartagena, wie frühneuzeitliche Historiographie die vom Leser zu erbringende Leistung, Kenntnisse geschichtlicher Daten, Genealogien und Herrscherfolgen verfügbar zu haben, mnemotechnisch durch Textgestaltung (Kapiteleinteilung, Zusammenfassungen, Illuminationen) und einen den Leser nicht überfordernden Umfang unterstützt;

Helmut Zedelmaier kommt anhand einer exemplarischen Untersuchung von Leseweisen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, und zwar dem frommen (häuslichen), dem gelehrten und dem aufgeklärten Lesen, zu dem Ergebnis, daß das häusliche Lesen "bis ins 19. und 20. Jahrhundert ausstrahlt" (S.27), hingegen das gelehrte, an bewährten Autoritäten orientierte Lesen im 18. Jahrhundert abgelöst werde durch selbsttätiges Lesen;

Florian Neumann legt am Beispiel von Jeremias Drexels Aurifodina von 1638 die Exzerpierkunst jesuitischer Rhetoriklehrer dar: Das selbsttätige, individuelle Verzeichnen von für den Leser Notierenswertem unabhängig vom ursprünglichen Textzusammenhang unter folgenden Rubriken: Stichworte und Fundort des exzerpierten Textes, Definitionen zu Begriffen, beispielhafte Ereignisse, ferner 27 loci communes wie Tugend, Laster, Krankheit usf. sowie Profanes vs. Sakrales — ein kompliziertes und umständliches, aber seinerzeit weit verbreitetes und fortwirkendes Verfahren;

Martin Gierl faßt die Merkmale der frühaufklärerischen Wissensverwaltung unter den Begriffen >Eklektik<, >Vollständigkeit< im Zugänglichmachen des vorliegenden Wissens und >Kompilation< zusammen. Die für die Frühaufklärung zentralen Medien sind: Handbücher der historia litteraria, gelehrte Zeitungen, moralische Wochenschriften und Lexika. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden die Zeitschriften "zur Bühne des Privaturteils" (S.93).

Wissensverarbeitung

Ralph Häfner erörtert am Beispiel der Pindar-Edition von Erasmus Schmid von 1616 u.a. die Prinzipien gelehrter Kommentierung: neben dem textkritischen Editionsbericht und der Kritik des überlieferten Textes Rhetorisierung an Stelle von Christianisierung, Herausstellen der formalen Struktur, die durch die christliche Dichtung nachgeahmt und von dieser übertroffen wird, topisch memorative Entfaltung der Struktur mit Hilfe von Synopsen, Analyse der logischen Argumentationsstruktur, des Metrums und des Stils;

Peter N. Miller widmet seinen Beitrag der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wachsenden Bedeutung des Pentateuchs in samaritischer Sprache für die Erweiterung polyglotter Bibeln, dem Interesse, das diesem und anderen Manuskripten in samaritischer Sprache von verschiedener Seite — Philologen, Reisenden und Antiquaren — entgegengebracht wird, sowie der Korrespondenz und fachlichen Zusammenarbeit der hinsichtlich Gelehrtenpraktik und Wissenshorizont so Verschiedenen, aber an diesem Thema gleichermaßen Interessierten;

Paul Nelles weist am Beispiel der an der Tradition der historia litteraria orientierten Universität Helmstedt nach, daß und auf welche Weise diese in der Frühaufklärung in der Lehrpraxis Tradition und Innovation vereinbaren kann und die Angleichung an europäische Standards vollzieht. Gegenstand der Untersuchung sind nicht die beiden Funktionen der historia litteraria, Propädeutik und Einführung in geselliges bzw. gesellschaftskonformes Verhalten, selbst, sondern ist ihre Stellung innerhalb der Hierarchie der Disziplinen und im allgemeinen curriculum auf der Grundlage der von Helmstedter Professoren abgehaltenen collegia und des Bestandes der verfügbaren Bibliotheken.

Wissensmitteilung

Thomas Cerbu zeigt am Beispiel des Kirchenhistorikers und Diplomaten Heinrich Julius Blume, welche Schwierigkeiten jemand, der sich als Vermittler zwischen Luthertum und Katholizismus einerseits, politischen Parteiungen andererseits versteht, in der Mitte des 17. Jahrhunderts gewärtigen muß.

Eine konfliktfreie, dafür in der Forschung kontrovers interpretierte Form der Vermittlung behandelt Markus Völkel: Die Beschreibung des repräsentativen, mit universalhistorischen Allegorien versehenen, dem adeligen Hof vorbehaltenen Dresdner Festumzugs 1678 durch den Bürgerlichen Gabriel Tzschimmer und seinen gelehrten Kommentar, der zum zweiten, akademisch-bürgerlichen Teil der Festbeschreibung auffallend extensiv ist und Skepsis gegenüber der Sinnhaftigkeit des Zeremoniells — sorgsam versteckt — zum Ausdruck bringt;

Sandra Pott arbeitet die Spezifik der gelehrten Kommunikation in der Frühaufklärung heraus: Diese steht nicht mehr unter dem Zeichen der critica perennis, die eine Geschlossenheit der Kommunikation und einen Konsens über Normen und Kriterien der Kritik voraussetzt; vielmehr dient die Kommunikation nun der Nachricht, der Kommentierung und der Zusatzinformation zu bereits publizierten Texten in Journalen wie der Bibliothèque Germanique sowie der Polemik im Falle kontrovers diskutierter Fragen wie der nach dem Ursprung des Bösen, die im 18. Jahrhundert mit dem Begriff >Manichäismus< verknüpft ist.

Bedingungen, unter denen die Praktiken
der Gelehrsamkeit stehen

Edoardo Tortarola konstatiert einen Paradigmenwechsel in der Zensurforschung zur Frühen Neuzeit — Zensur sei lange durch die Polemik der liberalen Geschichtsschreibung diskreditiert gewesen —; dieser Wechsel ist in seiner Frage, warum Zensur im Europa der Frühen Neuzeit normal gewesen und wie es dazu gekommen ist, vorausgesetzt. Ursache für die Zensur ist der Anspruch der kirchlichen und der weltlichen Gewalt auf Kontrolle der Kommunikationsformen und die Verflechtung der Interessen und Zensurinstitutionen beider Gewalten; die systematische, praktische Umsetzung der Zensur erfolgt im 16. Jahrhundert langsam; Zensur hat dabei nicht nur repressive, sondern auch konstruktive Funktion; neben deren Verinnerlichung in Form von Autozensur und der Entwicklung von Praktiken, die Zensur zu umgehen, wächst der Druck auf die Zensurinstitutionen, ihre Kriterien offenzulegen;

Martin Mulsow legt dar, wie der Protestant Melchior Goldast, eine schillernde Gestalt, mit Hilfe Schweizer Theologen den in seiner Konfessionszugehörigkeit als "Bäumchen-wechsele-dich" geltenden, schließlich wieder zum Katholizismus konvertierten Justus Lipsius zu kompromittieren unternimmt, indem er Zeugnisse von Lipsius' protestantischer Vergangenheit sammelt und veröffentlicht, das Gerücht aber, daß diese von Goldast und seinen Kollaborateuren fingiert seien, wohl von Lipsius selbst in die Welt gesetzt und von den Jesuiten weiter verbreitet worden ist; dieser spektakuläre Fall wirft zugleich ein Licht auf zeitgenössische Netzwerke: die von Goldast, Lipsius und der Jesuiten;

Hanspeter Marti zufolge gelten üblicherweise folgende Regeln für die öffentlichen Disputationen an der Universität der Frühaufklärung: Die Auflösung konfligierender Positionen seitens des Disputierenden mündet in eine allgemein anerkannte, weder heterodoxe, gar atheistische noch moralisch anstößige Position. Die Festlegung der orthodoxen Position ist jedoch vor allem eine Machtfrage. Das Beispiel des Juristen Theodor Ludwig Lau zeigt, wie der Affekt der Königsberger Theologie, die dem Pietisten Christian Thomasius folgt, gegenüber der Philosophie Christian Wolffs zur Vorzensur bei Disputationen führt. Laus Fall, der die juristische und die theologische Fakultät miteinander verfeindet, dient noch Kant als Folie für seine universitätspolitische Schrift Der Streit der Fakultäten.

Verhältnis von Gelehrtenpratik und Wissensbegriff?

Bei all' diesen erhellenden Einzeluntersuchungen scheinen jedoch Zweifel angebracht gegenüber der theoretischen Voraussetzung der Herausgeber, welche ausgerechnet die Erforschung der Praktiken der Gelehrsamkeit sowie deren Veränderungen zwischen 1500 und 1800 als zentral nahelegen soll. Unbestritten ist, daß es sich hierbei um ein Desiderat handelt. Ich halte es allerdings für wenig wahrscheinlich, daß die Erforschung der Alltagspraxis in Anlehnung an die "History and Sociology of Science" (S.6) Aufschluß gibt über die Spezifik des Wissensbegriffs in der Frühen Neuzeit.

Zwei Gründe scheinen mir dagegen zu sprechen: Gewiß nehmen, wie die Herausgeber (S.3) im Vorwort schreiben, Lesetechniken und Lesemethoden Einfluß auf das Textverständnis. Aber ob ein Text laut oder leise, ob er zu Exzerptions- oder Kompilationszwecken gelesen wird, prägt nicht in erster Linie das Verständnis eines Textes. Dieses wird vielmehr geleitet durch einen bestimmten Vorbegriff des Lesers und die Absicht, die er mit dem durch das Lesen aufgefaßten Inhalt verfolgt. Letztere hat wenig mit der Praxis, dafür um so mehr mit der Art des Wissensbegriffes zu tun, ja noch mehr: Die Art des Wissensbegriffs legt erst eine bestimmte Praxis als für die Aneignung, Bewahrung und Vermittlung von Wissen als besonders geeignet nahe.

Diskontinuität oder Kontinuität der Praktiken?

Der zweite Grund betrifft die Frage, inwiefern die für die Frühe Neuzeit als spezifisch herausgestellten Praktiken für diese tatsächlich spezifisch und gleichzeitig uns damit fremd sind, wie die Herausgeber meinen (S. 7). Daß diese Fremdheit, von der diese als "heuristische[r] Maxime" zunächst auszugehen für sinnvoll halten, doch nicht so einfach als geltend vorauszusetzen ist, zeigt ihre eigene Einschränkung:

Natürlich könnte man auch Kontinuitäten feststellen: critica perennis wird auch heute noch im wissenschaftlichen Austausch erwünscht, und die Zusammenarbeit von Empirikern, Kommunikatoren und Textspezialisten kann auch in der Gegenwart zu beachtlichen Ergebnissen führen. (ebd.)

Aber nicht nur ihre eigene Einschränkung deutet darauf hin, daß die Annahme einer Kontinuität der Methoden und des Wissensbegriffs durchaus ihre Plausibilität hat; auch die Beiträge des Bandes selbst legen diesen Schluß nahe.

So ist die Kompilation als literarische Praxis Gierl (S.66) zufolge ein "grundlegende[s] Verfahren der Textproduktion" im Mittelalter bis weit ins 18. Jahrhundert. Weder sind die staatliche Zensur noch die Zensur infolge persönlicher Rivalitäten im akademischen Bereich für das 18. Jahrhundert spezifisch (S.6), noch ist das schnelle Lesen eine Besonderheit des 20. Jahrhunderts, wie die Ausführungen von Neumann zu Plinius dem Älteren (S.53 f.) belegen; die Prinzipien der Eklektik einerseits, der Anspruch auf Vollständigkeit im Sammeln empirischer Daten andererseits ist nicht nur leitend für die Kompilation von Wissen im 18. Jahrhunderts; diese macht ebenso das Zeitalter des Internet für sich geltend; mit dem Wissen exzerpierenden und akkumulierenden Zettelkasten arbeiten die Jesuiten im 17. Jahrhundert, aber auch Wissenschaftler und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts wie etwa Thomas Mann, auch wenn die systematische Ordnung entfällt; deren Auflösung ist aber im universalen Anspruch der Enzyklopädik des 17. Jahrhunderts bereits angelegt, zumal bereits im 17. Jahrhundert von einer Orientierung an einer festgelegten und allgemeinverbindlichen Ordnungsstruktur zugunsten flexibler, ungebundener, individueller Systeme Abstand genommen wird (S.23); die Ordnungseinheit Quodlibetica oder Miscella wird dabei zum Sammelort alles dessen, was sich nicht zuordnen läßt.

Wenn aber das Leseverhalten weder das entscheidende und prägende Moment für das Textverständnis noch spezifisch für die Frühe Neuzeit ist, dann ist zu erwägen, ob nicht der Wissensbegriff, der den Praktiken zugrunde liegt, zu den in dem Band in den Einzelbeiträgen erzielten Ergebnissen in Beziehung zu setzen sinnvoll wäre. Eine entsprechende Ergänzung würde diesem Band mit seinen an sich verdienstvollen Untersuchungen im Hinblick auf die Forschung zur Frühen Neuzeit insgesamt mehr Gewicht verleihen.


PD. Dr. Ulrike Zeuch
Herzog August Bibliothek
Arbeitsstelle 18. Jahrhundert
Postfach 1364
D-38299 Wolfenbüttel

Ins Netz gestellt am 25.09.2001
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