Zimmermann über Ewers: Literatur für Kinder und Jugendliche

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Holger Zimmermann

Kinder- und Jugendliteratur als
Handlungs- und Symbolsystem

  • Hans-Heino Ewers: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in grundlegende Aspekte des Handlungs- und Symbolsystems Kinder- und Jugendliteratur (UTB; 2124) München: Fink 2000. 320 S. Kart. € 20,-.
    ISBN 3-8252-2124-5.


Kinder- und Jugendliteratur hat Konjunktur und dies nicht erst seit dem Verkaufserfolg der Abenteuer eines britischen Zauberschülers. Bereits seit einigen Jahren ist eine merkliche Zunahme des Angebots an qualitativ hochwertigen Texten gerade auch auf dem deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchmarkt zu beobachten. Dies wiederum blieb — mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung — nicht ohne Folgen für die Kinder- und Jugendliteraturforschung, die in den vergangenen 10 Jahren zahlreiche wichtige Impulse erhielt und so zunehmende Beachtung innerhalb der Kultur- und Literaturwissenschaften gefunden hat. Dennoch fehlte lange Zeit ein Grundlagenwerk zur Theorie der Kinder- und Jugendliteratur, das als Basis für eine Beschäftigung mit dem Gegenstand in Forschung und Lehre herangezogen werden konnte. Hans-Heino Ewers, Leiter des Instituts für Jugendbuchforschung an der Universität Frankfurt, hat nun einen Einführungsband vorgelegt, dessen Anspruch es ist, diesen Mangel "wenigstens ein Stück weit zu beheben", 1 um somit die Kinder- und Jugendliteraturforschung auf ein solideres terminologisches Gerüst zu stellen.

Zur Konzeption des Bandes

Hans-Heino Ewers verfolgt das Ziel einer übergreifenden an literaturwissenschaftlichen Maßstäben orientierten Einführung in grundlegende Aspekte und Funktionsweisen der Gattung. Untersuchungsgegenstand ist die gesamte Kinder- und Jugendliteratur seit der Epoche der Aufklärung. Der Hauptaspekt der Darstellung liegt dabei auf der Klärung bzw. Schaffung eines Begriffsinventars zur Beschreibung des Gegenstandes bzw. des >Handlungs- und Symbolsystems< Kinder- und Jugendliteratur. Der Versuch, dem Leser eine derart umfassende Einführung in die Strukturen der Kinder- und Jugendliteratur zu geben, scheint gewagt, wurde doch der letzte Versuch einer monographischen Einführung in die Theorie der Kinder- und Jugendliteratur vor inzwischen fast 30 Jahren von Göte Klingberg unternommen. 2 Angesichts der Vielzahl an Publikationen zu Einzelaspekten der Kinder- und Jugendliteratur ist eine Klärung der theoretischen Grundlagen inzwischen jedoch ein durchaus notwendiges Anliegen.

Die Konzentration auf die Behandlung theoretischer Fragen lässt, so bekennt der Verfasser in seiner Einleitung, leider keinen Raum für die Darstellung traditioneller kinder- und jugendliterarischer Darstellungsbereiche, die sich mancher Leser in einem Einführungsband wünschen würde. Um eine Einführung in die Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur oder in einzelne Teilbereiche der Gattung — z.B. Fragen kindlicher und jugendlicher Textrezeption, interkulturelle Fragestellungen oder der zunehmend bedeutende Bereich der Kinder- und Jugendmedien — zu erhalten, muss der Benutzer auf andere Werke, etwa das von Günter Lange herausgegebene "Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur" zurückgreifen. 3 Eine Ausnahme von der Praxis einer engen Betrachtung des Gegenstandes bilden in dem Einführungsband nur die aufschlussreichen Ergänzungen zum Kinder- und Jugendtheater von Gerd Taube.

Kinder- und Jugendliteratur wird in der universitären Lehre weiterhin vor allem im Rahmen der Fachdidaktik behandelt und die Analyse der Verwendungsmöglichkeiten kinder- und jugendliterarischer Texte unter schulischen Gesichtspunkten ist ein wichtiger Teilbereich bei der Beschäftigung mit der Gattung. Die Ausgrenzung des Untersuchungsgebietes "Schule und Unterricht" erscheint daher auf den ersten Blick bedauerlich, eine gewinnbringende didaktische Forschung ist allerdings ohne die Klärung der so genannten fachwissenschaftlichen Grundlagen nicht möglich. Eine kompakte Einführung in die wichtigsten Tendenzen der Kinder- und Jugendliteratur der vergangenen 30 Jahre mit zahlreichen Beispielen zur didaktischen Umsetzung im (Schul-) Unterricht liegt derzeit zudem mit dem von Carsten Gansel verfassten Band "Moderne Kinder- und Jugendliteratur" vor. 4

Aufbau und Gestaltung

Die Absicht, dem vorwiegend studentischen Benutzer ein erschwingliches und übersichtliches Grundlagenwerk zu präsentieren, lässt sich an Aufbau und Gestaltung des Bandes erkennen. Das Buch gliedert sich in acht überschaubare Kapitel, die auf der Basis eines systemtheoretischen Beschreibungsmodells in grundlegende Aspekte der Kinder- und Jugendliteratur einführen. Die einzelnen Kapitel werden jeweils mit einer knappen, aber dennoch umfassenden Bibliographie abgeschlossen. Am Ende des Bandes findet sich eine ausführliche von Annegret Völpel klug zusammengestellte 40—seitige Bibliographie, die Ausgangspunkt für eine intensivere Beschäftigung mit Einzelaspekten der Gattung sein kann. Eine Reihe interessanter, wenn auch recht klein gehaltener Illustrationen rundet das positive Gesamtbild ab. Angesichts der Benutzerfreundlichkeit mag nur das fehlende Register stören, ein Verzeichnis der Fundstellen der wichtigsten in dem Band eingeführten Fachtermini ersetzt diese Lücke leider nur teilweise.

Was ist Kinder- und Jugendliteratur?

Das Bemühen um eine schlüssige für einen Einsteiger in die Materie klar verständliche Beschreibung bzw. Klassifikation der Teilbereiche der Kinder- und Jugendliteratur ist von Beginn des Bandes an deutlich zu erkennen. Hans-Heino Ewers versucht mit einer Reihe von Definitionen den Beschreibungsgegenstand einzugrenzen. Dabei greift der Verfasser auf gebräuchliche Termini der Kinder- und Jugendliteraturforschung zurück und definiert diese präzise in einer Reihe von so genannten >Explikationen<. Gleichzeitig entwirft der Autor aber in den Fällen, in denen er das traditionelle Beschreibungsmodell der Forschung für unzureichend erachtet, auch neue >Explikatione<. Das Ergebnis ist ein in sich schlüssiges Beschreibungsinventar, das die Zusammenhänge eines >Handlungs- und Symbolsystems Kinder- und Jugendliteratur< überzeugend, wenn auch in terminologisch mitunter recht komplexer Weise, darstellen kann.

Den Entwurf einer festen Definition des Gegenstandes >Kinder- und Jugendliteratur< lehnt Hans-Heino Ewers dabei ab. Der Verfasser versteht diese Gattung vielmehr als ein System von sich untereinander verändernden Teilbereichen, die sich durch verschiedene zumeist außertextuelle Faktoren konstituieren. Dieses Vorgehen steht in scheinbarem Widerspruch zu der in der Kinder- und Jugendliteraturforschung weit verbreiteten Praxis, einzelne Textkorpora wie z.B. das >historische Jugendbuch<, das >Abenteuerbuch< oder die >phantastische Kinder- und Jugendliteratur< zu bilden und diese in ihrer Gesamtheit zu untersuchen. Dass derartige Korpusbildungen für diese Forschungsrichtung sinnvoll und ertragreich sein können, wird von Hans-Heino Ewers nicht in Frage gestellt. Als Grundlage für die Beschreibung der Gattung als Ganzes scheinen ihm diese Korpora allerdings nicht geeignet. 5

Handlungssystem Kinder- und Jugendliteratur

Kinder- und Jugendliteratur lässt sich, so der Verfasser, am deutlichsten durch einzelne Handlungsmuster bzw. -rollen beschreiben. Verlage, Schulen, Bibliotheken und andere an der Gestaltung und Vermittlung von Kinder- und Jugendliteratur beteiligte Instanzen werden als mitunter sich ergänzende, mitunter konkurrierende Vermittlungsinstanzen (>Subsysteme<) vorgestellt, die gemeinsam ein >Handlungssystem Kinder- und Jugendliteratur< bilden. Die Existenz dieser spezifischen >Subsysteme< ist für Hans-Heino Ewers das herausragende Unterscheidungsmerkmal der Kinder- und Jugendliteratur von anderen Literatursystemen. Dem Leser werden die einzelnen >Subsysteme< in einem Überblick vorgestellt, gleichzeitig erhält er dabei eine Fülle teils versteckter Hinweise auf Institutionen, bei denen aktuelle Informationen zur Kinder- und Jugendliteratur bezogen werden können.

Kinder- und jugendliterarische Kommunikation

Auf welche Weise kommunizieren nun aber die an dem >Handlungssystem Kinder- und Jugendliteratur< beteiligten >Subsysteme<? Auch hier bedient sich Hans-Heino Ewers außertextueller Beschreibungsmodelle, d.h. er untersucht die Frage nach der Kommunikation zwischen realen Personen. Kinder- und jugendliterarische Texte werden nur dann in die Analyse einbezogen, wenn sie sich "als Träger bzw. Materialisationen von kommunikativen Intentionen realer Personen erweisen" 6 . Das Hauptmerkmal der kinderliterarischen Kommunikation ist für den Verfasser die >Doppeltadressiertheit< kinderliterarischer Texte.

Kinder- und Jugendliteratur wende sich, so das bereits 1990 von Hans-Heino Ewers entwickelte Modell, 7 an zwei Instanzen: Vordergründig sind die kindlichen oder jugendlichen Leser die eigentlichen Adressaten der Texte, daneben müssen aber auch die häufig erwachsenen Käufer des Kinder- oder Jugendbuches sowie dessen ebenfalls erwachsene Vermittler (z.B. Buchhändler, Bibliothekare oder Pädagogen) in ein kinderliterarisches Kommunikationsmodell einbezogen werden. So zeigt der Verfasser eine Vielzahl an paratextuellen Beispielen, die die >Doppeltadressiertheit< einzelner Kinder- und Jugendbücher belegen. Neben ihrer Vermittlerrolle treten Erwachsene jedoch auch als Leser in Erscheinung. Kinder- und jugendliterarische Texte reagieren auf diesen erweiterten Leserkreis mit unterschiedlichen Strategien, die unter dem Begriff der >Mehrfachadressiertheit< untersucht wurden.

Die Ausführungen zum Bereich der kinderliterarischen Kommunikation zeigen deutlich die Stärken des Beschreibungsansatzes von Hans-Heino Ewers. Dem Leser wird ein differenziertes Instrumentarium vermittelt, mit dem die Kommunikationsstukturen innerhalb des Kinder- und Jugendliteraturmarktes präzise beschrieben werden. Das Begriffsinventar mag einen ungeübten Leser jedoch an den Punkten verwirren, an denen die alltagssprachliche Bedeutung in scheinbarem Widerspruch zu dem entwickelten Fachbegriff steht. Für die Annäherung an innertextuelle Kennzeichen einer >Mehrfachadressiertheit< der Texte ist der Leser zudem auf die eigene Suche in den genannten Beispielstexten angewiesen.

>Folklore< und >Literatur<

Die Breite des Untersuchungsansatzes der Einführung in die Kinder- und Jugendliteratur wird bei der Darstellung der kinder- und jugendliterarischen >Traditonsverwendungspraxen< deutlich. Zur Annäherung an die Frage der Diachronie der Gattung greift Hans-Heino Ewers auf Untersuchungen Roman Jakobsons und Petr Bogatyrevs aus den späten 20er Jahren zurück. Analog zu Jakobson und Bogatyrev unterscheidet auch der Verfasser zwischen mündlichen und schriftlichen Traditionsverwendungstypen (>Folklore< und >Literatur<) und ergänzt diese durch den Mischtyp der >schriftlichen Folklore<. 8 Gerade die Bedeutung mündlichen Erzählens für die Kinderliteratur wird von der Forschung gerne vernachlässigt, obwohl in nur wenigen Gattungen ein derart hoher Anteil an Formelementen mündlichen Sprechens nachzuweisen ist. 9 Die ausführliche Behandlung dieses Bereiches in dem Einführungsband ist daher besonders hervorzuheben. Die Darstellung der einzelnen Traditionsverwendungstypen zeigt dann, dass scheinbar aktuelle Erzählformen in der Kinder- und Jugendliteratur, z.B. die derzeit sehr beliebten >Discnovels<, häufig nur modernisierte Ausprägungen eines durchaus nicht modernen Erzählprinzips sind.

Zur Rolle des Autors

Die Stellung des Autors innerhalb des >Subsystems< Kinder- und Jugendliteratur markiert nach Hans-Heino Ewers einen der markantesten Unterschiede der Gattung zu der Literatur für erwachsene Leser. Kinder- und Jugendliteratur werde, so die These des Verfassers, außerhalb des professionellen Diskurses "weiterhin primär nicht als Autoren-Literatur, sondern als Zielgruppen-, als Themen- und als Gebrauchsliteratur" 10 wahrgenommen, so dass die Autorfigur für die Gattung ein nur nachrangiges Ordnungselement darstelle. Auch im Selbstverständnis der Kinder- und Jugendbuchautoren ließen sich Unterschiede erkennen: Kinder- und Jugendbuchautoren definierten sich nicht immer primär durch das von ihnen geschaffene Werk, sondern oft auch durch ihre sozialen Handlungsweisen, beispielsweise durch ihre Rolle als Erzieher und Pädagogen.

Neben ihrem Selbstverständnis ist für Hans-Heino Ewers die Art der literarischen Verarbeitung von Kindheit ein zweites, wesentliches Unterscheidungsmerkmal. Neben dem Entwurf einer idealen Kindheit zum Zweck der Erziehung könne zwischen einer "naiven", einer "sentimentalischen" und einer "kritischen" Sichtweise auf Kindheit unterschieden werden. 11 Aus diesen Koordinaten erstellt der Verfasser ein Schema, mit dem die Position verschiedener Autoren innerhalb des >Systems Kinder- und Jugendliteratur< beschrieben werden kann. Dieses Modell kann jedoch nicht mehr als eine Grundlage für die weitere Beschäftigung mit den Schriftstellern darstellen. Innerhalb eines professionellen Diskurses über Kinder- und Jugendliteratur — und in diesen will der Band den Benutzer einführen — ist eine intensivere Beschäftigung mit einzelnen Autorenoeuvres zwingend notwendig. Moderne Autorinnen und Autoren wie Kirsten Boie, Peter Härtling oder Mirjam Pressler und deren komplexes Gesamtwerk lassen sich nur schwer in ein Schema einordnen.

Kinder- und Jugendliteraturnormen und -konzepte

Hans-Heino Ewers nähert sich in der Einführung dem Gegenstand Kinder- und Jugendliteratur zuerst auf der Ebene des >Handlungssystems Kinder- und Jugendliteratur< durch die Beschreibung textexterner Merkmale. Dieses >Handlungssystem< wird auf einer textinternen bzw. textuellen Ebene durch ein >Symbolsystem Kinder- und Jugendliteratur< ergänzt, das sich aus der Gesamtheit der "Konstruktionsregeln und Semantiken" der Gattung ergibt. 12 Hans-Heino Ewers sieht durch dieses Symbolsystem allerdings nicht nur einzelne Werke, sondern auch gattungsübergreifende Normen und Konventionen erfasst.

Der Verfasser unterscheidet dabei zwischen vier grundlegenden epochenübergreifenden Normen, die für die Gattung Kinder- und Jugendliteratur charakteristisch sind (KJL als didaktische Literatur, KJL als kind- und jugendgemäße Literatur, KJL als vollwertige Ausprägung von Literatur und KJL als Wiedergeburt der Volkspoesie). Aus dem Verhältnis der einzelnen Normen untereinander lassen sich dann verschiedene Konzepte von Kinder- und Jugendliteratur ermitteln, die wiederum als Grundlage für die Bildung kinder- und jugendliterarischer Korpora dienen. Der Autor weist in diesem Zusammenhang aber zurecht darauf hin, dass eine derart hohe Differenzierung in der Alltagspraxis der Arbeit mit Kinder- und Jugendliteratur zu Vermittlungsproblemen führt, da innerhalb der einzelnen >Subsysteme< oft Kompetenzen und auch institutionelle Voraussetzungen für eine angemessene Theoriearbeit fehlen. 13

Schreiben in der Kniebeuge? Kinder-
und jugendliterarische Akkommodation

Die Orientierung der Texte an den vermeintlichen Interessen, Bedürfnissen und Fähigkeiten ihrer heranwachsenden Leser ist ein zentrales Merkmal der Kinder- und Jugendliteratur. Ging man in den Anfangsjahren der Kinder- und Jugendliteraturforschung noch von der einfachen Vorstellung einer >Anpassung< an den kindlichen und jugendlichen Leser aus — Erich Kästner bezeichnete diese Einstellung ironisch als "Schreiben in der Kniebeuge" —, so entwickelten sich ab den 60er Jahren differenziertere Beschreibungsmuster. Wegweisend waren hier die Arbeiten Theodor Brüggemanns und Malte Dahrendorfs, in denen der Begriff der >Anpassung< durch den neutralen Terminus >Adaption< ausgetauscht wurde. 14 Hans-Heino Ewers ersetzt den bis heute in der Kinder- und Jugendliteraturforschung gebräuchlichen Begriff, da dieser in der Literaturwissenschaft auch in anderem Kontext verwendet wird, nun durch den Terminus "Akkommodation", der dem entwicklungspsychologischen Konzept Jean Piagets entnommen wurde. In Abgrenzung zu dem Akkommodationsbegriff bei Piaget ist es aber nicht das Kind oder der Jugendliche, der sich an seine Umwelt anpasst, vielmehr übernimmt der kinderliterarische Text selbst die Position des Subjekts, das sich in der Beziehung zu seiner Umwelt, dem Leser, entwickelt. 15

Die wesentlichen Inhalte des von Brüggemann, Dahrendorf und später auch von Göte Klingberg untersuchten Adaptionsbegriffes, z.B. Kind- und Jugendgemäßheit in sprachlich-stilistischer, formaler oder stofflich-inhaltlicher Hinsicht, werden in der Einführung als Grundlage beibehalten und in Anpassung an die Terminologie des Verfassers neu beschrieben. Mit der Untersuchung paratextueller, thematischer und normativer Anpassung an kindliche und jugendliche Leseinteressen werden darüber hinaus drei neue Aspekte der >Akkommodation< dargestellt. Interessant sind dabei vor allem Ewers Ausführungen zur Frage der Beschäftigung der Texte mit für Kinder und Jugendliche relevanten — akzeptierten und umstrittenen — Normen. Die umfangreichen Ausführungen werden abschließend durch die Musteranalyse zweier Kinderbücher, "Der kleine Wassermann" von Otfried Preußler und "Ben liebt Anna" von Peter Härtling, in sehr anschaulicher Weise verdeutlicht. Ein im Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur noch wenig geübter Benutzer erhält so erstmals ein anschauliches Beispiel dafür, wie die theoretische Konzeption von Hans-Heino Ewers in praktische Analysearbeit umgesetzt werden kann.

Kinderliteratur als Anfängerliteratur

Den Abschluss des Bandes bildet eine ausführliche Darstellung der Frage nach den besonderen Merkmalen von Kinderliteratur als Literatur für Leseanfänger. Ausgangspunkt für die Untersuchung dieses noch jungen Forschungsfeldes war in den 80er Jahren eine Untersuchung Maria Lypps, in der die Kategorie der >Einfachheit< zum konstitutiven Wesensmerkmal kinderliterarischer Texte erklärt wurde. 16 In Anlehnung an das Modell der Entwicklungsphasen von Jean Piaget skizziert Hans-Heino Ewers wichtige Stationen des Erwerbs literarischer Kompetenz bei Heranwachsenden und zeigt Merkmale >einfacher< Textstrukturen in Kinderbüchern auf. Am Beispiel von Kinderlyrik und von Kindergeschichten entwickelt der Verfasser ein Stufenmodell des Übergangs von Oralität zur Literalität, in das die einzelnen Texte für Leseanfänger eingeordnet werden. In knapper und prägnanter Form erhält der kinderliterarische Laie so ein gutes Orientierungsraster für diesen oft unbekannten und noch intensiver zu erarbeitenden Bereich der Kinderliteratur.

Ein Standardwerk?

Die Einführung in die Kinder- und Jugendliteratur von Hans-Heino Ewers schließt eine wichtige Lücke im Bereich der literaturwissenschaftlich orientierten Kinder- und Jugendliteraturforschung. Erstmals seit fast 30 Jahren wird einem interessierten Fachpublikum wieder eine umfassende und benutzerfreundliche Einführung in Grundlagen der Kinder- und Jugendliteraturtheorie vorgelegt. Das von Hans-Heino Ewers entwickelte Theoriemodell kann gewinnbringend als Basis für eine intensivere Beschäftigung mit kinder- und jugendliterarischen Texten in Forschung und Lehre herangezogen werden. Die Lektüre weckt aber auch den Wunsch nach einer gleichrangigen Einführung in die didaktische Kinder- und Jugendliteraturforschung, da dieser in der Praxis der Arbeit mit Kinder- und Jugendbüchern elementare Aspekt durch den Band nicht abgedeckt werden kann. Insgesamt ist die Einführung in die Kinder- und Jugendliteratur daher eine gute und wichtige Orientierungshilfe für die Einführung in den Gegenstand sowie eine umfassende Grundlage für die weitergehende Beschäftigung mit einzelnen kinder- und jugendliterarischen Texten.


Holger Zimmermann
Ludwig-Maximilians-Universität München
Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur
Schellingstr.5
D-80799 München

Ins Netz gestellt am 05.02.2002
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Anmerkungen

1 Ewers: Literatur für Kinder und Jugendliche, S. 9.   zurück

2 Göte Klingberg: Kinder- und Jugendliteraturforschung. Eine Einführung. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1973.   zurück

3 Günter Lange (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2000 (2 Bde.).   zurück

4 Carsten Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen Scriptor 1999.   zurück

5 Vgl. hierzu auch Ewers: Was ist Kinder- und Jugendliteratur? Ein Beitrag zu ihrer Definition und zur Terminologie ihrer wissenschaftlichen Beschreibung. In: Lange: Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur (Anm. 3), Bd. 1, S. 2—16. Ewers verwirft hier auf poetologischen Beschreibungsmustern basierende Definitionsversuche der Gattung, dennoch soll an dieser Stelle auf die Existenz dieser Modelle in der Kinder- und Jugendliteraturforschung hingewiesen werden.   zurück

6 Ewers: Literatur für Kinder und Jugendliche, S. 93.   zurück

7 Vgl. Hans-Heino Ewers: Das doppelsinnige Kinderbuch. Erwachsene als Mitleser und als Leser von Kinderliteratur. In: Kinderliteratur — Literatur auch für Erwachsene? Zum Verhältnis von Kinder- und Erwachsenenliteratur. Hrsg. v. Dagmar Grenz. München: Fink 1990, S. 15—24.   zurück

8 Vgl. Roman Jakobson u. Petr Bogatyrev: Die Folklore als eine besondere Form des Schaffens. In: Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921—1971, hg. v. E. Holenstein u. T. Schelbert. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1979, S. 140—157. Zur Herkunft des Begriffs >schriftliche Folklore<. Aleida Assmann: Schriftliche Folklore. Zur Entstehung und Funktion eines Überlieferungstyps. In: Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, hg. v. Aleida u. Jan Assmann u. Christof Hardmeier. München: Fink 1983, S. 175—193.   zurück

9 Eine der wenigen Ausnahmen ist der Bereich der Kinderlyrik s. dazu Kurt Franz u. Hans Gärtner (Hg.): Kinderlyrik zwischen Tradition und Moderne, Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 1996.   zurück

10 Ewers: Literatur für Kinder und Jugendliche, S. 152.   zurück

11 Vgl. das Schema "Autortypen im kinderliterarischen Bereich", (Anm. 10), hier S. 169.   zurück

12 Vgl. ebd., S. 176. Zur Theoriediskussion der Begriffe >Handlungs-< und >Symbolsystem< s. Carsten Gansel: Systemtheorie und Kinder- und Jugendliteraturforschung. In: Kinder- und Jugendliteraturforschung 1994 / 95. Stuttgart u. Weimar: Metzler 1995. S. 24—42.   zurück

13 Vgl. Ewers: Literatur für Kinder und Jugendliche, S. 197.   zurück

14 Theodor Brüggemann: Literaturtheoretische Grundlagen des Kinder- und Jugendschrifttums. In: Ernst G. Bernstorff: Aspekte der erzählenden Jugendliteratur. Baltmannsweiler: Schneider 1977, S. 14—34 u. Malte Dahrendorf: Dichtung und Jugendliteratur. Didaktischer Versuch einer Wesensbestimmung. In: Zeitschrift für Jugendliteratur 7 (1967), S. 385—400.   zurück

15 Zur Übertragung der Konzeption Piagets auf die Kinder- und Jugendliteratur vgl. Karl Ernst Maier: Das Prinzip des Kindergemäßen und das Kinderbuch. In: Umstrittene Jugendliteratur, hg. v. Horst Schaller. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 1976, S. 118—142.   zurück

16 Maria Lypp: Einfachheit als Kategorie der Kinderliteratur. Frankfurt / M.: dipa 1984.   zurück