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Quo vadis, Geschlechterforschung?

Polyphonie und Richtungsweisung
in den Gender Studies

  • Sabine Müller / Sabine Schülting (Hg.): Geschlechter-Revisionen. Zur Zukunft von Feminismus und Gender Studies in den Kultur- und Literaturwissenschaften. (Kulturwissenschaftliche Gender Studies 9) Königstein/Taunus: Ulrike Helmer 2006. 280 S. Broschiert. EUR (D) 22,00.
    ISBN: 978-3-89741-206-4.
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›Entdecke die Möglichkeiten‹ –
Re-Vision einer Disziplin

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Den Feminismus oder die Geschlechterforschung gibt es nicht mehr – und fraglich ist, ob es eine solche Einheit je gegeben hat (oder hätte geben sollen). (S. 15)
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Es ist nicht nur die Heterogenität des Forschungsfeldes der Gender Studies selbst, die ihre Revision als Desiderat erscheinen lässt, sondern auch die zunehmende Infragestellung und Anfechtung von Grundannahmen dieser Disziplin. Eine dieser Grundannahmen ist es, dass Geschlecht zu den soziokulturell konstruierten Differenzkategorien gehört, die Individuen gesellschaftlich positionieren und Handlungsmöglichkeiten eröffnen oder verschließen. Heute erstarken wieder vermehrt solche Diskurse, die die Geschlechterdifferenz als vermeintlich biologisches Faktum darstellen, um auf diese Weise soziale Ausschlüsse als ›natürliche‹ zu fundieren. Ebenso sehr stellt der disziplineigene Begriff des Postfeminismus, der nicht nur als »Revision feministischer Grundannahmen« (S. 16), sondern auch als Epoche nach dem Feminismus angesichts seiner – scheinbaren – Irrelevanz verstanden werden kann, die Geschlechterforschung in Frage. Wenn zudem jemand wie Eva Hermann öffentlichkeitswirksam die Errungenschaften des Feminismus mit Füßen tritt und im Eva-Prinzip darüber doziert, was im Gegensatz zu Emanzipation »wirklich wichtig ist«, 1 wenn heute spürbar wird, dass sich, von der Populärkultur bis in die universitäre Ausbildung hinein, biologi(sti)sche Diskurse für viele als die plausibleren herausstellen, scheint eine Re-Vision der Disziplin mehr als angebracht.

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Struktur und Themen von
GeschlechterRevisionen

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Die Zielsetzung des ersten Teils des Sammelbandes ist es zunächst, das Verhältnis von Feminismus, Postfeminismus und Gender Studies näher zu beleuchten. Der zweite Teil, »Neuordnungen der Geschlechter(forschung)«, widmet sich einer kritischen Revision von Theorien, Methoden und Konzepten der Gender Studies, während in einem dritten Teil, »Visionen und Reproduktionen der Geschlechter«, posthumane Utopien einer geschlechtsunabhängigen Konstruktion von Identität hinterfragt werden; in der Analyse von Medizintechnik und Science Fiction wird gezeigt, wie sehr diese Bereiche die Kategorie Geschlecht ideologisch prägen.

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Die sehr unterschiedlichen Schwerpunkte der einzelnen AutorInnen erschließen in ihrer Gesamtheit zu einem großen Teil das weite Themenfeld der Gender Studies, wobei es den Herausgeberinnen weniger darum geht, das Gebiet erschöpfend oder abschließend zu beleuchten, als darum, ein Forum für »kontroverse Diskussionen« (S. 15) zu bieten. Der Band zeugt auf diese Weise von der produktiven Polyphonie der Gender Studies. In der eingehenden Auseinandersetzung »mit kulturellen Symbolisierungsstrategien und Wissensformationen in den unterschiedlichen Medien« (S. 16), die jeweils auf ihre Weise Geschlecht inszenieren, kann einstimmig belegt werden, wie eminent wichtig die Beschäftigung mit Geschlecht heute immer noch – und sogar gerade heute – ist.

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(Sub-)Disziplinen
der Gender Studies

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Mit Elfi Bettinger eröffnet eine Spezialistin für Virginia Woolf die Revision des disziplinären Terrains. In ihrem Artikel »Changing Subjects – Women’s Studies, Gender Studies und Virginia Woolf in The Hours« bietet Bettinger eine konzise Analyse der medialen Adaption von Woolfs Biographie sowie ihres Romans Mrs Dalloway (1925) in Michael Cunninghams The Hours (1998) sowie der gleichnamigen Verfilmung seines Romans von Stephen Daldry (2002); daneben liefert sie einen Kurzabriss der Entwicklung und spezifischen Ausrichtung zweier zentraler Ausprägungen der Geschlechterforschung. Mit Rekurs auf Lacans Konzept des Spiegelstadiums macht sie mögliche Gründe für die inkohärente Inszenierung performativ gefassten Geschlechts einerseits sowie das Bedürfnis nach Selbstidentität andererseits in The Hours transparent. Gleichzeitig ermöglicht ihr dieses Konzept, der heterogenen Disziplin mehr – zumindest imaginäre – Ganzheit und somit mehr Schlagkraft zu verleihen.

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Ina Schabert bietet einen historischen Kurzüberblick über die Entwicklung der Gender Studies als »Wissenschaft der zwei Geschwindigkeiten«, welche nach einem »race for theory« (S. 44) die nun eingetretene Pause im Bereich der Theorieentwicklung für eine lektüreorientierte Anwendung von Theorie nutzen sollten. Schabert deckt außerdem diverse blinde Flecken der Fachrichtung auf, die, ihrer Meinung nach, besonders auf die mangelnde Berücksichtigung der historischen Perspektive zurückzuführen sind: »Kontinuitäten und Diskontinuitäten, wie sie sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte in der Literatur von Frauen einerseits und Männern andererseits zeigen könnten, mögliche Gesetzlichkeiten im gegenseitigen Aufeinanderbezug der ›beiden Literaturen‹, kommen so nicht in den Blick« (S. 46). Auch stelle beispielsweise eine historische Analyse narratologischer Erzählmuster ein Desiderat dar. 2 In Anbindung an ihre beiden Bände zum Thema Englische Literaturgeschichte aus der Sicht der Geschlechterforschung liefert Schabert vielfältige Anregungen für innovative historisch ausgerichtete Forschungsprojekte. 3

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Die historische Perspektive wird weitergeführt in Sabine Schültings Artikel zu Problemen und Perspektiven der Gender Studies. In »Reading Sex Historically« widmet sie sich der Frage nach der Übersetzbarkeit Gender-bezogener Termini: Wenn kulturwissenschaftliche Analysen als Übersetzungen zu fassen sind, wie Schülting in Anlehnung an Doris Bachmann-Medick ausführt, deckt eine historische Untersuchung solcher Übersetzungen deren primäre Denkfiguren ebenso auf wie die historisch codierte Position derer, die sie verwenden und in bestimmter Weise interpretieren. Eine diachrone Herangehensweise verspricht vor allem deswegen ergiebig zu sein, weil »die zu übersetzenden Begriffe oder Texte selbst nie als Originale, sondern immer schon als Produkte von kulturell und historisch spezifischen Übertragungsprozessen aufzufassen sind« (S. 61). Schülting zeigt dies am Beispiel des Begriffs der Tribade und legt dar, inwieweit eine Übersetzung als Lesbierin diesem frühneuzeitlichen Begriff gerecht werden kann.

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Gibt es eine Neuordnung
der Disziplin?

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Den zweiten Teil des Bandes eröffnet Walter Erhart mit dem Thema »Männlichkeitsforschung und das neue Unbehagen der Gender Studies«. Es gilt, die zwischen psychoanalytischem Einheitswunsch und sozio-historischer Rollenvielfalt etablierte »Männlichkeit narratologisch zu reformulieren« (S. 98). Anvisiert wird eine Verknüpfung psychoanalytischer und sozio-historischer Perspektiven mittels narrativer Verhandlungen der Kategorie Geschlecht, um immer wieder neu die Austarierungen von biologischem, psychischem und sozialem Geschlecht artikulieren zu können. Damit liegt der Fokus weniger auf dem Gegensatz zwischen biologistischer Festschreibung und konstruktivistischer Befreiung, sondern auf der Fragestellung, »wann Geschlechterverhältnisse produktiv oder unproduktiv verlaufen, wann und wo sie sich blockieren und wo sie kulturbildende Effekte freisetzen« (S. 98). Korrigiert wird hier die Einseitigkeit einer ›Hermeneutik des Zweifels‹ in den Männlichkeitsstudien, die hinter jedem kulturellen Angebot zur befreienden Identifikation ideologisch-pervertierende Beeinflussungen wittert.

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Das Zentrum des zweiten Teils bildet Renate Hofs Artikel »Geschlechter(in)differenz: Einige Bemerkungen zur sozialen Konstruktion der ›Geschlechtervielfalt‹«. Sie konstatiert eine Diskrepanz zwischen der Flexibilität von Gender-Konstruktionen einerseits und der weitgehend natürlich scheinenden Geschlechterdifferenz andererseits und kommt zu dem Schluss, dass die Gender Studies sich auf Grund eines Missverständnisses in einer Sackgasse befinden. »Es betrifft den Status von ›sexueller Differenz‹, die offensichtlich mit heterosexueller Dichotomie gleichgesetzt wird« (S. 110). Nicht die Unterscheidung zweier Geschlechter an sich fundiere schon soziale Hierarchien, so die These. Dem entsprechend könne es weder die Dekonstruktion der Zweigeschlechtlichkeit noch das Feiern von Geschlechtervielfalt sein, was diese Hierarchien in Frage stellen könne; vielmehr sollte der Begriff der Konstruktion dafür genutzt werden, die rhetorischen Strategien zu untersuchen, die soziale Ausschlüsse legitimieren. Darüber hinaus kritisiert Hof, dass die Gender Studies neben der weitgehenden Blindheit für die Kategorie sex nicht erkennten, dass sie den Naturwissenschaften auf diesem Gebiet wenig entgegenzusetzen haben und dass es nun vermehrt die Kategorie Klasse sei, die naturalisiert und für soziale Hierarchisierungen instrumentalisiert werde.

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Franziska Rauchut liefert den ersten Beitrag des Bandes zu den Queer Studies in »Wie queer ist queer? – Folgen der Fixierung eines notwendig unbestimmten Begriffs«. Sie stellt heraus, wie das subversive Potential des Begriffs ›queer‹ verloren zu gehen droht, weil in der deutschen Aneignung des Begriffs kritische Bedeutungsaspekte und Konnotationen verschleiert werden. Die Autorin fordert eine stärkere sprachliche Sensitivität bei der Appropriation eines solchen in der Sprachphilosophie situierten Konzeptes ein.

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Den Abschluss dieses Teils bietet Ralph J. Pooles »Wenn in tearooms nicht mehr Damen verkehren: deviante Raumordnung und populäre Wissenschaft«. Der Artikel ist ebenfalls in den Queer Studies verortet und untersucht fallstudienartig homosexuelle Raumcodierungen in populärer Literatur, aber auch in Fernsehserien sowie in Installationskunstwerken.

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Die visionäre Zukunft
der Geschlechter

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Ausgangspunkt von Jeffrey Wallens »Sociable Robots und das Posthumane«, dem ersten Aufsatz des drittes Teils, ist die Frage, inwieweit sich durch die für die Zukunft anzunehmende vermehrte Interaktion mit intelligenten und sozialkompetenten Robotern Geschlechterkategorien wandeln werden. Gerade Interaktionen zwischen Mensch und Maschine, so die These, zeigten die Wirkmächtigkeit der Kategorie Geschlecht, sogar noch in einer Zeit, in der der Mensch sich selbst historisch geworden ist. Der Autor argumentiert überzeugend gegen die Utopie eines geschlechtslosen Posthumanen.

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Tanja Nusser analysiert die Codierungen von Geschlecht in zwei Sci-Fi-Filmen, The Matrix (1999) und Alien Resurrection (1997). Das subversive Potential von Performativität werde hier insofern unterlaufen, als die Filme eine Art von Virtualität präsentierten, »deren Codifizierung die Performanz auf die unendliche Wiederholung der nun genetisch festgeschriebenen Geschlechter(stereotypen) im ›Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit‹ reduziert« (S. 203). Nusser wirft die Frage auf, inwieweit auf der Basis einer solchen Implosion von Code und Repräsentation noch die soziokulturelle Verfasstheit von Geschlecht gedacht werden kann.

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Der Band schließt mit Claudia Reiches Beobachtungen »Zur ›Digitalen Szene‹ des Posthumanen – eine antihumane Lesart am Beispiel von Schlachtfeldsimulationen und Medientheorie«. Anhand von Dual-Use-Abkommen in den USA zeigt sie, wie der Einsatz militärischer Technologien für zivile Zwecke unter anderem durch deren mediale Inszenierungen salonfähig gemacht wird. Dabei werde, so Reiche, ein Menschenbild perpetuiert, das in einem posthumanen Zeitalter sowohl historisch als auch logisch längst abgelöst sein müsste.

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Fazit

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GeschlechterRevisionen ist ein Gewinn für all jene, die schon Vorkenntnisse auf dem Gebiet der Gender Studies haben und nach deren Positionierung im zeitgenössischen Forschungsfeld fragen. Der Band bietet eine ehrliche Auseinandersetzung mit Erreichtem, Problematischem und Wünschenswertem und ermöglicht so eine eigene (Neu-)Verortung auf dem Fachgebiet. Für eine (aller)erste Orientierung ist GenderRevisionen dem entsprechend weniger geeignet.

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Durch ihre Anlage spiegelt die Aufsatzsammlung gut die Situation der gegenwärtigen Gender Studies wider. Sie ist so angelegt, dass durch die in manchen Artikeln aufgezeigten Forschungsdesiderate beziehungsweise durch das Aufzeigen neuer Betätigungsfelder eine gewisse Zukunftsorientierung der Geschlechterforschung erkennbar wird. Die Herausgeberinnen unterlassen es aber, das Konglomerat von Beiträgen in einem Schluss zusammenzufassen und die Revisionen in eine eindeutige Zielformulierung münden zu lassen. Dies entspricht einerseits dem hehren Ziel, ein freies wissenschaftliches Forum zu etablieren; dennoch hätte es den Band abgerundet, wenn die Herausgeberinnen ein Fazit dieser ›Forumsdiskussion‹ geboten hätten und mit ihrer eigenen Meinung in Erscheinung getreten wären. Die Gender Studies werden sicherlich auch weiterhin unterschiedlichste Forschungsstränge verfolgen; welcher davon im Moment aus Sicht der Herausgeberinnen als der aussichtsreichste oder fruchtbarste gilt, wäre eine interessante Herausforderung für den Plural der Revisionen und der Fachrichtungen gewesen.

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Die Gesamtheit der versammelten Artikel selbst lässt jedoch auf einen gewissen disziplinären Konsens schließen, und zwar dahingehend, dass die Auseinandersetzung mit der Kategorie Geschlecht von äußerster Relevanz bleiben wird und Geschlecht weder von sozialen noch von politischen Fragestellungen abgelöst werden kann.

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GeschlechterRevisionen verstärkt die Einsicht, dass es sich bei den Gender Studies um eine »Form von Wissenschafts- und Gesellschaftskritik [handelt], aufgrund derer sich die Argumentations- und Begründungszusammenhänge in den einzelnen Disziplinen grundlegend ändern müssten« (S. 105); der Band verstärkt die Stimmen, die sich dafür einsetzen.

 
 

Anmerkungen

Eva Hermann: Das Eva-Prinzip. Für eine neue Weiblichkeit. München: Pendo 2006.   zurück
Zwar bietet der in der Bibliographie des Bandes genannte Titel von Vera und Ansgar Nünning, Erzähltextanalyse und Gender Studies (Stuttgart: Metzler 2004), einen Überblick über bisher Geleistetes in diesem Bereich, kann aber keine eingehende historische Analyse leisten. Dennoch liefert das darin enthaltene Kapitel zu Gender und kulturellem Gedächtnis eventuell Anhaltspunkte für tiefer gehende historische Analysen, wie sie Schabert einfordert.   zurück
Ina Schabert: Englische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung. Stuttgart: Kröner 2006, sowie I.S.: Englische Literaturgeschichte aus der Sicht der Geschlechterforschung. Stuttgart: Kröner 1997.   zurück