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»Die Einbeziehung aller existierender
Medien ist gefragt.« 1

  • Achim Geisenhanslüke / Christian Steltz (Hg.): Unfinished Business. Quentin Tarantinos »Kill Bill« und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften. Bielefeld: transcript 2006. 188 S. Kartoniert. EUR (D) 24,80.
    ISBN: 3-89942-437-9.
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Die Alltags- und Populärkultur der letzten Jahrzehnte ist zum seriösen Gegenstand in den Kulturwissenschaften und MTV zum Aufsatzthema geworden, weil man begriffen hat, dass aus dem kleinen Kasten mehr als nur Kathodenstrahlen kamen – und diese Kultur wird sich selbst zum Thema und Rohstoff. 2
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Der Band Unfinished Business. Quentin Tarantinos »Kill Bill« und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften trägt unter anderem dieser Überlegung Rechnung, wenn die Herausgeber, Achim Geisenhanslüke und Christian Steltz, für eine Erweiterung literaturwissenschaftlicher Kompetenzen auch auf andere Medien wie den Film plädieren (S. 7). Schließlich, so betonen die Herausgeber im Vorwort, lassen sich »Fernsehserien, Videoclips und Kinofilme [...] gleichermaßen als Teil eines semiotischen Systems begreifen, das den diskursiven Raum der Gegenwart umreißt« (ebd.). Das Anliegen des Sammelbandes verfolgt dabei allerdings nicht das Ziel, neue und alte Medien gegeneinander auszuspielen – im Gegenteil. Es wird deutlich, dass sich »Gutenbergs Druckerzeugnisse« als »flexibles Medium« präsentieren, das sich nicht in den neuen Medien auflöst, sondern vielmehr weiter ausdifferenziert (S. 8). Aus diesem Grund handelt es sich bei Unifinished Business auch nicht um ein Buch zum Film, sondern um die »kulturellen Praktiken, die im Film und seiner Auslegung ihren Ausdruck finden.« (ebd.)

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Die Zielsetzung des vorliegenden Sammelbandes verfolgt die kritische Analyse eines Werkes, das es der Literatur- und Filmwissenschaft erlaubt, ihr »methodisches Instrumentarium zu prüfen und zu schärfen« (ebd.). Es soll auf das ›Unifinished Business‹ der Kulturwissenschaften reagiert werden, indem Erkenntnisgewinn nicht nur aus der Analyse »historischer Phänomene«, sondern auch aus der Analyse der Gegenwart gezogen wird (ebd.).

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Einer Gegenwart, in der (auch) die Literaturwissenschaften auf die Marginalisierung der Trennung von ›Hochkultur‹ und ›Populärkunst‹ – wie bereits im Eingangszitat angesprochen – reagieren müssen. Zu Recht stellen Geisenhanslüke und Steltz fest, dass diese Perspektiv-Erweiterung schon seit den 70er Jahren hätte einsetzen müssen. Umso erfreulicher, dass der vorliegende Sammelband mit gutem Beispiel voran geht und demonstriert, dass die Aufhebung einer scharfen Differenzierung zwischen Hoch- und Populärkunst, die der Erweiterung des Literaturbegriffs vorangeht, nicht gleichsam zu einem Verschleifen literaturwissenschaftlicher Praktiken führt, sondern vielmehr zu einer sich gegenseitig befruchtenden Praxis führen kann. »Der Dialog von Literaturwissenschaften und Populärkultur« am Beispiel von Kill Bill steht daher im Mittelpunkt der neun divergenten Beiträge des Sammelbandes, von denen vier im Folgenden exemplarisch besprochen werden (S. 9).

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»Bell und Bill, Buck und Fuck: Gespaltene Geschlechter und flottierende Signifikanten in Tarantinos Kill Bill«
(Franziska Schößler / Martin Przybilski)

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Der Beitrag von Franziska Schößler und Martin Przybilski greift die Frage nach der Repräsentation der Geschlechter im Zeichen reflexiver Rollenmodelle auf. Als Grundlage der Analyse des Geschlechterdiskurses gehen die Verfasser zunächst auf das im Titel bereits angekündigte Spiel der Signifikanten ein. In einer luziden Analyse der Namen und Identitäten (beziehungsweise ›Nicht-Identitäten‹) zeigen sie dabei, dass Tarantino mit Minimalpaaren hantiert, anhand derer vorgeführt wird, dass »Sprache [zwar] Differenzen schafft, die[se] jedoch durch Ähnlichkeiten unterwandert werden können« (S. 39).

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Tarantino führt seine Bilder vielfach auf Buchstabenspiele zurück, demontiert in poststrukturalistischer Manier die Fiktion homogener Bedeutung, die vermeintliche Übereinstimmung von Zeichen und Referenten, indem sich Signifikanten verschieben und Differenzen zwischen Bezeichnung und Bedeutung etablieren. (S. 37)
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Die Dekonstruktion von Bedeutung wird, wie Schößler und Przybilski anhand von Einzeluntersuchungen zeigen, im »Spiel mit Repräsentationen« weitergeführt (S. 36). So variieren zum Beispiel die Namen der Protagonisten unablässig; andere Figuren besitzen sogar nur einen ›Stellvertreter‹ und bleiben quasi identitätslos (»Elle«).

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Die Verfasser machen darüber hinaus deutlich, dass sich dieses Spiel nicht nur auf einzelne Figuren beschränkt, sondern dass die (provozierte) Problematisierung von Identifikation auch auf die Geschlechterimagines übertragen wird. Diese stehen, wie Schößler und Przybilski folgerichtig konkludieren, »grundsätzlich im Zeichen der Heterogenität, der Hybridität und Nicht-Identität« – sie erscheinen also als »reflexives Rollenspiel« (S. 36).

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Schößler und Przybilski führen aus, dass sich Kill Bill vor diesem Hintergrund als »systematische Dekonstruktion von Weiblichkeitstopoi beschreiben« (S. 36) lässt. Diese These wird von den beiden Verfassern durch eine gewinnbringende Analyse der Rollenmodelle in Kill Bill gestützt, anhand derer deutlich gemacht wird, dass in Tarantinos Film auch die Frau »mit (wandelnden) Phalloi ausgestattet und die Freudsche Phantasie vom Mangelwesen Frau in eine Ermächtigungsgeschichte umgeschrieben« wird, in der die »Abwesenheit des Penis als weibliche Macht, als Unverwundbarkeit, erscheint« (S. 42). Diese subtile Erkenntnis wird von Schößler und Przybilski durch die systematische Analyse der Kampfszenen bekräftigt, innerhalb der die Kontrahentinnen (Beatrix Kiddo und O-Ren Iishi) zum Beispiel versuchen, sich durch einen Tritt zwischen die Beine (»als neuralgischen Ort des männlichen Körpers, in dem sich Verletzbarkeit und Macht paaren«) zu schwächen (S. 42). Dieser Tritt verfehlt aber seine Wirkung und trägt nicht zur Schwächung der GegnerIn bei, betont so vielmehr die Umkehrung des Rollenmusters.

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Über diese Beobachtung hinaus unterstreichen Schößler und Przybilski, dass die Dekonstruktion von Weiblichkeitstopoi auch anhand des Schwertkampfes vorgeführt wird, da das Genre des Schwertkampfes dazu »dient [...], die westlich-bürgerliche Festlegung von Weiblichkeit auf Intimität, Passivität und Verletzlichkeit rückgängig zu machen«, denn:

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[a]ls Killerin ist Kiddo berufstätig, als Kämpferin kann sie Rache üben und Haushaltsartikel – wie in der eröffnenden Persiflage auf das Hausfrauendasein – als Waffen benutzen: Pfanne und Cornflakes-Schachtel werden mühelos in den Kampf integriert. Als Kämpferin ist die Frau jedoch jenseits ihres nach Freud unwiderruflichen Mangels kastrationsfähig; ihr Körper wird phallifiziert, wie ein signifikantes akustisches Detail verdeutlicht: Nicht nur die Schwerter, sondern auch der Bart Pai Meis – ein phallisches Machtemblem, mit dem auch Kafkas Figuren ausgestattet sind – und der Zopf Kiddos, ihr Pferdeschwanz, geben analoge Geräusche von sich, wenn sie durch die Luft schneiden. [...] (S. 43).
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Die Phallifizierung des weiblichen Körpers führt die Dekonstruktion von Weiblichkeitstopoi besonders deutlich vor Augen. Betrachtet man – mit Schößler und Przybilski – das Arrangement des Films, so wird deutlich, dass das Spiel mit klassischen Geschlechterrepräsentationen die kulturelle Ordnung auf den Kopf stellt.

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Doch nicht nur das Spiel mit Geschlechterrollen lockt den Zuschauer in eine Sackgasse der Verirrung, da Tarantino zudem mit der Wahrnehmung der Zuschauer spielt, wie die Verfasser hervorheben. »Der Zuschauer muss sehen lernen«, weil ihn Tarantino in ein »Kabinett von Phantasmologien, von Bildern, Zitaten und Täuschungen führt«. (S. 42) Dies geschieht, wie Schößler und Przybilski ausführen, in jenen Momenten, in denen beispielsweise die Musik nicht zu den Bildern passt, den Bildern sogar diametral entgegenläuft, oder anhand einzelner Protagonisten die Täuschungen direkt vor Augen vorgeführt werden (»So kommt der Gesang Bucks, den man als klampfenden Gitarristen imaginiert hatte, [nur] aus dem Radio; das Killerspiel wird im letzen Kapitel zum Kinderspiel verkleinert und zur Aufführung« S. 41). Zu Recht verweisen die Verfasser darauf, dass die ›Schule des Sehens‹, die von Tarantino implizit betrieben wird, auf das Genre der Martial-Art-Filme verweist, da die sinnliche Wahrnehmung dort ebenfalls zum Gegenstand, der Schwertkampf zur Schule des Sehens und Hörens, gemacht wird (ebd.).

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Der Beitrag von Schößler und Przybilski überzeugt insgesamt nicht nur durch die äußerst präzise Analyse einzelner Aspekte, die für die aufgestellten Thesen als aufschlussreiche Argumente dienen, sondern vor allem wegen seinem theoretischen Unterbau (Freud, Lacan), mit dem die Verfasser ihre Ausführungen anreichern und so den Blick auf Einzeldetails schärfen.

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Kill Bill, Kleist und Kant oder:
You didn’t think that it would be so easy, did you?
(Georg Mein)

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Georg Mein lenkt in seinem Beitrag: »Kill Bill, Kleist und Kant oder: You didn’t think that it would be so easy, did you?« den Fokus auf die ›Ästhetik der Gewalt‹ in Kill Bill. Dass eine Analyse der Ästhetik in Kill Bill überhaupt möglich ist, stellt Mein zuallererst heraus, indem er Tarantinos Werk – mit Blick auf die Forschungslage – als so etwas wie einen »filmischen Glücksfall« beschreibt, dem neben einer »grandiosen, handwerklichen Machart insbesondere das verliehen wird, was Actionfilmen nur in absoluten Ausnahmefällen« zugesprochen wird, »nämlich die Adelung ›ästhetisch‹ zu sein.« (S. 79) Zudem muss, wie Mein betont, unterstrichen werden, dass sich die Bezeichnung ›ästhetisch‹ explizit auf die Gewalt- und Kampfszenen bezieht (ebd.).

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Das Zustandekommen dieser Ästhetik bedarf jedoch, wie der Verfasser weiter ausführt, einiger Voraussetzungen: Sowohl auf Seiten des Films als auch auf Seiten des Betrachters ist einiges an Rhetorik nötig, um eine »ästhetische Rahmung« zu evozieren (S. 80). Warum dies so ist und welche Funktion eine »ästhetische Rahmung« überhaupt erfüllt, führt Mein in einer detaillierten und theoretisch gestützten Untersuchung aus.

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Zunächst betont er, dass Kill Bill eines solchen Rahmens bedarf, um einen »wohl kalkulierten Effekt im Modus des Rezipienten herbeizuführen« (S. 80). Die Funktion der »ästhetischen Rahmung« besteht darin, ein Legitimationsmuster für die Rezeption von derart brutalen Bildern zu schaffen, ohne das die Gewalt vielleicht »nur negativ codiert werden könnte« (ebd.). Mein zeigt anhand einer überzeugenden Analyse, dass die »ästhetische Rahmung« als Initiator von Fiktionalität fungiert und so die Gewalt- und Kampfszenen mit einem spielerischen Duktus überdeckt, sie deshalb irreal wirken lässt.

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Tatsächlich befördert ja nicht die Gewalt den Film in den Modus des Konjunktivs, sondern das durch die Ästhetik bereitgestellte konjunktivistische Argument wird als das letzte verbliebene Argument genutzt, um die Rezeption von Gewalt zu rechtfertigen. (S. 82)
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Im Rückgriff auf Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen und die daran anschließende Kritik der Schillerschen ›Ästhetik‹ durch Paul de Man stellt Mein jene Eigenarten der Ästhetik heraus, die (auch) der in Kill Bill vorgeführten Gewalt zur Legitimation verhelfen. Mein gelingt es auf diese Weise die »Ideologie des Ästhetischen« freizulegen und deutlich zu machen, dass sich »das Vergnügen, das mit der Rezeption von Gewalt einhergeht«, erst »unter dem Schleier ästhetischer Distanz [...] ›frei‹ entfalten kann« (S. 82). Diese These wird anhand der Schlacht mit den Crazy 88 Yakuzas (»Showdown at House of Blue Leaves«) exemplifiziert, die in einer luziden Analyse auf de Mans Schiller-Lektüre appliziert wird: Die Bewegungen der Braut folgen einer »perfekten Choreografie«, die von der Protagonistin blind beherrscht wird und wie ein mechanisches Uhrwerk, wie ein Tanz, abhäuft (ebd.). Zu Recht sieht Mein in dieser Szene eine Referenz zu Schillers Idee der – durch die ästhetische Erziehung ermöglichten – idealen Gesellschaft. So ist für Schiller ein gut getanzter und »aus vielen verwickelten Touren komponierte[r] englische[r] Tanz«, wo alles »so geordnet [ist], dass der eine schon Platz gemacht hat, wenn andere kommt« das »treffendste Sinnbild der behaupteten eigenen Freiheit und der geschonten Freiheit des anderen«. 3

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Im Rückgriff auf Paul de Man legt Mein nun die verborgene »Ideologie der Ästhetik« frei. Mein stellt folgerichtig fest, dass das, »was so anmutig und frei daher kommt [...] ja letztendlich nichts anderes als einen streng determinierten Prozess kultureller Normierung des Körpers dar[stellt], der seine prägende Gewalt auch im ›schönen Schein‹ nicht vollständig überblenden kann.« (S. 84)

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Im Anschluss daran stellt der Verfasser die Frage nach der Wirkung, die die Betrachtung des Ästhetischen (in Kill Bill) auf den Rezipienten hat. Es geht also darum, warum die Rezeption der Gewaltszenen den Betrachter in die Position versetzt, die Szenen als ästhetisch zu identifizieren und ob die Rezeption von Gewalt im Film »analog zu dem Prozess codiert werden kann, den Kant für die Konstitution des ästhetischen Urteils mit Blick auf das Erhabene beschreibt.« (S. 89) Im Rückgriff auf Kants Kritik der Urteilskraft zeigt Mein nach einer Rekapitulation der Analytik des Erhabenen, dass

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das Verschleifen des Realen, dieses Verschwinden der Wirklichkeit in der Simulation [...], im Betrachter jene eigentümliche negative Lust des Erhabenen [auslöst], da die Gewalt des Films letztlich als Gewalt verstanden werden muss, mit der sich das Imaginäre des Realen bemächtigt. (S. 92)
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Diese von Kleist (und Kant) inspirierte Kill Bill-Rezeption überzeugt vor allem wegen ihres theoretischen Unterbaus, durch den erst das zentrale Moment der Kopplung von Ästhetik und Gewalt in Tarantinos Film in den Blick gerät.

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»Is everything alright in the jungle at last?
Irritationen im Dreieck von Genrekonventionen, erwarteten Szenarien von De-Normalisierung und unerwarteten Normalisierungen in Kill Bill.«
(Rolf Parr)

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Rolf Parrs Untersuchung »Is everything alright in the jungle at last? Irritationen im Dreieck von Genrekonventionen, erwarteten Szenarien von De-Normalisierung und unerwarteten Normalisierungen in Kill Bill« lenkt den Blickwinkel auf den Handlungsverlauf des Films und identifiziert diesen – im Rahmen einer interdiskursiven Analyse – als wechselnden Rhythmus von De-Normalisierungs- und Re-Normalisierungsbewegungen, der es den Zuschauern erlaubt, (ihre) Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten imaginär durchzuspielen. Denn im Fall von Kill Bill geht es, wie Parr herausstellt, um

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vielfältige[ ] Irritationen der Zuschauer im Dreieck von a) mal bekräftigenden, mal konterkarierten Genrekonventionen einschließlich intertextueller Bezüge, b) erwarteten Szenarien von De-Normalisierung, wie sie nicht nur jeder Kampf auf Leben und Tod impliziert, sondern letztlich ein auf Thrill angelegtes Kino überhaupt und c) unerwartete Szenarien von Normalisierung, die häufig den mit den aufgerufenen Genres verbundenen Erwartungsmustern entgegenlaufen [...] (S. 96).
[29] 

Dass Kill Bill trotz dieser »hochgradig fragmentarisch« erscheinenden Struktur zum Kultfilm avancieren konnte, führt Parr auf eine (mögliche) Begründung im Rückgriff auf die Normalismusfoschung um Jürgen Link zurück, in deren Sinne Kill Bill »so etwas wie einen konstitutiven Rhythmus von Anspannung und Entspannung, von De- und Re-Normalisierung aufweist, der es möglich macht, den Film insgesamt als eine sich ›darauf akkumulierende Ganzheit‹ zu rezipieren.« (S. 97) Besonders einleuchtend sind die Konsequenzen, die Parr aus diesen den Handlungsverlauf dominierenden Prinzipien auf Seiten des Betrachters lokalisiert und identifiziert: Durch den fortwährenden Bruch von De- und Re-Normalisierungen entsteht nämlich, wie Parr in seiner luziden Untersuchung entwickelt, eine »doppelte normalistische Lust« auf Seiten des Zuschauers, denn Kill Bill handelt nicht nur von »individuellen und kollektiven Bewegungen, Regulierungen und Grenzüberschreitungen, sondern stellt dieses Denkmodell auch für die Applikation durch den Rezipienten bereit.« (S. 97)

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Die »doppelte normalistische Lust« besteht daher einerseits darin, dass sich der Rezipient der »beruhigenden Ver-Sicherung der Normalität des eigenen Lebens und Handelns« gewahr werden, andererseits aber umgekehrt auch »lustvolle[] Durchbrechungen von Normalitätsgrenzen des Alltags« probeweise durchexerzieren kann (S. 97).

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Neben den de- und re-normalisierenden Momenten, die diese ambivalente Rezeptionshaltung ermöglichen, verweist Parr auf (angebotene) übergeordnete »Orientierungspunkte«, die den Zuschauer davon abhalten, extreme Ausnahmeszenarien als beunruhigend aufzufassen und die verhindern, dass Kill Bill in die Reihe von Psychothrillern und Horrorfilme eingereiht werden könnte (S. 98).

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Es handelt sich bei den angesprochenen »Orientierungspunkten«, wie Parr herausstellt, um »tradierte Genrekonventionen«, mittels derer Tarantino zumindest einen Minimalbestand an Regularitäten bewahrt (zum Beispiel zu warten, bis die Gegnerin aus dem Koma erwacht, S. 98). Zu Recht verweist Parr darauf, dass selbst diese relativ verlässlichen Orientierungspunkte »von einem auf den anderen Augenblick außer Kraft gesetzt, konterkariert oder unterlaufen« werden können – dies ist jedoch neben den bereits im Titel angesprochenen Brechungen nicht die einzige evozierte Irritation auf Seiten des Zuschauers (S. 99). Wie Parr im Verlauf seines Beitrags zeigt, hat Tarantino weitere filmische Mittel eingesetzt, um zusätzliche Brechungen zu initiieren. Parr verweist auf die Musik als wesentliches Strukturelement in Tarantinos Film und stellt, im Rückgriff auf Georg Seeßlen, treffend fest, dass die Musik nicht wie gewöhnlich ein »Mittel zur Lokalisierung« ist, sondern im Fall von Kill Bill vielmehr durch »dislozierende Klänge« in die Handlung eingreift (S. 99).

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Neben der Musik als Instrument, um mit den Erwartungen der Zuschauer zu spielen, hebt Parr auch das ›nicht-lineare Erzählen‹ Tarantinos hervor. Der Verfasser verweist in seinem Beitrag nicht nur darauf, dass die Chronologie des Erzählens durch Vor- und Rückblenden arrangiert ist, sondern – mit Rückgriff auf Uwe Nagel – auch dem Prinzip »answers first, questions later« folgt. Hinzu kommt, wie Parr unterstreicht, dass durch das »Jonglieren« mit unterschiedlichen »Genrekonventionen auch das Moment der Vorhersehbarkeit unterlaufen wird, das jedem Genre-Film auf seine eigene Weise spezifisch ist.« (S. 100)

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Nachdem Parr in einer detaillierten, überzeugenden Analyse die Struktur des Handlungsverlaufs sowie einige wesentliche Charakteristika des Films sui generis dargelegt hat, zeigt er anhand eines Close Readings von ausgewählten Szenen das aus den Normalisierungsbewegungen resultierende Beziehungsgeflecht im Einzelnen und markiert innerhalb dieser Untersuchungen jene Stellen, anhand derer die Umschwünge der Normalisierungsbewegungen identifizierbar sind.

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Anhand des ersten Kapitels (chronologisch eigentlich des zweiten) geht Parr den sich abwechselnden Umschwüngen nach und legt dar, dass ein erster Wechsel von Normalisierung zu De-Normalisierung vorliegt, wenn die Familienidylle der Bells in Szene gesetzt, dann aber plötzlich durch den an der Türschwelle einsetzenden Kampf unterbrochen beziehungsweise umgekehrt wird. Die Phase der De-Normalisierung wird dann wiederum unterbrochen, wenn die Tochter von Vernita Green verfrüht aus der Schule kommt. Der Verfasser verweist an dieser Stelle – mit Blick auf seine vorherigen Ausführungen – darauf, dass die Gegenwart der Tochter als »Orientierungsmarke für Normalität« gilt, an der sich der Zuschauer des verschachtelten Beziehungsgeflechts bewusst werden kann, schließlich »toppen« Kinder »in der euro-amerikanischen Kultur alles andere«, sodass »andere Konflikte zurückstehen müssen, wenn sie ins Spiel kommen« (S. 102). Nachdem das Kind den Raum verlassen hat, wird gleichsam auch dieser »Kinderkonsens« wieder durchbrochen und die Normalisierung schlägt genau in dem Moment wieder in eine de-normalisierende Bewegung um, in dem Vernita Green den Schuss aus der Cornflakespackung auslöst.

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Das ständig wechselnde Beziehungsgeflecht, das Parr eindruckvoll an einzelnen Szenen vor Augen führt, versetzt den Zuschauer in die Position, »immer erst im Nachhinein« zu realisieren, »dass sich die Laufrichtung des Films von Normalisierung wieder zu De-Normalisierung umgekehrt hat.« (S. 104)

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Parr hebt abschließend hervor, dass ein Film wie Kill Bill dem Zuschauer so »exemplarisch [...] den wechselnden Rhythmus von De- und Re- Normalisierung vor[führt], durch den moderne Gesellschaften gekennzeichnet sind« und der ihn »im Kino auch körperlich-emotional in diesen Rhythmus hinein [holt].« (S. 107)

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In Analogie dazu verweist Parr auf Rolf Kloepfer und Etienne Sourian und das von ihnen gebrauchte Bild des »Vortänzers«, der »uns in die Welt, die er erscheinen lässt«, einführt und »zeigt, wie wir uns dort verhalten sollen.« (S. 108) Parr schließt seine überzeugende Analyse mit der Antwort, die Kill Bill seiner Meinung nach auf die indirekte Frage des »Vortänzers« geben würde: »normalistisch in dem Sinne, dass wir ständig zwischen De- und Re- Normalisierungsszenarien zu wechseln haben, unser Leben also letztlich als permanenten Wechsel zwischen beiden zu organisieren wissen.« (ebd.)

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Die luzide Analyse des Verfassers überzeugt allen voran wegen der einleuchtenden Übertragung einzelner Aspekte aus der Normalismusforschung, die Parr für die Untersuchung von Kill Bill fruchtbar macht und so nicht nur den Film als solches, sondern allen voran seine Wirkung auf den Betrachter ins Zentrum des Interesses rückt. Der Verfasser leistet diese Übertragung nicht nur auf theoretischer Ebene, sondern zeigt anhand einzelner Beispiel-Szenen die Schlüssigkeit seiner Argumente.

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»Modelle der Traditionsbildung in Kill Bill:
Verrat, Mord, Rache.«
(Oliver Kohns)

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Oliver Kohns nähert sich in seinem Beitrag »Modelle der Traditionsbildung in Kill Bill: Verrat, Mord, Rache« Kill Bill aus philosophischer Perspektive, wenn er die Frage der Nachahmung beziehungsweise Nachfolge sowie dem damit verknüpften Rachemotiv in Tarantinos Film stellt, und dieser Frage im Rückgriff auf Nietzsches Fröhliche Wissenschaft nachgeht.

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Kohns liest Kill Bill nicht nur als einen Film über Rache, sondern auch als einen Film über »Lehrer und Schüler, über Väter und Söhne, über Väter und Töchter und also über Nachfolge und Nachahmung« (S. 162). Das Beziehungsgeflecht, das sich aus dieser Schüler-Lehrer (beziehungsweise Schüler-›Meister‹) Konstellation ergibt, beleuchtet der Verfasser anhand Nietzsches Aphorismus »Unerwünschter Jünger« und stellt treffend heraus, dass der Aphorismus »das Problem einer Nachfolge desjenigen, der jede Nachfolge kategorisch ablehnt« beschreibt, denn »um die Lehre des [Meisters] zu ergreifen, müssen die [Jünger] vor allem lernen, keine Jünger zu sein.« (S. 160) Der Nachfolger des Meisters »wäre derjenige, der kein Nachfolger ist«. Der Meister beziehungsweise Lehrer fordert daher »von seinen Schülern zugleich Nachfolge und Abweichung«, sodass sich der Schüler, wie Kohns treffend formuliert, in einer »double-bind«- Situation befindet (S. 161).

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Um diesem Dilemma zu entweichen, zieht der Verfasser einen weiteren Gewährstext heran und eröffnet im Rückgriff auf Nietzsches Aphorismus »Fähigkeit zur Rache«, dass einem Jünger »allenfalls zu raten [wäre], jederzeit einen Dolch unter seinem Gewand zu tragen, womit er den Meister eines Tages überraschen kann, um diesen von seiner Unabhängigkeit zu überzeugen.« (ebd.) Auf der Grundlage der Nietzsche-Lektüre geht sogar so weit, dass Kill Bill als eine »Meditation« über diesen Aphorismus sowie als Ausdruck einer »Paradoxie der Traditionsverweigerung« verstanden werden kann und Nietzsche »auch ohne explizit genannt zu werden [...] jederzeit gegenwärtig ist« (S. 161). Aus dieser Grundannahme ergeben sich für Kohns drei Thesen, denen er mittels einer gewinnbringenden Untersuchung nachgeht.

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Erstens stellt der Verfasser heraus, dass »[i]nnerhalb einer Ökonomie der Rache [...] die Ermordung eines Vorgängers stets die wahre Aneignung seiner Lehre« ist (ebd.). Diese These illustriert Kohns anhand der Vorgeschichte von O-Ren Ishii, deren Eltern von Boss Matsumoto getötet werden und O-Ren schließlich Rache an Matsumoto ausübt, indem sie ihn tötet. Kohns verweist zu Recht darauf, dass O-Ren im Anschluss daran die Position von Matsumoto einnimmt, so also »statt den Kampf ihres Vaters gegen die Yakuza fortzusetzen« zur »legitimen Nachfolgerin von Boss Matsumoto« wird (S. 164). Daraus folgt aber auch, wie der Verfasser deutlich macht, dass Boss Matsumoto nicht nur der Mörder ihrer Eltern, sondern zugleich auch ihr Lehrer ist.

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Die Vorgeschichte O-Ren Ishiis entfaltet damit ›en miniature‹ ein Drama der Traditionsverweigerung wie Nietzsche es in seinem Aphorimus beschreibt. Wie Boss Matsumoto am eigenen Leib erfahren muss, ist auch O-Ren Ishii eine Verkörperung jenes Weibes, das einen Dolch »unter Umständen [...] gegen uns gut zu handhaben wüsste«. (ebd.)
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Zweitens weist der Verfasser darauf hin, dass »das Vorbild niemals richtig verraten werden kann«, wenn »die Ermordung des Lehrers die höchste Stufe des Lernens ist« (S. 161). Denn gleichwohl das »›telos‹ der gesamten Narration [...] auf die Tötung Bills durch Kiddos Hand ausgerichtet ist«, kann die Braut nur reüssieren, »indem sie zu einer noch tödlicheren Version Bills selbst« wird (S. 165). Dieses Faszinosum bringt Kohns treffend auf den Punkt, wenn er feststellt, dass sich die Braut gerade »durch die Tötung ihres Meisters [...] als exakt die Tötungsmaschine« erweist, »die Bill unter ihrem Namen erfunden hat.« (S. 166) Kohns konkludiert daher folgerichtig, dass die Braut, »[w]eit davon entfernt, sich von seiner Lehre zu entfernen, [...] niemals so entschieden Bills hervorragendste Schülerin [ist] wie in dem Moment, in dem sie ihn tötet.« (S. 167)

[47] 

Drittens stellt der Verfasser das entscheidende Charakteristikum des Racheaktes heraus, denn aus der Paradoxie der Traditionsverweigerung folgt, dass die Sequenz der Rache prinzipiell kein Ende nehmen kann (S. 161). Im Rückgriff auf seine bisherigen Ausführungen zeigt Kohns, dass es sich vielmehr um eine schier endlose Rachespirale handelt, schließlich zeigt sich »in der Tätigkeit der Rache« »eine irritierende ›List der Vernunft‹, in der die rächende Tötung seines Meisters als die Vollendung dessen Lehre erscheint« (S. 169).

[48] 

Mit Blick auf Kill Bill verdeutlicht Kohns diesen Aspekt anhand der finalen Auseinandersetzung zwischen Bill und der Braut, die – wie er herausstellt – zwar eine Vollendung des Racheaktes verspricht, bei genauer Lektüre aber deutlich wird, dass die Braut »durch die Tötung Bills nicht ihre Rache, sondern ihre Rolle als Schülerin Bills« vollendet (S. 170). Genau darin liegt, wie der Verfasser betont, die »strukturelle Ironie des Films« (ebd.).

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Kohns Beitrag überzeugt allen voran wegen seiner einleuchtenden Betrachtung der Meister-Schüler-Konstellation, die er auf der Grundlage seiner Nietzsche-Lektüre für Kill Bill fruchtbar macht und so den Blick auf das Rachemotiv sowie die Traditionsbildung in Tarantinos Film schärft. Sein Beitrag ist äußerst klar strukturiert und illustriert die angeführten Thesen anhand einiger wohl ausgewählter Beispielpassagen im Film.

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Resümee

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Der Sammelband zeigt die längst überfällige, obwohl partiell natürlich schon zuvor geleistete, wissenschaftliche Analyse anderer Medien wie dem Film. Das Plädoyer für eine »Kooperation zwischen unterschiedlichen Disziplinen wie Literatur- und Kulturwissenschaft, Soziologie und Philosophie« wird dabei nicht nur theoretisch proklamiert, sondern anhand von neun gelungenen Beiträgen auf unterschiedliche Weise exemplifiziert. Besonders erfreulich ist, dass die Beiträge durch ihre divergente Pointierung einen breit gefächerten Rahmen abstecken und so die Vielschichtigkeit der Kill Bill-Rezeption widerspiegeln. Anhand der vorliegenden exemplarisch behandelten Beiträge wird deutlich, dass die bereits im Vorwort angestrebte ›Erweiterung literaturwissenschaftlicher Kompetenzen‹ zu gewinnbringenden Einzelanalysen führen kann, anhand derer (literatur-)wissenschaftliche Praktiken geschärft werden können ohne eine Trivialisierung der wissenschaftlichen Kultur befürchten zu müssen. Gleichwohl der Band natürlich nicht alle Aspekte des »Tarantinoversums«aufgreifen kann, brilliert das Werk mit neun kultur- und literaturwissenschaftlichen Beiträgen, die jeweils zu sehr unterschiedlichen, aber durchweg erhellenden Erkenntnissen führen.

 
 

Anmerkungen

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Peter Körte: Geheimnisse des Tarantinoversums. Manie, Manierismus und das Quäntchen Quentin – Wege vom Videoladen zum Weltruhm. In: Robert Fischer / PeterKörte / Georg Seeßlen (Hg.): Quentin Tarantino. Berlin: Betz + Fischer 2004, S.11–64, hier: S.62.   zurück
Friedrich Schiller. Kallias oder über die Schönheit. Briefe an Gottfried Körner. In: F. S.: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch. Bd. 5. München: Hanser 1962, S. 425.   zurück