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Artefakt oder Kunstwerk?

Ethnographische Objekte zwischen Wissenschaft und Kunst

  • Cordula Grewe (Hg.): Die Schau des Fremden. Ausstellungskonzepte zwischen Kunst, Kommerz und Wissenschaft. (Transatlantische historische Studien 26) Stuttgart: Franz Steiner 2006. 376 S. 71 s/w, 16 farb. Abb. Gebunden. EUR (D) 52,00.
    ISBN: 978-3-515-08843-5.
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Unter beträchtlichem Mediengetöse wurde 2006 in Paris ein neues Museum mit dem Namen Musée du Quai Branly eröffnet, das sich als eine zukunftsweisende Neukonzeption des Umgangs mit ethnographischen Objekten versteht. Mit einem Handstreich versuchte man der ererbten Masse von ethnographischen Objekten eine neue Bedeutung zu verleihen, indem man sie zu Kunstwerken umdefinierte, in einem Museum der arts premier (im Anklang an das surrealistische Vokabular aus den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts) vereinigte und in der gleichen Weise wie westliche Kunst präsentierte. Unter dem Mantel eines ästhetischen Universalismus erhob man Artefakte nichtwestlicher Gesellschaften auf den Sockel der künstlerischen Meisterwerke des Abendlands. Das neue Musée du Quai Branly ist Teil eines sich in der westlichen Welt seit Beginn des 21. Jahrhunderts abzeichnenden Trends, den überkommenen Park der Völkerkundemuseen neu zu konfigurieren und auf die neuen Rahmenbedingungen von Postkolonialismus und Globalisierung zu reagieren. 1

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Der museale Ort des Fremden

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Der vorliegende Sammelband lässt sich als Kommentar zu diesen Versuchen der musealen Neukonfigurierung und als Beitrag zu dem seit einigen Jahren in den Kulturwissenschaften boomenden Thema der Praktiken des Umgangs mit dem Fremden verstehen. Hervorgegangen aus einer Konferenz mit dem Titel »Exhibiting the Other: Museums of Mankind and the Politics of Cultural Representation«, die 2000 in Paris stattfand und vom German Historical Institute (Washington) und dem Centre Allemand d’Histoire de l’Art / Deutsches Forum für Kunstgeschichte (Paris) organisiert worden war, versammelt der Band Beiträge von Museumskuratoren, Museologen, (Kunst-)Historikern und Literaturwissenschaftlern, darunter einschlägig bekannte Namen wie Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Enid Schildkrout und Nélia Dias.

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Die insgesamt 18 Beiträge, die sich vor allem dem 19. und 20. Jahrhundert widmen, wurden zu drei Themenkomplexen gruppiert. Zunächst geht es um ›populäre‹, massenkommerzielle Repräsentationsweisen des Fremden im Rahmen von Weltausstellungen und Völkerschauen des 19. Jahrhunderts (S. 45–118). Der zweite Themenkomplex – der Schwerpunkt des Bandes – befasst sich mit dem »ethnologischen Museum« der Gegenwart, seinen »Problemen« und »Perspektiven« (S. 119–251). Der dritte Teil untersucht die »künstlerischen Aneignungen« des Fremden im Kontext der Kunst der »Avantgarden« (S. 253–360).

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Weltausstellungen und Völkerschauen

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Der erste Themenkomplex wird durch einen Artikel von Alice von Plato mit dem Titel »Zwischen Hochkultur und Folklore: Geschichte und Ethnologie auf den französischen Weltausstellungen im 19. Jahrhundert« eröffnet. Sie untersucht, wie das Auftreten eines Millionenpublikums im Kontext der französischen Weltausstellungen neue Präsentationsformen von Geschichte zur Folge hatte. Durch Rückgriff auf die Darstellungstechniken des Fremden, die Sitten und Gebräuche von als »exotisch« empfundenen Völkern zeigten, entwickelte man alltagsgeschichtliche Darstellungen des Eigenen, nämlich der französischen Volkskultur, die allerdings nicht unbedingt mit dem Bild korrelierten, das die Präsentationen von Spitzenprodukten französischen Kunsthandwerks gleichzeitig zu vermitteln strebte.

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Der Thematik der »Völkerschau« widmet sich der Beitrag von Gabriele Dürbeck (»Samoa als inszeniertes Paradies: Völkerausstellungen um 1900 und die Tradition der populären Südseeliteratur«). Am Beispiel der Samoa-Schauen zeigt Dürbeck, wie die Darstellung des Fremden eine zunehmende Kommerzialisierung erfuhr, die zugleich kolonialpropagandistische Züge trägt. Dürbeck betont insbesondere, dass die doppelte Ausrichtung auf Unterhaltung und Belehrung weitgehend im Rahmen der durch die in der Südseeliteratur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert reproduzierten Stereotype des Südseeinsulaners verharrte und damit an bewährte Darstellungsstrategien der Unterhaltungsliteratur anknüpfte.

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Neue Museumsprojekte

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Die insgesamt acht Beiträge des zweiten Themenkomplexes beschäftigen sich vor allem mit der Neudefinition des zeitgenössischen ethnologischen Museums. Enid Schildkrout liefert in ihrem Artikel (»The Beauty of Science and the Truth of Art: Museum Anthropology at the Crossroads«) eine treffsichere Diagnose des Status ethnographischer Objekte im Kontext der nordamerikanischen Museumslandschaft: Vor dem Hintergrund der »ART / artifact«-Debatte für anthropologische Museen werde es zunehmend problematisch zwischen unterschiedlichen Inszenierungsräumen von einerseits Kunst- und andererseits Wissenschaftsmuseen eine eigene Identität zu definieren.

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Schildkrout liefert gleicher weise Ansätze zur Umgehung dieses Dilemmas am Beispiel zweier Ausstellungsprojekte, an denen sie als Kuratorin leitend mitgewirkt hatte. Das thematische Zentrum des Bandes ist das Fallbeispiel des Musée du Quai Branly. Die ausgewiesene Kennerin der Geschichte anthropologischer und ethnologischer Museen in Frankreich Nélia Dias zeichnet in ihrem Beitrag (»›What’s in a Name?‹ Anthropology, Museums, and Values, 1827–2006«) eine pointierte historische Skizze des musealen Umgangs mit ethnographischen Objekten in Paris. Germain Viatte, einer der zentralen Verantwortlichen des neuen Museums in der Gründungsphase, erläutert die museologischen Grundlinien des Projekts. Maurice Godelier, leitendes Mitglied des Planungsteams, legt in seinem Artikel (»Die Vision: Einheit von Kunst und Wissenschaft im Musée du Quai Branly«) die politischen und institutionellen Rahmenbedingungen dar, die zur Gründung des neuen Museums führten. Aus erster Hand wird dabei dem Leser das wissenschaftliche Konzept des Museums vorgestellt: eine Umdefinition vormals ethnographischer Objekte zu Kunstwerken und deren dekontextualisierten Präsentation, die vor allem das Objekt als ästhetisches Objekt zu Geltung bringen will.

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Das Pariser Museumsprojekt stieß allerdings auf scharfe Kritik seitens der Fachethnologen. Als Beispiel dafür liefert der vorliegende Band einen Beitrag von Lorenzo Brutti in deutscher Übersetzung aus dem Jahr 2003 mit dem Titel »Die Kritik: Ethnographische Betrachtungen des Musée du Quai Branly aus der Perspektive eines teilnehmenden Beobachters«. Seine Kritik konzentriert sich vor allem auf zwei Punkte: Zum einen sei der Akt einer bewussten Erhebung von Ethnographica in den Status von »Kunst« nur auf den ersten Blick eine egalitäre Geste:

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Eine Hand voll Europäer aus dem 21. Jahrhundert befindet nicht nur, dass das Fremde Kunst produziert hat. Vielmehr entscheiden sie auch darüber, worin diese Kunst besteht oder bestand, ohne sich um tiefer greifende Analysen zu kümmern oder die eigenen Zeugnisse dieser ›Anderen‹ ebenfalls zu berücksichtigen: Ein weiteres Mal in der Geschichte der Menschheit nötigt das westliche Abendland dem Anderen seine Hermeneutik auf. (S. 235)
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Zum anderen sei der weitgehende Ausschluss der Wissenschaft, d.h. der Vertreter der Ethnologie problematisch. Die Ästhetisierung wird mit einem gänzlichen Herausreißen des Objekts aus seinem früheren Kontext und Deutungszusammenhang erkauft.

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Das Fremde im Fokus der Avantgarden

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Die dritte Gruppe von Aufsätzen beschäftigt sich mit Aneignungen außereuropäischer Artefakte im Kontext künstlerischer Avantgarden. So konzentrieren sich einige Artikel auf einzelne Künstler, Max Klinger bei Marsha Morton (»The Ethnographic Vision of Max Klinger«) oder Emil Nolde im Fall von Andrew Zimmerman (»From Natural Science to Primitive Art: German New Guinea in Emil Nolde«). Beide Artikel erkunden frühe Versuche im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, ethnographische Objekte als Schule für neue Sehgewohnheiten im Sinne einer künstlerischen Avantgarde zu instrumentalisieren und außereuropäische Artefakte in Kunstwerke zu transformieren.

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Ein gelungener Abschluss des Bandes stellt der Artikel von Till Förster mit dem Titel »Negotiating the Contemporary: Local African Artists in a Globalizing Art World« dar, der sich mit den Strategien zeitgenössischer afrikanischer Künstler auseinandersetzt, auf dem internationalen Kunstmarkt Fuß zu fassen. Vor dem Hintergrund der Debatten um das Musée du Quai Branly, das sich vor allem auf »alte« Kunstwerke kapriziert, zeigt der Beitrag von Förster einmal mehr die Problematik des Unterfangens aus einer anderen nicht museologischen Perspektive.

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Ein großer Gewinn für den Band stellen die am Ende platzierten allgemeinen museologischen Überlegungen (»Reconfiguring Museums: An Afterword«) Barbara Kirshenblatt-Gimbletts zu den Strategien und Möglichkeiten einer Neukonfiguration ethnologischer Museen zu Beginn des 21. Jahrhunderts dar. Neben der Strategie, das ethnographische Objekt zum Kunstwerk zu reklassifizieren, nennt sie drei weitere: zum einen Integration, indem man alle Kulturen (auch den Westen) in einem Museum vereinigt, zum anderen, die Objekte als heritage von denen präsentieren zu lassen, die sie als kulturelles Erbe ihrer Ahnen für sich reklamieren; und schließlich kann das Museum selbst seine eigene Geschichte reflektieren.

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Insgesamt ergibt die Zusammenstellung der Artikel ein ausgewogenes Ganzes, das die Zugangsweisen verschiedener Disziplinen vereint. Allerdings haben manche Artikel, die auf aktuelle Begebenheiten reagieren durch die lange Vorlaufzeit bis zur Publikation bereits leichte Staubspuren angesetzt. Darüber hinaus vermisst man in der Einleitung der Herausgeberin des Bandes angesichts des globalen Titels »Between Art, Artifact, and Attraction: The Ethnographic Object and its Appropriation in Western Culture« einen Rekurs auf den aktuellen Forschungsstand der umfangreichen Thematik, die ja seit Längerem großes Interesse in zahlreichen Disziplinen erfährt. 2

 
 

Anmerkungen

Unlängst ist erschienen: Elizabeth Edwards / Ruth Phillips / Chris Gosden: Sensible Objects: Colonialism, Museums and Material Culture, Oxford / New York: Berg Publishers 2006; Ivan Karp / Corinne Kratz u.a. (Hg.): Museum Frictions: Public Cultures / Global Transformations, Durham: Duke Univ. Press 2006.    zurück
Vgl. beispielsweise Gail Anderson: Reinventing the Museum, Historical and Contemporary Perspectives on the Pradigm Shift, Walnut Creek, CA: AltaMira Press 2004; Nicolas Bancel u.a. (Hg.): Zoos humains: de la Vénus hottentote aux reality shows, Paris: Éd. La Découverte 2002; R. Sandell: Museums, Society, Inequality, London: Routledge 2002; Elizabeth Hallam / Brian V. Street (Hg.): Cultural Encounters: Representing ›Otherness‹, London: Routledge 2000; Tim Barringer / Tom Flynn: Colonialism and the Object, London: Routledge 1998.   zurück