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Grenzverschiebungen

Die Imagination von Grenzen
in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts

  • Michael C. Frank: Kulturelle Einflussangst. Inszenierungen der Grenze in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts. (Lettre) Bielefeld: transcript 2006. 232 S. Paperback. EUR (D) 25,80.
    ISBN: 978-3-89942-535-2.
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Anlage und Ziele der Arbeit

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Die Figur einer Aneignung des räumlich und kulturell Fremden durch dessen Identifizierung als die eigene Vergangenheit – »sie (dort) sind jetzt, wie wir (hier) früher waren« wie es Tzvetan Todorov formuliert 1 – prägt den europäischen Umgang mit fremden Kulturen in der Neuzeit. Wie die Grenze zwischen Fremdem und Eigenem in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts imaginiert, konstruiert, tabuisiert, aber auch überschritten wird, diesen Fragen geht der Anglist Michael C. Frank in seiner als Buch erschienenen Konstanzer Dissertation nach.

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Es ist ein großes Thema und ein immenses Quellenkorpus, das mit dieser Thematik umspannt wird. Doch gerade durch die Fixierung klarer methodischer und theoretischer Leitgedanken und die Konzentration auf ausgewählte, äußerst aussagekräftige Fallbeispiele gelingt es Frank, Einzelbeleg und Zeitkontext in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander zu präsentieren und die Problemstellung nicht aus den Augen zu verlieren. Vielmehr hat er damit eine Studie vorgelegt, die bezüglich Materialauswahl, Analyse und Thesenbildung durchwegs überzeugt.

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Franks Studie schließt explizit an das im Gefolge des cultural turn der Geisteswissenschaften verstärkte Interesse am Phänomen interkultureller Begegnungen an. Insbesondere die Geschichte der kolonialen Kulturbegegnung bietet sich für das Studium dieses Phänomens an: Zum einen lässt sich – mit Urs Bitterli, Jürgen Osterhammel und anderen – eine »Diskrepanz zwischen dem Anspruch auf Fremdanpassung und der Bereitschaft zur Selbstanpassung«, ein »Unwillen zur Akkulturation«, auf Seiten der europäischen Kolonisatoren konstatierten (S. 10, 13). Zum anderen finden sich in der Geschichte des Kolonialismus seit der ›Entdeckung‹ Amerikas – wie schon Jean-Jacques Rousseau bemerkte – immer wieder Beispiele kultureller Überläufer, die nach dem Ethnologen Fritz Kramer zwischen einer Sehnsucht nach dem Fremden und einer Angst vor dem Verlust der eigenen (kulturellen) Identität hin- und hergerissen zu sein scheinen. 2

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Diese Angst des Europäers, in der Fremde, besonders in den Tropen, seine kulturelle Identität zu verlieren, definiert Frank als »kulturelle Einflussangst«, die er selbst wiederum untergliedert »in die Vorstellungen von einem kulturellen, einem rassischen und einem klimatischen Einfluß« (S. 15–17). Der erste Aspekt des »kulturellen« Einflusses meint somit eher spezifisch den Einfluss der fremden Sitten und Gebräuche. Diese für den Aufbau der Studie bestimmende Unterscheidung erweist sich in der Formulierung der Einleitung als problematisch, wiewohl in den Einzeluntersuchungen an den literarischen Texten deutlich wird, was damit gemeint ist. Denn ausgehend von einem Kulturbegriff, der jeweils bestimmt wird über das, was zeitgenössisch unter Kultur verstanden wird, ist die Dreiteilung nicht nachzuvollziehen. Der Kulturbegriff des 19. Jahrhunderts selbst gründet auf den verbreiteten Rassen- oder Klimatheorien.

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Der Rekonstruktion ihrer verschiedenen Ausprägungsformen widmet sich die Studie. In den ersten beiden Teilen wird mit einer Theorie der ›kulturellen Einflussangst‹ das theoretische und methodische Fundament gelegt. In den anschließenden Teilen werden drei Aspekte dieser ›kulturellen Einflussangst‹ anhand von drei literarischen Texten (die allerdings vom zeitgenössischen Publikum als ›realistische‹ bzw. ›authentische‹ gelesen werden, da sie auf Reiseerfahrungen der Autoren beruhen) genauer und ausführlicher untersucht.

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Quellen und Methode

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Die Arbeit stützt sich auf ein Textkorpus, das zwar im Untertitel mit dem Etikett »Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts« versehen wurde, aber – wie der Verfasser ausführt – eigentlich drei Gattungen umfasst, nämlich die »zwischen Authentizitätsanspruch und Fiktionalität oszillierenden Reiseberichte von Entdeckern und Forschern«, die »mit diesen eng verwandten kolonialen Abenteuerromane« sowie »wissenschaftliche philosophische, anthropologische und medizinische Schriften« (S. 17). Diese Angabe bildet Franks Vorhaben jedoch nur partiell ab. Es handelt sich nämlich durchaus nicht um eine systematische Aufarbeitung der ›Reiseliteratur‹ des 19. Jahrhunderts (ein in einer Einzelarbeit auch nicht zu bewältigendes Unterfangen), sondern vielmehr um präzise Einzelstudien insbesondere zu drei literarischen Texten, indem diese innerhalb der Diskurse der Zeit kontextualisiert werden.

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Man mag einwenden, dass englische und amerikanische Autoren (und folglich eine spezifisch ›britische Position‹ kolonialen Denkens) und Positionen der englischsprachigen Forschung zum Kulturkontakt und Ozeanismus dominieren und die vorliegende Studie, die explizit als »anglistische Studie« (S. 20) bezeichnet wird, in englischer Sprache ein größeres Publikum gefunden hätte. Anders gewendet ist aber gerade die verdienstvolle Vermittlungsleistung für das deutsprachige Publikum zu loben. 3 Allerdings hätten sich hier und da auch inhaltliche Bezüge herstellen lassen, etwas durch Verweise auf die Thematik des Ozeanismus in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts 4 oder auf den deutschen Afrikadiskurs. 5

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Besonders überzeugend ist Franks Umgang mit Theorie. Er knüpft unter anderem an die »konstruktivistische Erkenntnistheorie Michel Foucaults und Edward Saids« an (S. 18) sowie an die Thesen des Anthropologen Johannes Fabian. 6 Der Rückgriff auf theoretische Ansätze wird nie zum Selbstzweck, sondern dient immer dazu, die Untersuchung der gesetzten Fragestellung zu befördern oder ihr eine neue Tiefe zu geben. In ihrer Ausrichtung auf ein klares Untersuchungsziel und durch die Konzentration auf Quellen und theoretische Ansätze, die diesem Ziel dienen – der Verfasser hat insbesondere die amerikanische Forschungsliteratur in breitem Maße berücksichtigt –, erweist sich Franks Studie theoretisch und methodisch als absolut souverän.

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Prolegomena zu einer Theorie der
›kulturellen Einflussangst‹ I:
Die Konstruktion von Grenzen

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Franks Studie setzt ein mit einer Bestimmung der Elemente, anhand derer im europäischen Denken Grenzen imaginiert und konstruiert werden. In einem ersten Schritt wird die Ausbildung einer kulturellen Identität Europas untersucht, indem auf die Ergebnisse der Erforschung des nation building zurückgegriffen wird, die Frank auf Europa als »textuell konstruierte, imaginative Identität« anwendet (S. 26).

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Zunächst konstituiert sich »kulturelle Identität« in einer Kombination aus Selbst- und Fremdzuschreibung, durch die Konstruktion einer gemeinsamen Geschichte und die Bestimmung von Grenzen. Sodann ist es aber vor allem die »Kontrasterfahrung« des Kontakts mit dem äußereuropäischen Fremden, durch die das Eigene Kontur erhält (S. 29). Anhand der Überlegungen von Michel Foucault und Edward Said versucht Frank in einem zweiten Schritt, den Begriff der ›kulturellen Grenze‹ selbst als Gleichzeitigkeit von »Bewusstsein« und »Verdrängung« von Alterität sowie die Diskontinuität und – mit Homi Bhabha – den »prozessualen Charakter« (S. 37) solcher Grenzziehungen zu bestimmen. Die Fixierung von Grenzen erfolgt nach Frank drittens anhand einer »doppelten«, räumlichen und zeitlichen, Distanzierung des Anderen (S. 41). Das Ergebnis kultureller Grenzziehungen – wie Frank mit Rekurs auf Simmels Soziologie des Raumes ausführt – ist zum einen eine »imaginative Geographie«, d. h., »die Idee kultureller Differenz ist gekoppelt an diejenige räumlicher Distanz« (S. 39). Zum anderen – und hier greift Frank auf die für sein ganzes Buch bestimmende Studie Time and the Other von Johannes Fabian zurück – wird kulturelle Differenz durch ein »denial of coevalness« auch in zeitliche Distanz übersetzt (S. 40 f.).

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Diese »doppelte Distanzierung« bildet nun das Paradigma (im Kuhn’schen Sinn), »das die Wahrnehmung und Beschreibung des Anderen im europäischen Alteritätsdiskurs des 19. Jahrhunderts bestimmt«, und das Frank als das ›evolutionistische Paradigma‹ bezeichnet (S. 41 f.). Tatsächlich handelt es sich um eine zentrale Denkfigur: Allerdings scheint mir weniger die Distanzierung entscheidend zu sein als vielmehr, dass kulturelle Differenz zu einer relativen Kategorie wird, da sie auf dem jeweiligen Verhältnis zwischen räumlicher und zeitlicher Distanz beruht. Mit anderen Worten, seine Erklärungskraft bezieht das ›evolutionistische Paradigma‹ insbesondere aus der Möglichkeit, räumliche und zeitliche Distanz bzw. Nähe wechselweise ineinander übersetzen zu können. 7

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Die »diskursive Grenzarbeit« erweist sich laut Frank als (scheinbar) paradox, als ein »Zusammenspiel von Grenzziehung und Transgression« (im Foucault’schen Sinn): Denn die Grenze muss einerseits immer wieder überwunden werden, um als solche erkennbar zu sein, andererseits muss sie immer wieder fixiert werden, um als solche noch zu existieren (S. 48).

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Prolegomena zu einer Theorie der
›kulturellen Einflussangst‹ II:
Die Überschreitung von Grenzen

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Die These eines grundsätzlichen Akkulturationsunwillens der Europäer revidiert Frank, indem er den Fokus auf die »Figur des Grenzgängers« richtet, bei dem er anhand einer Ergänzung der »diskursanalytische[n] Betrachtungsweise« durch eine »psychoanalytische Dimension« nicht eine »grundsätzliche Unlust«, sondern vielmehr einen »Widerwillen trotz einer prinzipiellen Lust« ausmacht (S. 18).

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Konsequenterweise lässt Frank seinen Überlegungen zu den »Grenzziehungen«, solche zur »Grenzüberschreitung« folgen. Knapp werden drei Beispiele »kulturellen Überläufertums« (Karl-Heinz Kohl, zit. S. 58) vorgestellt, das die Geschichte des europäischen Kolonialismus seit ihrem Beginn begleitet. Dabei interessieren den Verfasser weniger die Beweggründe für als die Widerstände gegen die Akkulturation.

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Um ein »psychologisches Pendant zur diskursiven Grenzziehung« (S. 80) zu finden, versucht Frank diese Widerstände, kulturelle Grenzen zu überschreiten, mit Sigmund Freuds Theorie des Tabu und mit Julia Kristevas Begriff der ›abjection‹ zu erklären. Im kulturellen Grenzgehen äußert sich somit ein Akkulturationstabu, verstanden als »diskursives Mittel zur Stabilisierung und Erhaltung jener prekären Grenze […], mit deren Hilfe sich Europa (Großbritannien, England, die weiße Bevölkerung Amerikas etc.) in einer steten Arbeit an der Grenze als relative Einheit konstituiert« (S. 83). Die unterschiedlichen Ausprägungsformen dieses Akkulturationstabus und die damit korrespondierenden Verschiebungen der Grenzen untersucht Frank im Hauptteil seiner Arbeit anhand von »literarische[n] Inszenierungen der kolonialen Kulturbegegnung« (S. 85).

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Textanalyse I:
Kultureller Einfluss (Melville)

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Die erste eingehendere Textanalyse widmet sich Herman Melvilles Debütroman Typee. A Peep at Polynesian Life (1846). Darin verarbeitet Melville eigene Erfahrungen während seines vierwöchigen Aufenthalts auf der polynesischen Insel Nuka Hiva. Im Zentrum steht das Phänomen des beachcombing. 8

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In Melvilles Roman wird das ›Primitive‹ der polynesischen Kultur mit dem typischen Gestus einer »temporale[n] Distanzierung« – im Sinn einer »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« – als »Naturzustand« identifiziert, welcher der ›dekadenten‹ europäischen Zivilisation entgegengehalten wird (S. 99, 101). Melvilles ›Verortung‹ Polynesiens zeigt nach Frank Parallelen zu Michels Foucaults ›Heterotopie‹ sowie zum ›evolutionistischen Paradigma‹ und zu einer daraus abgeleiteten Idealisierung der zivilisatorischen Frühzeit, wie sie sich etwa in Rousseaus Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes ausnimmt: »So entsteht in Typee eine rousseauistische Heterotopie.« (S. 105) Eine zusätzliche Charakterisierung erfährt diese Heterotopie durch Melvilles »phantasmatische Belebung« biblischer und antiker Mythen in der Tradition von Louis-Antoine de Bougainvilles Südseedarstellung (S. 109).

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Der Kulturkontakt des Protagonisten von Melvilles Roman ist geprägt durch eine grundsätzliche Bereitschaft zur Anpassung, die aber gleichzeitig temporär und klar begrenzt bleibt, somit »einer Art exotistischem Tourismus« entspricht (S. 114). Deutlich wird die Grenzziehung insbesondere im Fall der drohenden Gesichtstätowierung des Europäers, die ein sichtbares Zeichen der Assimilation und Integration in die polynesische Gesellschaft darstellen würde, aber dadurch auch die Möglichkeit einer Reintegration in die europäische Kultur gefährdet bzw. innerhalb der europäischen Kultur einer sozialen Stigmatisierung und Deklassierung entspräche. Die Angst vor der Tätowierung, vor Krankheit und vor dem (vermuteten) Kannibalismus der ›Eingeborenen‹ bewegen Tommo schließlich zur Flucht. Dies scheint die einzige Möglichkeit zur Bewahrung der eigenen kulturellen Identität zu sein.

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Es ist durchaus plausibel, Melville in eine Tradition mit Rousseaus Lob eines idealen primitiven Zwischenzustandes zu stellen. Schließlich schienen insbesondere Bougainvilles (und partiell auch Georg Forsters) Bericht über die Südsee Rousseaus Annahmen zu bestätigen.

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Allerdings wäre zur Bestimmung der Stellung von Melvilles Text innerhalb des Südseediskurses des 19. Jahrhunderts zumindest ein Blick auf andere Texte der Zeit zu werfen gewesen. Denn spätestens um 1800 ist die Südsee nicht mehr (nur) die Wiederentdeckung des Paradieses oder ›Neu Kitheras‹. Vielmehr droht der Südseemythos in sein Gegenteil zu kippen, und zwar in einem doppelten Sinn. Zum einen dominieren seit der Ermordung Captain Cooks 1779 die Vorstellungen von Kannibalismus und kriegerischer Grausamkeit die europäischen Südseedarstellungen, zum anderen werden die ›erotischen Paradiese‹ Ozeaniens durch Krankheiten und die Kolonisation im 19. Jahrhundert tatsächlich zerstört. 9 Mit anderen Worten, Melvilles Rousseauismus erscheint zumindest erklärungsbedürftig.

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Hierbei könnte sich zeigen, dass die Orientierung an literarischen Traditionen des Abenteuer-, Insel- und utopischen Romans und deren Gattungskonventionen möglicherweise prägender war als der aktuelle Südseediskurs. Gleichzeitig wäre hier ein komparatistischer Seitenblick auf andere Südseereiseberichte der Zeit aufschlussreich gewesen – etwa ein Vergleich mit der Idealisierung des Fremden in Chamissos Reise um die Welt (1836). 10

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Textanalyse II:
›Rassischer Einfluss‹ (Haggard)

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Zeigt Melvilles Typee noch eine »vergleichsweise großzügige Auslegung des Akkulturationsverbots« (S. 129), so findet sich in den beiden anderen von Frank untersuchten Texten über Reisen ins Innere Afrikas eine rigidere Beurteilung von Grenzüberschreitungen.

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Afrika ist noch für das 19. Jahrhundert der dark continent und steht im europäischen Denken nicht nur für das Unbekannte, sondern stellvertretend für das radikal Andere, das – wie Frank anhand von Hegels Vorlesungen darlegt – als »Antithese zur Zivilisation« (S. 133) gleichsam außerhalb der Geschichte liegt:

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Diese Grenzziehung wiederum ist verantwortlich für einen besonderen Unwillen zur Akkulturation: Das Bild von Afrika als Antithese zur Zivilisation bringt besondere Ängste bezüglich einer Überwindung der so gezogenen Grenze mit sich. Denn eine Annäherung an dieses Andere muss notwendigerweise nicht nur eine kulturelle Entfremdung, sondern geradezu einen Kulturverlust bedeuten, einen Sturz in all das, was Geschichte, Entwicklung, Zivilisation gegenübersteht: eine urzeitliche, primitive Wildheit, die den eigenen Fortschritt umkehren und innerlich zersetzen würde. (S. 133)
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In dieser Auffassung Afrikas als »Antithese zur Zivilisation« gründet die europäische Angst bezüglich einer »Vermischung« bzw. eines »rassischen Einflusses«, wie Frank in diesem Teil anhand von Henry Rider Haggards viktorianischem Bestseller King Salomon’s Mines (1885) ausführlich darlegt. Dem Roman liegt die Fiktion einer ursprünglichen weißen Hochkultur in Schwarzafrika zugrunde, von der noch Ruinen in Simbabwe zeugen, die durch ›Rassenmischung‹ untergegangen sei. Frank weist nach, wie mit dieser Konstruktion einerseits der »faktische Kolonisationsprozess […] gleichsam auf den Kopf gestellt« und dadurch indirekt legitimiert wird (S. 139). Andererseits lässt sich Haggards geschichtliche Fiktion einer kulturellen Degeneration durch ›Rassenmischung‹ – die Frank in den Kontext der Theorien Arthur de Gobineaus stellt – als Warnung für die Gegenwart bzw. als Ausdruck kultureller Einflussangst verstehen.

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Auf der Ebene der Romanhandlung wird dieser zwischen Begehren und Abstoßung oszillierende »›Unwille zur Rassenmischung‹« (S. 151) wirksam als Tabu der ›Mischehe‹, denn »[d]ie räumlich-kulturelle Grenzüberschreitung der Reisenden soll und darf […] nicht mit einer körperlichen Transgression einhergehen […].« (S. 161) Entscheidend ist, wie Frank sowohl am literarischen Text als auch anhand des wissenschaftshistorischen Kontexts herausarbeitet, dass die Ablehnung der ›Mischehe‹ (und damit die Angst vor einem ›rassischen Einfluss‹) über die Rassentheorien eine Naturalisierung erfährt.

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Als Fazit hält Frank fest, dass Haggard mit der Vorstellung eines Kulturkontakts ohne Vermischung gegenüber dem realen Kolonialismus einen »Anachronismus« konstruiert, der durch die Fiktion vom Untergang einer ursprünglichen weißen Hochkultur in Afrika selbst wieder dekonstruiert werde (S. 162). Zu fragen bliebe hier allerdings, ob Haggard damit nicht implizit die Ansicht vertritt, dass die einzige Möglichkeit zur Abwehr kultureller Degeneration die Vermeidung des Kulturkontakts an sich sei. Seine historische Fiktion käme somit einer rassentheoretisch fundierten Kritik am Kolonialismus gleich.

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Textanalyse III:
Tropischer Einfluss (Conrad)

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Bereits bei Haggard wird deutlich, dass die Grenze zwischen ›Wilden‹ und ›Zivilisierten‹ nicht bloß eine kulturelle ist, sondern natürlicherweise durch den Menschen selbst verläuft, da dieser gleichzeitig ›wild‹ und ›zivilisiert‹ sei:

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Im Gegensatz zum Grenzgänger der Jahrhundertmitte, der das Andere der Zivilisation auf einer polynesischen Insel wie ein Museum betreten und es am Ende unversehrt wieder verlassen konnte – vorausgesetzt, er wurde nicht tätowiert –, trägt der Europäer des späten 19. Jahrhunderts das Andere der Zivilisation permanent mit und in sich. Er ist paradoxerweise zugleich wild und zivilisiert. Damit rückt das räumlich und zeitlich scheinbar so weit Entfernte in unmittelbare Nähe, die Grenze wird durchlässig. (S. 166)
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Damit ist die Problematik des Wiedererwachens eines primitiven Substrats des zivilisierten Menschen durch den Kontakt mit primitiven Kulturen benannt, der sich Frank in seiner dritten Textanalyse am Beispiel von Joseph Conrads berühmtem Roman Heart of Darkness (1899) widmet.

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Die in der Forschung zu Conrads Roman festzustellende Ambivalenz zwischen der Betonung der anti-imperialistischen Kritik und dem Nachweis rassistischen Gedankenguts lässt sich nach Frank erklären, wenn das Werk im Kontext der anthropologischen und medizinischen Debatten der Zeit situiert wird. Gerade die im Anschluss an die seit dem 18. Jahrhundert verbreiteten Klimatheorien behauptete physische und moralische Degeneration durch den Einfluss der Tropen, die sogenannte Tropenneurasthenie, gewinnt als Erklärung für die Auflösung der Grenzen zwischen Nicht-Europäern und Europäern im 19. Jahrhundert an Gewicht. 11 In der Tat zeigen alle Figuren in Conrads Roman Symptome des ›Tropenkollers‹. Die Degeneration der Europäer ist ebenso Folge des Kolonialsystems wie einer aus Europa mitgebrachten psychischen Disposition: »Der Tropenkoller wird nicht monokausal, sondern als Zusammenspiel von mindestens zwei Faktoren, innerer Veranlagung und äußerer Situation, erklärt.« (S. 180) Der Einfluss der Tropen ist es auch, durch den der fiktive Kolonisator in Conrads Roman selbst zunehmend ›barbarisch‹ wird. Bei diesem handelt es sich aber nicht um einen »kulturellen Überläufer«; die kulturelle Grenzziehung zwischen ›weiß‹ und ›schwarz‹, zwischen ›Zivilisation‹ und ›Barbarei‹, wird vielmehr unterlaufen bzw. »internalisiert« (S. 188, 199).

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Der Atavismus- und Regressionsgedanke in Conrads Heart of Darkness zeigt Parallelen zu den anthropologischen Theorien Cesare Lombrosos und Max Nordaus, weist aber – so Frank – über diese hinaus. Es werde Sigmund Freuds Generalisierung des Atavismusgedankens auf der Basis einer Analogie von individueller Entwicklung des Menschen und kultureller Entwicklung der Menschheit antizipiert. Die Reise ins Innere Afrikas erweist sich als Rückkehr zu den eigenen primitiven Ursprüngen: »Kulturelles Grenzgehen wird aus dieser Perspektive zu einem Rückfall, die Grenzüberschreitung zu einem Rückschritt im wahrsten Sinne des Wortes.« (S. 199)

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Die These einer Verlegung Afrikas ins eigene Innere, die von Conrad zu Freuds innerem Afrika führt, ist nicht neu. Sie wird aber in diesem Teil sehr klar anhand des Primärtextes und der Forschungsliteratur entwickelt und in die zeitgenössischen anthropologischen und medizinischen Diskurse eingebettet sowie – und hierin besteht das besondere Verdienst der angezeigten Studie – auf die übergeordnete Fragestellung der Grenzziehung bezogen. Plausibel entwickelt Frank die Ausbildung des Atavismus- und Regressionsgedankens aus dem ›evolutionistischen Paradigma‹. Die Konsequenz, die sich daraus ziehen lässt, dass das Paradigma, das die entscheidende Stütze des geschichtlichen Fortschrittsdenkens des 18. und 19. Jahrhunderts bildet, letzteres selbst zu unterminieren beginnt, wird aber nicht weiterverfolgt.

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Fazit:
Die historische Stellung des
›evolutionistischen Paradigmas‹
in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts

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Mit Johannes Fabian geht Frank davon aus, dass es im 19. Jahrhundert »in der europäischen Arbeit an der Grenze zu einer entscheidenden Akzentverschiebung kommt«, indem sich mit der »Durchsetzung des evolutionistischen Paradigmas« eine »Verlagerung der Grenze von der Ebene des Raums auf die der Zeit« vollzieht (S. 18). Die drei untersuchten literarischen Texte »variieren das Grundschema« des ›evolutionistischen Paradigmas‹ und machen einen »diskursgeschichtlichen Prozess« erkennbar, der – so Franks Hauptthese – »als Naturalisierung der Differenz und Internalisierung der Grenze beschrieben werden kann« (S. 201 f.).

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Als Haupteinwand gegen diese Argumentation ließe sich vorbringen, dass das ›evolutionistische Paradigma‹ in seiner für das 19. Jahrhundert spezifischen Ausprägung in Franks Studie zu unscharf bleibt. Denn die diesem Paradigma zugrunde liegende Denkfigur einer Parallele zwischen ontogenetischer Entwicklung des Menschen und phylogenetischer Entwicklung der Menschheit, anhand derer zeitlich und räumlich entfernte Kulturen sowie individualpsychologische und kulturelle Phänomene ineinander ›übersetzbar‹ werden, wird bereits im 18. Jahrhundert ausgebildet. 12

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Die Vorstellung einer Parallele zwischen antiken ›Barbaren‹ und zeitgenössischen ›Wilden‹ begleitet die Geschichte der europäischen Expansion. Schon der Jesuitenmissionar Joseph-François Lafitau legt eine solche seinem gesamten Werk Mœurs des sauvages américains, comparées aux mœurs des premiers temps (1724) zugrunde, Bernard de Fontenelle macht sie zur Grundlage einer allgemeinen histoire de l’esprit humain und insbesondere Anne Robert Jacques Turgot hat das ›evolutionistische Paradigma‹ bereits äußerst prägnant formuliert:

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Und so kann der gegenwärtige Zustand der Welt, indem er in dieser unendlichen Verschiedenheit alle feinen Abstufungen der Barbarei und der auf der Erde verstreuten Zivilisation gleichzeitig darbietet, uns in gewisser Weise auf einen einzigen Blick die Spuren aller Schritte des menschlichen Geistes, das Bild aller Stufen, die er durchlaufen hat, und die Geschichte aller Zeitalter zeigen. 13
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Frank erkennt bei Rousseau eine frühe Formulierung des ›evolutionistischen Paradigmas‹ (S. 102–105) – aber handelt es sich um dasselbe Paradigma wie im 19. Jahrhundert? Hier wäre zum einen genauer auf die spezifischen historischen Ausprägungsformen dieses Paradigmas und deren wissenschaftsgeschichtliche Prämissen einzugehen gewesen. So müsste etwa die Auflösung der für die Aufklärung beinahe sakrosankten Vorstellung einer Uniformität der ›Natur‹ des Menschen durch den Darwinismus und die Psychologie des späten 19. Jahrhunderts in ihren Konsequenzen berücksichtigt werden. Zum anderen ließe sich fragen, ob mit den Degenerations-, Regressions- und Atavismustheorien nicht das ›evolutionistische Paradigma‹ selbst – zumindest verstanden als Entwicklungsschema – zunehmend aufgelöst wird.

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Mit kritischem Bezug auf eine Gegenwart, in der vorwiegend hoffnungsvolle Proklamationen des Verschwindens von Grenzen im Zeitalter der Globalisierung und Migration dominieren, hat Michael C. Frank eine Diskursgeschichte der kulturellen Grenzziehungen vorgelegt. Das Buch ist ein überzeugendes Beispiel dafür, was eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft zu leisten vermag: eine präzise auf den Gegenstand zugeschnittene methodische Reflexion, eine breite Aufarbeitung der historischen Kontexte und eine sorgfältige Analyse der literarischen Texte. Werden die Ergebnisse zudem in einer derart konzisen und prägnanten Form präsentiert wie im Fall der besprochenen Studie, so liest man diese mit größtem Gewinn und Genuss.

 
 

Anmerkungen

Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 201 (zitiert bei Frank, S. 41).   zurück
Vgl. Fritz Kramer: Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M.: Syndikat 1977, S. 69 (zit. bei Frank, S. 14).   zurück
Gerade die paraphrasierende Einbettung der (vornehmlich) englischsprachigen Originalzitate in den Lauftext ist dem Verfasser vorzüglich gelungen und hat zur Folge, dass sich das Buch sehr gut liest. Dass allerdings eine Passage aus einem englischsprachigen Aufsatz des Verfassers selbst als Blockzitat im Original zitiert wird, ist dann vielleicht doch etwas zuviel der philologischen Genauigkeit (S. 25 f.).   zurück
Vgl. Gabriele Dürbeck: Stereotype Paradiese. Ozeanismus in der deutschen Südseeliteratur, 181–1914. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. Bd. 115) Tübingen: Niemeyer 2007.   zurück
Vgl. etwa die Studie von Matthias Fiedler: Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus. Der deutsche Afrikadiskurs im 18. und 19. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2005.   zurück
Johannes Fabian: Time and the other. How anthropology makes its object. With a new foreword by Matti Bunzl. New York: Columbia UP 2002 [zuerst 1983].   zurück
Dies meint auch das »Grundschema« Tzvetan Todorovs, das eingangs zitiert wurde und auf das Frank hier explizit verweist (S. 41). Für Frank sind die beiden »Akzentverschiebungen« innerhalb des »evolutionistischen Paradigmas« – »von der kulturellen zur ›natürlichen‹ Differenz, von der räumlichen zur zeitlichen Distanz« – entscheidend (S. 47).   zurück
Bei den europäischen ›Strandläufern‹ handelt es sich in der Regel um Deserteure von europäischen Schiffsbesatzungen, die sich (zumindest vorübergehend) der indigenen Kultur assimilieren.   zurück
Vgl. Christiane Küchler Williams: Erotische Paradiese. Zur europäischen Südseerezeption im 18. Jahrhundert. (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa; 10) Göttingen: Wallstein 2004, insbes. S. 138–164.   zurück
10 
Vgl. Gabriele Dürbeck: Ambivalente Figuren und Doppelgänger. Funktionen des Exotismus in E.T.A. Hoffmanns Haimatochare und A. v. Chamissos Reise um die Welt. In: Alexandra Böhm und Monika Sproll (Hg.): Fremde Figuren – Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800. (Stiftung für Romantikforschung; 31) Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 157–181.   zurück
11 
Hier hätte es sich angeboten, etwas ausführlicher auf die Frage der Irreversibilität des klimatischen Einflusses einzugehen, die in den Klimatheorien des 18. Jahrhunderts bereits relativ breit behandelt wird.   zurück
12 
Dies habe ich ausführlicher dargestellt. Vgl. Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. (spectrum literaturwissenschaft/Komparatistische Studien; 11) Berlin, New York: de Gruyter 2007.   zurück
13 
Anne Robert Jacques Turgot: Über die Fortschritte des menschlichen Geistes. Hg. v. Johannes Rohbeck u. Lieselotte Steinbrügge. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1990, S. 142.   zurück