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Literaturwissenschaft und Sozialgeschichte

Neue Perspektiven auf Bürgerlichkeit

  • Hans-Edwin Friedrich / Fotis Jannidis / Marianne Willems (Hg.): Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 105) Tübingen: Max Niemeyer 2006. XL, 403 S. Kartoniert. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 3-484-35105-5.
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Es ist eine zu geringe Ironie der Wissenschaftsgeschichte und vor allem kein Ruhmesblatt der Geschichtswissenschaft, daß die anregendsten konzeptionellen Entwürfe zur bürgerlichen Kultur und zur Bürgerlichkeit außerhalb der historischen wissenschaftlichen Großprojekte entstanden sind. Das hängt zum einen sicherlich damit zusammen, daß sowohl der Bielefelder Sonderforschungsbereich als auch das von Lothar Gall geleitete Frankfurter Projekt »Stadt und Bürgertum« in der Mitte der achtziger Jahre und damit vor der in den neunziger Jahren intensiv aufflammenden Debatte über Kulturgeschichte konzipiert und begonnen wurden. Sie standen deshalb noch ganz unter dem Vorzeichen der Sozialgeschichte – mit allen Vorzügen, die das beinhaltete, aber auch mit spezifischen Begrenzungen. Zwar wurde in beiden Projektzusammenhängen im Verlauf der Arbeit zunehmend auch die Kultur des Bürgertums zum Thema, die spezifische Schlagseite zur Sozialgeschichte blieb aber unübersehbar.

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Jenseits dieser Forschungsverbünde haben Friedrich Tenbruck 1 und Karl Eibl 2 wegweisende theoretische Angebote für eine neue Beschäftigung mit Fragen bürgerlicher Kultur entwickelt. Beide haben die Reflexion über Probleme, die Auseinandersetzung sozialer Akteure in einer erodierenden ständischen Ordnung, als Ausgangspunkt bürgerlicher Kultur beschrieben. Sie haben damit alte Dichotomien wie die von Basis und Überbau, von Gesellschaft und Kultur hinter sich gelassen und Bürgerlichkeit als Selbstverständigungsprozess beschrieben. Während Tenbruck einen theoretischen Entwurf »kultureller Vergesellschaftung« in Anlehnung an Max Weber verfasste, hat Eibl 1995 gewissermaßen eine Bilanz literaturwissenschaftlicher Beschäftigung mit Literatur jenseits der Öffnung zur Sozialgeschichte vorgelegt. Seine Studie Die Entstehung der Poesie ist eine der beeindruckendsten Verbindungen von Sozial- und Kulturgeschichte – nicht nur für Literaturwissenschaftler.

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Der vorliegende Band greift – als Festschrift für Eibl – diese Programmatik auf und fächert das in vielen Einzelbeispielen aus. Gemeinsamer Bezugspunkt der Beiträge ist die in der Literaturwissenschaft seit den siebziger Jahren kontrovers und intensiv geführte Debatte über eine »Sozialgeschichte der Literatur« und damit die Relation zwischen Gesellschaft und Literatur. Bei aller Skepsis gegenüber vielen arg vereinfachten Antworten auf diese Fragen, die die Herausgeber in der Einleitung ausführlich vorstellen, halten sie doch am Anspruch fest, trotz der ästhetischen Autonomie die gesellschaftliche Konstruktion von Kunst mit zu berücksichtigen und zu analysieren.

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Der Band präsentiert zuerst Beiträge zur Theorie (Wolfgang Ruppert, Alois Hahn, Michael Maurer, Angelika Linke), sodann Einzelstudien zur Semantik des Begriffes Bürger (Cornel Zwierlein, Carsten Zelle, Friedrich Vollhardt, Hans-Edwin Friedrich), verfolgt drittens an durchaus unterschiedlichen Beispielen Thematisierungen von Bürgern und Bürgerlichkeit in der Literatur des 18. Jahrhunderts (John A. McCarthy, Hans-Jürgen Lüsebrink, Marisa Siguan) als auch den Stellenwert von Individualität (Marianne Willems, Katja Mellmann) und schließt mit vier Deutungen bürgerlicher Trauerspiele von Lothar Pikulik, Teruaki Takahashi und Hartmut Reinhardt zu Lessing, von Erich Schön zu Schiller). Wobei die Grenzen zwischen den vier Teilbereichen jeweils fließend sind, und – was einer der Vorzüge des Bandes ist – in fast allen Beiträgen eine intensive theoretische Reflexion erfolgt.

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Bilanziert man die theoretischen Angebote des Bandes, fällt erstens wohltuend die Gelassenheit auf, mit welcher unterschiedliche theoretische Positionen wie Luhmann, Bourdieu oder Foucault in Anspruch genommen, aber nicht ideologisch überhöht werden. Theorieentwürfe dienen damit wirklich als Anreger, um Zusammenhänge in der Vielfalt der Empirie sichtbar machen zu können. Zweitens wird klar, welche Bedeutung der Konzeption von Individualität und der Suche nach Beschreibungsformen für sie für die Entwicklung von Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert zukam. Angefangen von den kommunikativen Konstruktionsprozessen von Individualität (Linke) über die Beschreibung eines neuen Orientierungsmusters (Willems) bis hin zu Bildung (Hahn) und Mündigkeit (Zelle) reichen die Beiträge, welche erneut deutlich machen, dass die neuen sozialen Figurationen der bürgerlichen Gesellschaft auch neuer Entwürfe persönlicher Identität bedurften. Das ist nicht grundlegend neu – wird hier aber doch detailliert und vor allem in großer Breite sichtbar. Die »Umstellung der Gesamtorientation der Gesellschaftsstruktur auf das Individuum als Grundeinheit (statt auf Stände oder Kommunen)«, wie es Zwierlein formuliert (S. 112), erzwang geradezu die Parallelität von Subjektentwürfen und gesellschaftlichen Ordnungsfiguren. Der Band macht dabei auch deutlich, dass die Erfindung der Individualität in grundlegender Weise auch auf Emotionen beruhte (auch das ist Literaturwissenschaftlern weit selbstverständlicher als Historikern). Carsten Zelle verweist an einer Stelle auf Herders »Ich fühle mich! Ich bin!« (S. 117), was diese empfindsame Grundlage prägnant zum Ausdruck bringt. So überzeugend die Betonung einer komplexen Individualität ist, bleibt doch die Frage, ob das Individuum nicht noch mehr in seiner familialen Konstellation, in seiner Geborgenheit und Gebundenheit als Teil eines auch psychisch-emotional Familienverbandes wahrgenommen werden müsste. Nicht das Individuum ›an sich‹, sondern die sich in Familien konstituierenden und in Familien zusammenfindenden Individuen wären dann die Akteure von Bürgerlichkeit.

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Dass die Analyse von sozialen Formationen allein nicht hinreichend sein kann, um Bürgerlichkeit zu analysieren, ist den Historikern noch immer ins Stammbuch zu schreiben. Als Grundlage einer Historiker und Literaturwissenschaftler verbindenden Forschung könnte die Vorstellung eines »Bewegungsraumes Bürgertum« dienen, wie ihn im vorliegenden Band etwa Friedrich unter Bezug auf Eibl beschreibt und am Beispiel der Bürgersemantik Wielands untersucht. Diesen Bewegungsraum genauer zu bestimmen und sowohl die gesellschaftlichen Grenzen, die diesen Raum konturierten, präziser zu erfassen als auch die Bewegungsmöglichkeiten in ihm und die Beschreibungs- und Erfahrungsmöglichkeiten als Individuum in ihm – das könnte für die Zukunft fruchtbar sein.

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Dafür wäre es hilfreich, wenn Historiker ihre oft vorhandene Scheu vor hermeneutischen Interpretationen überwinden könnten und Individualität nicht nur als Prinzip, sondern auch in ihren vielfältigen Manifestationen als Forschungsgegenstand erkannten. Und umgekehrt – das sei als einzige Kritik aus der Sicht des Historikers an dieser Stelle formuliert – dürfte es fruchtbar sein, wenn die Literaturwissenschaft sich weniger scheuen würde, sich von den Einzelstimmen und ihrer Beschreibung und Analyse zu lösen.

 
 

Anmerkungen

Friedrich H. Tenbruck: Bürgerliche Kultur (1986). In: F. H. T.: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1989, S. 251–72.   zurück
Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt/M.: Insel 1995.   zurück