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»(...) dass sie aufstehen und erzählen ihren Kindern« (PS 78,6)

Das Thema Holocaust und die dritte Generation

  • Jens Birkmeyer / Cornelia Blasberg (Hg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. (Münstersche Arbeiten zur Internationalen Literatur 2) Bielefeld: Aisthesis 2006. 248 S. Paperback. EUR (D) 19,80.
    ISBN: 978-3-89528-531-8.
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Die dritte bzw. die vierte Generation nach dem Holocaust müssen zu neuen Gemeinschaften zusammenfinden, die einen eigenen Zugang zu der Vergangenheit finden. Dabei können sie weder auf die Erinnerungen der ersten Generation, der unmittelbar beteiligten Opfer oder Täter, direkt zurückgreifen noch auf die der zweiten Generation, die sich oft im Widerstand zu der ersten gegen Verdrängung und Verschweigen gewandt hat.

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Sozialpsychologische Grundlagen der Diskussion

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Hintergrund des Sammelbands sind vor allem die sozialpsychologischen Untersuchungen zum Familiengedächtnis von Gabriele Rosenthal (Der Holocaust im Leben von drei Generationen (1997))oder von Harald Welzer (Opa war kein Nazi (2002)), die beide mit je einem faszinierenden Beitrag in diesem Band vertreten ist. Vor allem Welzer hat mit seinen Thesen zu der Resistenz von Geschichtsmythen der ersten Generation gegen das kulturelle Gedächtnis – dem Wissen, das in Schule, der Universität und politischer Öffentlichkeit gelernt wurde – davor gewarnt, dass gerade die Enkelgeneration ihre eigenen Großeltern wieder zu Helden des Widerstands stilisiert. Seiner Meinung nach werden demnach die Familienerfahrungen intergenerationell unbewusst weiterwirken. Diese These stellt die Politikwissenschaftlerin Nina Leonhard eher in Frage. Sie forscht zwar zu ähnlichen Themen wie Welzer, kommt aber zu anderen Ergebnissen: Ihre Promotion zu Politik- und Geschichtsbewusstsein im Wandel wie auch ihr Beitrag in diesem Band kommen zu dem Schluss, dass »die Bedeutung der eigenen Familiengeschichte für die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus immer weiter abnehmen wird« (S. 78) und dass eher das Wissen über diese Zeit, das die Enkel außerhalb der Familien erfahren haben, ihre eigene Einschätzung bestimmen wird. Insbesondere im Kontext der Globalisierung und einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft werde die Bedeutung dieses Teils der deutschen Geschichte sowieso abnehmen.

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Ringvorlesung der Universität Münster

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Diese beiden widersprüchlichen Konzeptionen werden in den verschiedenen Beiträgen des Bandes aufgegriffen und aus je unterschiedlichen Fachperspektiven beleuchtet. Der Sammelband ist entstanden aus einer interdisziplinären Ringvorlesung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Dass bis auf wenige Ausnahmen die meisten der Vortragenden aus Münster selbst kamen, verweist darauf, dass es hier wohl schon einen lebendigen Diskussionsprozess gibt. Norbert Nowotsch, Professor für Mediengestaltung, beleuchtet Konzepte der Ausstellungsgestaltung zu Themen des Holocaust. Der Historiker Hans-Ulrich Thamer untersucht, wie sich die deutsche Erinnerungskultur vor und nach 1989 gestaltet hat. Christoph Spieker oder Ulrike Schrader, die beide aus der Gedenkstättenarbeit kommen, legen Beiträge zu der deutschen Erinnerungskultur und dem Umgang mit »lästigen Orten« der Erinnerung vor.

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Literaturwissenschaftliche Ansätze

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Einen besonderen Schwerpunkt stellen die drei literaturwissenschaftlichen Beiträge des Bandes dar: Jens Birkmeyer widmet sich in seinem theoretisch hochkomplexen Beitrag dem »Gedächtnisdilemma in der Popliteratur«. Vertreter der »Generation Golf« wie Florian Illies sehen ja ihre Texte als »Archivierung« der Gegenwart, die Vergangenheit des Holocaust taucht hier aber nur anekdotenhaft als Kritik an den übereifrigen Bemühungen der zweiten Generation auf, die Nachfolgenden aufzuklären. Birkmeyer kritisiert, dass die soziale Rahmung der Vertreter dieser Generation es ihnen oft nicht erlaubt, zu einer eigenen reflektierten Sicht auf diese Geschichte zu kommen, sondern einem »selbstreferentiellen Wahrnehmungskontext« verhaftet bleiben. Als positives Gegenbeispiel, bei dem aus dieser Haltung doch noch wirkliche Selbstreflexion wird, stellt er dagegen Sophie Dannenbergs Roman Das bleiche Herz der Revolution (2004) vor.

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Cornelia Blasberg stellt in »Erinnern? Tradieren? Erfinden?« drei Romane vor, die alle die Verbindung zwischen den drei Generationen nach dem Holocaust zum Thema haben: Im Krebsgang (2002) von Günter Grass wird dabei als ein Werk gekennzeichnet, dass sich zwar nach außen mit der dritten Generation beschäftigt, in Wirklichkeit aber weiter die Geschichtsverarbeitung der zweiten Generation ins Zentrum stellt. Tanja Dückers Himmelskörper (2003) statt dessen zeigt wirklich, wie sich die Enkelgeneration von der belastenden Familiengeschichte befreien kann, indem sie diese abschließend aufarbeitet. Marcel Beyers Spione (2002) sei dagegen ein Beispiel, bei dem die Erinnerung an die »deutsche Geschichte« nur vordergründig in Bezug zu den Familiengeheimnissen gebracht werde und schließlich aufgedeckt wird, dass sie keine Relevanz mehr habe. Mit dieser Deutung, nach der im heutigen patchwork der Identitäten die Zugehörigkeit zu dem nationalen Trauma der Deutschen irrelevant geworden ist, nähert sich Blasberg demnach den oben erwähnten Thesen von Nina Leonhard.

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Doerte Bischoff betont demgegenüber die Unmöglichkeit, zu einem »Schluss zu kommen«. Am Beispiel von Doron Rabinovicis Roman Ohnehin (2004) entlarvt sie etwa den Diskurs der Walser-Rede, indem sie Bezüge herstellt zwischen der »Endlösungs-Rhetorik« der Nationalsozialisten und den Schlussstrich-Formulierungen auch der jüngsten Generation.

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»Wohin mit dem Holocaust?« – so lautete das provozierende Thema einer abschließenden Podiumsdiskussion nach der Ringvorlesung. Sie wird zum Schluss des Bandes dokumentiert, indem die einleitenden Thesen der vier TeilnehmerInnen abgedruckt werden (Christoph Spieker, Jens Birkmeyer, Ursula Reitemeyer und Oliver Naepel) – dies zeigt aber wieder einmal, wie schlecht konkrete Diskussionsprozesse in Buchform wiederzugeben sind.

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»Wohin mit dem Holocaust?« – diese Frage beschäftigt weiter alle diejenigen, die mit den eigenen Kindern, mit SchülerInnen oder Auszubildenden einen Dialog über das Vergangene aufrechterhalten wollen: »Auf dass erkenne das künftige Geschlecht, die Kinder, die geboren werden, dass sie aufstehen und erzählen ihren Kindern.« (Psalm 78,6)

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Der vorliegende Band nimmt sowohl die Eltern und die Großeltern in ihrer Bemühung um Aufrechterhalten des Gedächtnisses wie auch die Enkel in ihrem Recht auf ihre neue Sicht auf die Vergangenheit ernst.