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Im April 2006 fand an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz ein Symposium über »Ingeborg Bachmann und die Musik« statt. Wie der Ort erwarten lässt, fühlten sich nicht nur Literaturwissenschaft Treibende vom Thema angezogen, sondern auch einige Musikwissenschaftler(innen), eine Kunsthistorikerin und ein Komponist: ein buntes Teilnehmerfeld, wie geschaffen für die interdisziplinäre Begegnung. Der Tagungsband, der ein paar Monate später erschien und die Vorträge sammelt, lässt darum einiges erwarten, auch für die allgemeine Reflexion der möglichen Beziehungen zwischen Literatur und Musik. Neuen Aufschluss über Bachmann sollte der Band natürlich ohnehin geben, zumal ihr die Musik bekanntermaßen wichtig war. Die Erwartungen vor der Lektüre dürfen darum hoch gesteckt sein. Diese Rezension teilt mit, warum und worin sie enttäuscht werden.
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Einleitung
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Musik – das ist seit dem Ende der achtziger Jahre ein in der Bachmannforschung zunehmend wichtiger werdendes Thema, aus folgenden Gründen:
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1. Bachmann hat sich theoretisch mit Musik (und ihrem Verhältnis zur Dichtung) beschäftigt, was sich in Essays niederschlägt. Anzuführen sind hier mindestens Die wunderliche Musik; Musik und Dichtung sowie die Hommage à Maria Callas.
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2. Bachmann zählte Musiker zu ihrem Freundeskreis, zum Beispiel Karl Amadeus Hartmann, Luigi Nono, Hans Werner Henze, und widmete ihnen Gedichte (Enigma für Henze, In memoriam für Hartmann). Sie kannte Adorno persönlich, den sie auch als Musiktheoretiker las.
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3. Mit Henze arbeitete sie an mehreren Opern und anderen Projekten; der 2005 bei Piper erschienene Briefwechsel zwischen beiden Briefe einer Freundschaft hat hier die Quellenlage erheblich verbessert.
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4. Musikalische Bezüge finden sich in einigen Werken, am prominentesten sicher im Roman Malina mit seinen Notenzitaten des Schönbergschen Pierrot lunaire, im späten Gedicht Enigma und im Hörspiel Die Zikaden.
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5. Bachmann hob die Bedeutung der Musik für sie in mehreren Interviews hervor:
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A1) »Was geblieben ist, ist vielleicht doch ein besonderes Verhältnis zur Musik«.
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A2) »[Musik] hilft mir, indem sich in ihr für mich das Absolute zeigt, das ich nicht erreicht sehe in der Sprache, also auch nicht in der Literatur, weil ich sie für überlegener halte, also eine hoffnungslose Beziehung zu ihr habe«.
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A3) »Und immer, wenn ich über Musik spreche, fällt mir ein, daß Musik mein erster Ausdruck war, der erste kindliche Ausdruck war und heute für mich noch immer der höchste Ausdruck ist, den die Menschheit überhaupt gefunden hat. Für mich ist Musik größer als alles, was es gibt an Ausdruck. Dort haben die Menschen das erreicht, was wir durch Worte und durch Bilder nicht erreichen können.«
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A4) »[…] hier und da erinnre ich mich an eine früh gehörte Zeile, an einen Ausdruck, und wenn mir etwas sehr gefällt, wenn ich meine, es müsse gerettet werden, dann verwende oder variiere ich einen Ausdruck, gebe ihm einen neuen Stellenwert. Das ist […] ein Verhältnis zur Vergangenheit, ein Arbeitsverhältnis, das zum Beispiel in der Musik seit jeher vorkommt«.
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Für diese Äußerungen gibt es Standardinterpretationen, die einem bei der Lektüre des vorliegenden Bandes gewärtig sein sollten. Danach definieren (A1)–(A3) die »Utopie« des Ausdrucks, nach dem Bachmanns Schreiben strebt,
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während (A4) Bachmanns intertextuelle Schreibweise als ›musikalische‹ Schreibweise
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kenntlich macht. Weiters sind (A1)–(A4) zusammen Anzeigen ihrer »musikalischen Poetik«, deren Wirksamkeit und Prinzipien sich in ihrem dichterischen Werk niedergeschlagen hätten und auch dort auffinden ließen. Klingt zu simpel? Ist es!
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Chancen vertan
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An einem Tagungsband überzeugt besonders, wenn man als Leser merkt, dass die Autoren in der Niederschrift ihrer Vorträge das Beisammensein verarbeitet haben, sei es in der Reaktion auf Fragen des Publikums, sei es in der Bezugnahme auf andere Vorträge, mit denen sie schließlich das Thema gemeinsam haben. Das gerade ist die besondere Chance eines Symposions. Leider stehen die Beiträge des vorliegenden Bandes alle für sich allein und damit nebeneinander.
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Die Herausgeber haben zudem einige Gelegenheiten ausgelassen, die Brauchbarkeit des Bandes zu erhöhen. Zum Beispiel haben sie versäumt, die Beiträger auf eine einheitliche Zitierweise und die Standardausgaben der besprochenen Werke zu verpflichten. Schließlich gibt es solche bei Bachmann, und es nimmt Wunder, wenn für die Essays vier verschiedene Ausgaben (mit unterschiedlichen Seitenzahlen) bemüht werden!
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Wichtiger noch wäre eine gute Einleitung: die neben der Vorstellung der Beiträge auch einen sorgfältigen Forschungsüberblick über das doch eng umgrenzte Thema mit einer anständigen Bibliographie bietet. Das wollen die Herausgeber nicht nötig haben: für den Forschungsüberblick möge man das immerhin schon vier Jahre alte Bachmann-Handbuch
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bemühen (S. 20, Anm. 1), Literatur – füge ich hinzu – findet man dort ebenfalls oder muss man sich aus den Anmerkungen herauslesen. Susanne Koglers thematische Hinführung genügt sich darin, die ›Vielfalt und Komplexität‹ der »besondere[n] Affinität Ingeborg Bachmanns zur Musik« (S. 12) zu behaupten. Ihre biographischen Bemerkungen sind zudem oberflächlich. Unerwähnt lässt sie, dass Bachmann als Kind Klavierspielen gelernt hat; dafür unterstellt sie ihr ein Studium der »Philosophie, Psychologie, Germanistik und Kunstgeschichte« (S. 13, meine Hervorhebung). Alle anderen mir bekannten Zeugen inklusive Bachmann selbst schreiben beziehungsweise reden stattdessen von einem Semester Recht in Innsbruck.
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Auch Andreas Dorschels Vorwort ist bestenfalls »wolkig« zu nennen: wenn er das Wort von Bachmanns ›besonderem Verhältnis zur Musik‹ (A1 oben) zitiert – zentral natürlich für diesen Band –, dann wüsste man schon gerne, was es bedeuten soll, dass er es »mit möglicherweise erotischem Unterton« von Bachmann formuliert meint (S. 9). Bedeutet es nichts weiter als: möglicherweise auch nicht?
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Dass es keine Register, insbesondere keines der besprochenen Werke Bachmanns gibt, verstärkt nur dein Eindruck, dass hier mit weniger Eile ein besseres Buch entstanden wäre.
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Bachmann-Texte in der künstlerischen Rezeption
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Der Band besteht aus zwei Teilen: Bachmann und Musik in ihrem Werk gilt der eine, der zweite dem Werk Bachmanns in der Wahrnehmung, in der Musik beziehungsweise der Kunst anderer. Der Komponist Moritz Eggert, die Musikpädagogin Julia Hinterberger, die Musikwissenschaftler(innen) Eva Maria Houben, Monika Müller-Naef und Martin Zenck zählen hier unter anderen zu den Beiträgern. Zenck widmet sich der »Oralität und Skripturalität der Lyrik« Bachmanns und Vertonungen einiger ihrer Gedichte durch Luigi Nono, Giacomo Manzoni und Adriana Hölszky sowie der künstlerischen Rezeption durch Anselm Kiefer. Dabei geht er auch, kürzer, auf Bachmanns eigenen Gedichtvortragsstil und die Tradition des künstlerischen vortragenden Sprechens in Österreich ein (S. 206/207): ein sehr interessanter Hinweis! Wenig überzeugt allerdings seine These, Bachmann habe den Vortrag ihrer Gedichte als »lyrische Form sui generis« (S. 209) betrachtet: das wünscht er allein aus den verschiedenen schriftlichen Fassungen des später Dunkles zu sagen genannten Gedichts abzuleiten, ohne auch nur auf die Bedeutungsänderungen durch die Umformulierungen einzugehen.
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Die Mainzer Kunsthistorikerin Elisabeth Oy-Marra behandelt (S. 240–253) die Rezeption Bachmannscher Texte durch den Maler Anselm Kiefer, die sie als Fortführung seiner Arbeit am Lebensthema Erinnerung begreift, und zeigt, wie er ihr Werk als Steinbruch für die eigene Reflexion benutzt. Hier muss man den Verlag dafür loben, dass er dem Buch die erwähnten Gemälde als farbige Abbildungen beigegeben hat.
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Auf einige Beiträge des anderen Teils gehe ich nun etwas genauer ein.
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Agnese über das Wittgensteinsche Absolute
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Barbara Agnese verknüpft in ihrem Aufsatz »›Das Absolute, das ich nicht erreicht sehe in der Sprache‹. Zwischen Musik und Literatur: das Unsagbare bei Bachmann« (S. 22–34) Wittgensteins im Tractatus gebrauchten Begriff des ›Unsagbaren‹ mit Bachmanns (vermutetem) Konzept des ›Absoluten‹. Agnese hat 1996 mit Der Engel der Literatur. Zum philosophischen Vermächtnis Ingeborg Bachmanns (Wien: Böhlau) eine umfangreiche Arbeit über Bachmanns ›philosophisches‹ Denken vorgelegt, auf deren Ergebnisse vor allem bezüglich Bachmanns Wittgenstein-Rezeption sie sich hier stützt. Ein Blick auf andere Forschungsmeinungen hätte allerdings nicht geschadet:
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dann hätte sie zum Beispiel nicht mehr schreiben können, dass Bachmanns Sprachauffassung gewöhnlich mit »Sprachskepsis« »definiert« werde (S. 22), denn das stimmt nicht einmal für die Anfänge dieser Forschung.
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Etwas mehr im Zentrum von Agneses Aufsatz ist ihre hier wiederholte These, Bachmann habe den späten Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen gründlich gelesen und den frühen im Lichte des späten verstanden (S. 23). Daran sind Zweifel berechtigt,
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und also auch an dem Gewicht, welches Agnese dem »Unaussprechlichen« beim frühen Wittgenstein zuschreibt. Sie schließt dieses ›Jenseits‹ der Sprachkonzeption des Tractatus – seltsamerweise stellt sie nicht fest, dass es dies in den Philosophischen Untersuchungen nicht mehr gibt – mit Bachmanns Äußerungen zur Musik als dem ›Absoluten‹ kurz (siehe oben A2+3). Der in diesen Zitaten zentrale Begriff des »Ausdrucks« wäre der Untersuchung wert, bleibt hier aber völlig ungeklärt.
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Solibakke über den Goldenen Schnitt
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Karl Ivan Solibakke möchte in seinem Aufsatz »›O alter Duft aus Märchenzeit‹: idealistische Musikphilosophie und die Literarisierung der Musik in ausgewählten Werken Ingeborg Bachmanns« (S. 35–54) »die Literarisierung der Musik bei Ingeborg Bachmann auf ihre ideengeschichtlichen Ursprünge zurückverfolgen« (S. 35). Solibakke hat 2005 eine ähnlich gelagerte Studie in Buchform vorgelegt,
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auf die er hier allerdings kein einziges Mal rekurriert.
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Solibakke beginnt mit Ausführungen zur idealistischen Musikphilosophie etwa von Kant, Schopenhauer und Hegel, denen ein Themenwechsel folgt: eine Analyse von Was ich in Rom sah und hörte. Die wird erst am Ende auf die vorgestellten Musikphilosophien zurückbezogen, und zwar so: da bei Schopenhauer und Hegel die Klangkunst die Vorrangstellung einnimmt, ist von den beiden Wahrnehmungsmodi Sehen und Hören im Essay das Hören der Wichtigere, entsprechend seien die redensartlichen Äußerungen am Ende des Essays erkenntnismäßig privilegiert. Dass hier ein Bindeglied fehlt, warum Schopenhauer und Hegel für die Bachmanndeutung privilegiert sein sollten, scheint Solibakke nicht zu stören.
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Ähnlich lückenhaft argumentiert Solibakke in Bezug auf Malina, dem zweiten Schwerpunkt seines Beitrags. Im Traumkapitel von Malina rekurriere Bachmann »auf die Zahlenreihe des goldenen Schnitts«, und zwar »durch die Untergliederung des Traumkapitels in 3 Gruppen von 13, 13 und 8 Teilen«.
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Was dieser Deutung Plausibilität verleiht, ist die Tatsache, dass der goldene Schnitt bei der Gestaltung von Fensterformen zur Anwendung kommt, und dass die Traumsequenz mit dem Fenster zur inneren Seele des Ich eröffnet wird. (S. 51)
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Den kühnen Übergang vom architektonischen Element Fenster über eine Fenstermetapher, deren Vorhandensein im Text erst gezeigt werden müsste, zur Struktur des Textes wundert mich schon, mehr noch aber das Fehlen einer These, warum Bachmann in ihren Text derlei Strukturelemente einarbeiten sollte.
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Kogler über Leben und Tod
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Susanne Koglers Aufsatz »›Wie Orpheus spiel ich auf den Saiten des Lebens …‹: zur Dialektik von Leben und Tod bei Ingeborg Bachmann« beginnt mit der schiefen Prämisse, dass Bachmanns »Bezugnahme auf Musik« »beim Mythos« ansetze (S. 53). Gemeint ist damit das Gedicht Dunkles zu sagen beziehungsweise dessen frühere Fassung, die 1952 auf der Tagung der Gruppe 47 vorgelesen wurde, und seine Aufnahme des Orpheus-Motivs. Dass dies mitnichten die erste Bezugnahme auf Musik in Bachmanns Werk ist, stelle ich hier nur fest.
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Kogler möchte die »in Dunkles zu sagen deutlich werdende orphische Vorstellung von Gesang mit Bachmanns Musikauffassung in Zusammenhang« bringen (S. 55), legt aber keine ernstzunehmende Analyse von Dunkles zu sagen vor.
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Die »orphische Vorstellung« sei so zu verstehen: Orpheus geht (bei Ovid) zweimal in die Unterwelt: zuerst um Eurydike zu retten, was bekanntermaßen misslingt. Danach singt Orpheus aus Trauer zum Steinerweichen, wird aber von den Mänaden getötet und wandelt dann selbst als Schatten in der Unterwelt. Dieser zweite Besuch habe »utopische Züge«, da Orpheus nun vom Gesetz der Götter frei sei. Bachmanns »Variation« (S. 57) des Motivs von der Ermordung des Sängers in Dunkles zu sagen laufe darauf hinaus, dass dort
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nichts übrig bleibt als Klang […], wobei zwischen Gesang und reiner Musik zu unterscheiden ist. Als reiner Klang ist die Musik erst nach dem Tode des Ich zu hören, so dass sie quasi die verstummte Sprache ersetzt. In der aus der Todeserfahrung hervorgegangenen Musik ist zugleich Erfahrung des Schmerzes wie auch Hoffnung auf Leben enthalten. Sie ist wesentlich Utopie, deren Voraussetzung das Verstummen des Sängers darstellt.
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Gemessen daran, wie wichtig der letzte Teil der These für Koglers Gedankengang ist, nämlich die vom »Verstummen« als Voraussetzung der Utopie, ist bedauerlich, dass hier eine Erklärung fehlt, worin denn das Verstummen (des weiblichen Ich!?) im Gedicht Dunkles zu sagen zu erkennen ist. Dort heißt es ja gegen Ende: »Beide klagen wir nun«.
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Koglers poetologisch aufgeladene Deutung sieht zudem ab vom Entstehungs- und Zeitkontext des Gedichts (und den intertextuellen Bezügen zu Celan, die hier nicht einmal Erwähnung finden) und kehrt damit zu der überholten existenziellen Deutungsweise der frühen Bachmann-Forschung zurück. Aber wer die Forschungsgeschichte nicht kennt, ist natürlich auch nicht vor ihren Irrwegen gefeit.
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Ähnlich lose argumentiert erscheinen auch die übrigen Thesen des Aufsatzes. Der Gesang der Zikaden wird beispielsweise umstandslos mit »Bachmanns Musikauffassung« verbunden, so dass Kogler ganz ernst gemeint schreiben kann:
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Zum einen schmerzvolle Wahrheit, beinhaltet Musik für Bachmann jedoch zum anderen auch Gefahr, insofern als sie zur Flucht aus der Welt, zu einer Existenz quasi am Rande, zu tödlicher Isolation verleitet. (S. 61)
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Das ist, um es deutlich zu sagen, Unfug; über das Offensichtliche hinaus auch darum, weil hier ganz un-Bachmannsch Musik ohne den Musikanten als Handelnden gedacht ist. Nur weil sie Musik so versteht, kann Kogler am Ende von der »Auflösung der Sprache in Musik« als dem »Tod des individuellen Subjekts und seiner Sprache« schreiben und in den Raum stellen: »Was bleibt, ist Klang« (S. 70). Gerade das stimmt für Bachmann nicht. In dem natürlich auch von Kogler herangezogenen Essay Musik und Dichtung schreibt Bachmann, wie Sprache der Musik etwas hinzuzufügen vermag: »Sprache in harter Währung, einen Wert«; »die Musik gerät mit der Sprache in ein Bekenntnis, das sie sonst nicht ablegen kann«. Darauf kam es Bachmann an, nicht auf den Einsatz »musikalischer Techniken«.
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Was man lesen sollte
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Die Beiträge von Susanne Golisch, Hartmut Spiesecke und Karen Achberger haben ihre eigenen Schwächen. Spiesecke bringt gegenüber seiner Dissertation von 1993 wenig Neues.
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Bei Golisch wundert man sich über haarsträubende Fehler, etwa wenn sie die Forschung zu Undine geht mit der These zusammenfasst, die Figur des Hans stehe für die Kunst (S. 87) – bekanntermaßen sagt Bachmann im Interview, die Undine sei »die Kunst, ach die Kunst«.
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Karen Achberger führt in ihrem Aufsatz frühere Ansätze (zum Beispiel zu den Vortragsbezeichnungen in Malina) fort, gründet ihre Neuinterpretation des Romans Malina über das erlösende Verschwinden des Ichs in der Wand der Transzendenz allerdings auf fragwürdige musikhistorische Einordnungen von Musikstücken, deren Gewicht für den Roman für mich nicht überzeugend begründet wird.
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Blickt man zusammenfassend auf den ganzen Band, bleibt nur das Fazit: Schade. Da hätte mehr draus werden können. Abschließend möchte ich daher auf einen kürzlich erschienenen Aufsatz zum Thema hinweisen, der ein paar mir neue Erkenntnisse enthält und Thesen vertritt, nämlich Beate Willma: »›Am Starkstrom Gegenwart‹. Postwar musical aesthetics in Ingeborg Bachmann’s ›Musik und Dichtung‹«, erschienen in Krieg und Literatur X (2004), S. 35–48. Willma ordnet Bachmanns Essay in den musikgeschichtlichen Kontext der 1950er Jahre ein: in Stockhausens Ästhetik der seriellen Musik, die Zielsetzungen der Münchner Konzertreihe ›musica viva‹, in Henzes und Nonos Textvertonungen. Willma zeigt dabei auch, wie Bachmann bewusst ihren Blick beschränkt auf bestimmte Typen von Musik, also andere ausschließt. Beispielhaft finde ich an diesem Vorgehen sowohl die Orientierung an der konkreten Zeitgeschichte der Musik als auch an der genauen Lektüre des Essays, die sich eben nicht damit begnügt, ihn mit den bekannten Interviewäußerungen zur Ausdrucksutopie Musik kurzzuschließen. So überraschend und gut begründend hätte ich mir die literaturwissenschaftlichen Beiträge des besprochenen Sammelbandes gewünscht.
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