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Bachmann und Musik

Dokumentation eines Symposions
mit verschenkten Möglichkeiten

  • Susanne Kogler / Andreas Dorschel (Hg.): Die Saite des Schweigens. Ingeborg Bachmann und die Musik. Wien: Edition Steinbauer 2006. 320 S. Broschiert. EUR (D) 25,00.
    ISBN: 978-3-902494-12-2.
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Im April 2006 fand an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz ein Symposium über »Ingeborg Bachmann und die Musik« statt. Wie der Ort erwarten lässt, fühlten sich nicht nur Literaturwissenschaft Treibende vom Thema angezogen, sondern auch einige Musikwissenschaftler(innen), eine Kunsthistorikerin und ein Komponist: ein buntes Teilnehmerfeld, wie geschaffen für die interdisziplinäre Begegnung. Der Tagungsband, der ein paar Monate später erschien und die Vorträge sammelt, lässt darum einiges erwarten, auch für die allgemeine Reflexion der möglichen Beziehungen zwischen Literatur und Musik. Neuen Aufschluss über Bachmann sollte der Band natürlich ohnehin geben, zumal ihr die Musik bekanntermaßen wichtig war. Die Erwartungen vor der Lektüre dürfen darum hoch gesteckt sein. Diese Rezension teilt mit, warum und worin sie enttäuscht werden.

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Einleitung

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Musik – das ist seit dem Ende der achtziger Jahre ein in der Bachmannforschung zunehmend wichtiger werdendes Thema, aus folgenden Gründen:

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1. Bachmann hat sich theoretisch mit Musik (und ihrem Verhältnis zur Dichtung) beschäftigt, was sich in Essays niederschlägt. Anzuführen sind hier mindestens Die wunderliche Musik; Musik und Dichtung sowie die Hommage à Maria Callas.

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2. Bachmann zählte Musiker zu ihrem Freundeskreis, zum Beispiel Karl Amadeus Hartmann, Luigi Nono, Hans Werner Henze, und widmete ihnen Gedichte (Enigma für Henze, In memoriam für Hartmann). Sie kannte Adorno persönlich, den sie auch als Musiktheoretiker las. 1

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3. Mit Henze arbeitete sie an mehreren Opern und anderen Projekten; der 2005 bei Piper erschienene Briefwechsel zwischen beiden Briefe einer Freundschaft hat hier die Quellenlage erheblich verbessert.

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4. Musikalische Bezüge finden sich in einigen Werken, am prominentesten sicher im Roman Malina mit seinen Notenzitaten des Schönbergschen Pierrot lunaire, im späten Gedicht Enigma und im Hörspiel Die Zikaden.

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5. Bachmann hob die Bedeutung der Musik für sie in mehreren Interviews hervor:

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A1) »Was geblieben ist, ist vielleicht doch ein besonderes Verhältnis zur Musik«. 2

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A2) »[Musik] hilft mir, indem sich in ihr für mich das Absolute zeigt, das ich nicht erreicht sehe in der Sprache, also auch nicht in der Literatur, weil ich sie für überlegener halte, also eine hoffnungslose Beziehung zu ihr habe«. 3

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A3) »Und immer, wenn ich über Musik spreche, fällt mir ein, daß Musik mein erster Ausdruck war, der erste kindliche Ausdruck war und heute für mich noch immer der höchste Ausdruck ist, den die Menschheit überhaupt gefunden hat. Für mich ist Musik größer als alles, was es gibt an Ausdruck. Dort haben die Menschen das erreicht, was wir durch Worte und durch Bilder nicht erreichen können.« 4

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A4) »[…] hier und da erinnre ich mich an eine früh gehörte Zeile, an einen Ausdruck, und wenn mir etwas sehr gefällt, wenn ich meine, es müsse gerettet werden, dann verwende oder variiere ich einen Ausdruck, gebe ihm einen neuen Stellenwert. Das ist […] ein Verhältnis zur Vergangenheit, ein Arbeitsverhältnis, das zum Beispiel in der Musik seit jeher vorkommt«. 5

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Für diese Äußerungen gibt es Standardinterpretationen, die einem bei der Lektüre des vorliegenden Bandes gewärtig sein sollten. Danach definieren (A1)–(A3) die »Utopie« des Ausdrucks, nach dem Bachmanns Schreiben strebt, 6 während (A4) Bachmanns intertextuelle Schreibweise als ›musikalische‹ Schreibweise 7 kenntlich macht. Weiters sind (A1)–(A4) zusammen Anzeigen ihrer »musikalischen Poetik«, deren Wirksamkeit und Prinzipien sich in ihrem dichterischen Werk niedergeschlagen hätten und auch dort auffinden ließen. Klingt zu simpel? Ist es!

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Chancen vertan

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An einem Tagungsband überzeugt besonders, wenn man als Leser merkt, dass die Autoren in der Niederschrift ihrer Vorträge das Beisammensein verarbeitet haben, sei es in der Reaktion auf Fragen des Publikums, sei es in der Bezugnahme auf andere Vorträge, mit denen sie schließlich das Thema gemeinsam haben. Das gerade ist die besondere Chance eines Symposions. Leider stehen die Beiträge des vorliegenden Bandes alle für sich allein und damit nebeneinander.

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Die Herausgeber haben zudem einige Gelegenheiten ausgelassen, die Brauchbarkeit des Bandes zu erhöhen. Zum Beispiel haben sie versäumt, die Beiträger auf eine einheitliche Zitierweise und die Standardausgaben der besprochenen Werke zu verpflichten. Schließlich gibt es solche bei Bachmann, und es nimmt Wunder, wenn für die Essays vier verschiedene Ausgaben (mit unterschiedlichen Seitenzahlen) bemüht werden! 8 Wichtiger noch wäre eine gute Einleitung: die neben der Vorstellung der Beiträge auch einen sorgfältigen Forschungsüberblick über das doch eng umgrenzte Thema mit einer anständigen Bibliographie bietet. Das wollen die Herausgeber nicht nötig haben: für den Forschungsüberblick möge man das immerhin schon vier Jahre alte Bachmann-Handbuch 9 bemühen (S. 20, Anm. 1), Literatur – füge ich hinzu – findet man dort ebenfalls oder muss man sich aus den Anmerkungen herauslesen. Susanne Koglers thematische Hinführung genügt sich darin, die ›Vielfalt und Komplexität‹ der »besondere[n] Affinität Ingeborg Bachmanns zur Musik« (S. 12) zu behaupten. Ihre biographischen Bemerkungen sind zudem oberflächlich. Unerwähnt lässt sie, dass Bachmann als Kind Klavierspielen gelernt hat; dafür unterstellt sie ihr ein Studium der »Philosophie, Psychologie, Germanistik und Kunstgeschichte« (S. 13, meine Hervorhebung). Alle anderen mir bekannten Zeugen inklusive Bachmann selbst schreiben beziehungsweise reden stattdessen von einem Semester Recht in Innsbruck. 10

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Auch Andreas Dorschels Vorwort ist bestenfalls »wolkig« zu nennen: wenn er das Wort von Bachmanns ›besonderem Verhältnis zur Musik‹ (A1 oben) zitiert – zentral natürlich für diesen Band –, dann wüsste man schon gerne, was es bedeuten soll, dass er es »mit möglicherweise erotischem Unterton« von Bachmann formuliert meint (S. 9). Bedeutet es nichts weiter als: möglicherweise auch nicht?

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Dass es keine Register, insbesondere keines der besprochenen Werke Bachmanns gibt, verstärkt nur dein Eindruck, dass hier mit weniger Eile ein besseres Buch entstanden wäre. 11

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Bachmann-Texte in
der künstlerischen Rezeption

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Der Band besteht aus zwei Teilen: Bachmann und Musik in ihrem Werk gilt der eine, der zweite dem Werk Bachmanns in der Wahrnehmung, in der Musik beziehungsweise der Kunst anderer. Der Komponist Moritz Eggert, die Musikpädagogin Julia Hinterberger, die Musikwissenschaftler(innen) Eva Maria Houben, Monika Müller-Naef und Martin Zenck zählen hier unter anderen zu den Beiträgern. Zenck widmet sich der »Oralität und Skripturalität der Lyrik« Bachmanns und Vertonungen einiger ihrer Gedichte durch Luigi Nono, Giacomo Manzoni und Adriana Hölszky sowie der künstlerischen Rezeption durch Anselm Kiefer. Dabei geht er auch, kürzer, auf Bachmanns eigenen Gedichtvortragsstil und die Tradition des künstlerischen vortragenden Sprechens in Österreich ein (S. 206/207): ein sehr interessanter Hinweis! Wenig überzeugt allerdings seine These, Bachmann habe den Vortrag ihrer Gedichte als »lyrische Form sui generis« (S. 209) betrachtet: das wünscht er allein aus den verschiedenen schriftlichen Fassungen des später Dunkles zu sagen genannten Gedichts abzuleiten, ohne auch nur auf die Bedeutungsänderungen durch die Umformulierungen einzugehen.

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Die Mainzer Kunsthistorikerin Elisabeth Oy-Marra behandelt (S. 240–253) die Rezeption Bachmannscher Texte durch den Maler Anselm Kiefer, die sie als Fortführung seiner Arbeit am Lebensthema Erinnerung begreift, und zeigt, wie er ihr Werk als Steinbruch für die eigene Reflexion benutzt. Hier muss man den Verlag dafür loben, dass er dem Buch die erwähnten Gemälde als farbige Abbildungen beigegeben hat.

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Auf einige Beiträge des anderen Teils gehe ich nun etwas genauer ein.

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Agnese über das
Wittgensteinsche Absolute

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Barbara Agnese verknüpft in ihrem Aufsatz »›Das Absolute, das ich nicht erreicht sehe in der Sprache‹. Zwischen Musik und Literatur: das Unsagbare bei Bachmann« (S. 22–34) Wittgensteins im Tractatus gebrauchten Begriff des ›Unsagbaren‹ mit Bachmanns (vermutetem) Konzept des ›Absoluten‹. Agnese hat 1996 mit Der Engel der Literatur. Zum philosophischen Vermächtnis Ingeborg Bachmanns (Wien: Böhlau) eine umfangreiche Arbeit über Bachmanns ›philosophisches‹ Denken vorgelegt, auf deren Ergebnisse vor allem bezüglich Bachmanns Wittgenstein-Rezeption sie sich hier stützt. Ein Blick auf andere Forschungsmeinungen hätte allerdings nicht geschadet: 12 dann hätte sie zum Beispiel nicht mehr schreiben können, dass Bachmanns Sprachauffassung gewöhnlich mit »Sprachskepsis« »definiert« werde (S. 22), denn das stimmt nicht einmal für die Anfänge dieser Forschung. 13 Etwas mehr im Zentrum von Agneses Aufsatz ist ihre hier wiederholte These, Bachmann habe den späten Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen gründlich gelesen und den frühen im Lichte des späten verstanden (S. 23). Daran sind Zweifel berechtigt, 14 und also auch an dem Gewicht, welches Agnese dem »Unaussprechlichen« beim frühen Wittgenstein zuschreibt. Sie schließt dieses ›Jenseits‹ der Sprachkonzeption des Tractatus – seltsamerweise stellt sie nicht fest, dass es dies in den Philosophischen Untersuchungen nicht mehr gibt – mit Bachmanns Äußerungen zur Musik als dem ›Absoluten‹ kurz (siehe oben A2+3). Der in diesen Zitaten zentrale Begriff des »Ausdrucks« wäre der Untersuchung wert, bleibt hier aber völlig ungeklärt.

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Solibakke über
den Goldenen Schnitt

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Karl Ivan Solibakke möchte in seinem Aufsatz »›O alter Duft aus Märchenzeit‹: idealistische Musikphilosophie und die Literarisierung der Musik in ausgewählten Werken Ingeborg Bachmanns« (S. 35–54) »die Literarisierung der Musik bei Ingeborg Bachmann auf ihre ideengeschichtlichen Ursprünge zurückverfolgen« (S. 35). Solibakke hat 2005 eine ähnlich gelagerte Studie in Buchform vorgelegt, 15 auf die er hier allerdings kein einziges Mal rekurriert.

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Solibakke beginnt mit Ausführungen zur idealistischen Musikphilosophie etwa von Kant, Schopenhauer und Hegel, denen ein Themenwechsel folgt: eine Analyse von Was ich in Rom sah und hörte. Die wird erst am Ende auf die vorgestellten Musikphilosophien zurückbezogen, und zwar so: da bei Schopenhauer und Hegel die Klangkunst die Vorrangstellung einnimmt, ist von den beiden Wahrnehmungsmodi Sehen und Hören im Essay das Hören der Wichtigere, entsprechend seien die redensartlichen Äußerungen am Ende des Essays erkenntnismäßig privilegiert. Dass hier ein Bindeglied fehlt, warum Schopenhauer und Hegel für die Bachmanndeutung privilegiert sein sollten, scheint Solibakke nicht zu stören. 16

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Ähnlich lückenhaft argumentiert Solibakke in Bezug auf Malina, dem zweiten Schwerpunkt seines Beitrags. Im Traumkapitel von Malina rekurriere Bachmann »auf die Zahlenreihe des goldenen Schnitts«, und zwar »durch die Untergliederung des Traumkapitels in 3 Gruppen von 13, 13 und 8 Teilen«.

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Was dieser Deutung Plausibilität verleiht, ist die Tatsache, dass der goldene Schnitt bei der Gestaltung von Fensterformen zur Anwendung kommt, und dass die Traumsequenz mit dem Fenster zur inneren Seele des Ich eröffnet wird. (S. 51)
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Den kühnen Übergang vom architektonischen Element Fenster über eine Fenstermetapher, deren Vorhandensein im Text erst gezeigt werden müsste, zur Struktur des Textes wundert mich schon, mehr noch aber das Fehlen einer These, warum Bachmann in ihren Text derlei Strukturelemente einarbeiten sollte.

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Kogler über Leben und Tod

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Susanne Koglers Aufsatz »›Wie Orpheus spiel ich auf den Saiten des Lebens …‹: zur Dialektik von Leben und Tod bei Ingeborg Bachmann« beginnt mit der schiefen Prämisse, dass Bachmanns »Bezugnahme auf Musik« »beim Mythos« ansetze (S. 53). Gemeint ist damit das Gedicht Dunkles zu sagen beziehungsweise dessen frühere Fassung, die 1952 auf der Tagung der Gruppe 47 vorgelesen wurde, und seine Aufnahme des Orpheus-Motivs. Dass dies mitnichten die erste Bezugnahme auf Musik in Bachmanns Werk ist, stelle ich hier nur fest.

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Kogler möchte die »in Dunkles zu sagen deutlich werdende orphische Vorstellung von Gesang mit Bachmanns Musikauffassung in Zusammenhang« bringen (S. 55), legt aber keine ernstzunehmende Analyse von Dunkles zu sagen vor. 17 Die »orphische Vorstellung« sei so zu verstehen: Orpheus geht (bei Ovid) zweimal in die Unterwelt: zuerst um Eurydike zu retten, was bekanntermaßen misslingt. Danach singt Orpheus aus Trauer zum Steinerweichen, wird aber von den Mänaden getötet und wandelt dann selbst als Schatten in der Unterwelt. Dieser zweite Besuch habe »utopische Züge«, da Orpheus nun vom Gesetz der Götter frei sei. Bachmanns »Variation« (S. 57) des Motivs von der Ermordung des Sängers in Dunkles zu sagen laufe darauf hinaus, dass dort

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nichts übrig bleibt als Klang […], wobei zwischen Gesang und reiner Musik zu unterscheiden ist. Als reiner Klang ist die Musik erst nach dem Tode des Ich zu hören, so dass sie quasi die verstummte Sprache ersetzt. In der aus der Todeserfahrung hervorgegangenen Musik ist zugleich Erfahrung des Schmerzes wie auch Hoffnung auf Leben enthalten. Sie ist wesentlich Utopie, deren Voraussetzung das Verstummen des Sängers darstellt.
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Gemessen daran, wie wichtig der letzte Teil der These für Koglers Gedankengang ist, nämlich die vom »Verstummen« als Voraussetzung der Utopie, ist bedauerlich, dass hier eine Erklärung fehlt, worin denn das Verstummen (des weiblichen Ich!?) im Gedicht Dunkles zu sagen zu erkennen ist. Dort heißt es ja gegen Ende: »Beide klagen wir nun«.

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Koglers poetologisch aufgeladene Deutung sieht zudem ab vom Entstehungs- und Zeitkontext des Gedichts (und den intertextuellen Bezügen zu Celan, die hier nicht einmal Erwähnung finden) und kehrt damit zu der überholten existenziellen Deutungsweise der frühen Bachmann-Forschung zurück. Aber wer die Forschungsgeschichte nicht kennt, ist natürlich auch nicht vor ihren Irrwegen gefeit.

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Ähnlich lose argumentiert erscheinen auch die übrigen Thesen des Aufsatzes. Der Gesang der Zikaden wird beispielsweise umstandslos mit »Bachmanns Musikauffassung« verbunden, so dass Kogler ganz ernst gemeint schreiben kann:

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Zum einen schmerzvolle Wahrheit, beinhaltet Musik für Bachmann jedoch zum anderen auch Gefahr, insofern als sie zur Flucht aus der Welt, zu einer Existenz quasi am Rande, zu tödlicher Isolation verleitet. (S. 61)
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Das ist, um es deutlich zu sagen, Unfug; über das Offensichtliche hinaus auch darum, weil hier ganz un-Bachmannsch Musik ohne den Musikanten als Handelnden gedacht ist. Nur weil sie Musik so versteht, kann Kogler am Ende von der »Auflösung der Sprache in Musik« als dem »Tod des individuellen Subjekts und seiner Sprache« schreiben und in den Raum stellen: »Was bleibt, ist Klang« (S. 70). Gerade das stimmt für Bachmann nicht. In dem natürlich auch von Kogler herangezogenen Essay Musik und Dichtung schreibt Bachmann, wie Sprache der Musik etwas hinzuzufügen vermag: »Sprache in harter Währung, einen Wert«; »die Musik gerät mit der Sprache in ein Bekenntnis, das sie sonst nicht ablegen kann«. Darauf kam es Bachmann an, nicht auf den Einsatz »musikalischer Techniken«.

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Was man lesen sollte

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Die Beiträge von Susanne Golisch, Hartmut Spiesecke und Karen Achberger haben ihre eigenen Schwächen. Spiesecke bringt gegenüber seiner Dissertation von 1993 wenig Neues. 18 Bei Golisch wundert man sich über haarsträubende Fehler, etwa wenn sie die Forschung zu Undine geht mit der These zusammenfasst, die Figur des Hans stehe für die Kunst (S. 87) – bekanntermaßen sagt Bachmann im Interview, die Undine sei »die Kunst, ach die Kunst«. 19

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Karen Achberger führt in ihrem Aufsatz frühere Ansätze (zum Beispiel zu den Vortragsbezeichnungen in Malina) fort, gründet ihre Neuinterpretation des Romans Malina über das erlösende Verschwinden des Ichs in der Wand der Transzendenz allerdings auf fragwürdige musikhistorische Einordnungen von Musikstücken, deren Gewicht für den Roman für mich nicht überzeugend begründet wird. 20

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Blickt man zusammenfassend auf den ganzen Band, bleibt nur das Fazit: Schade. Da hätte mehr draus werden können. Abschließend möchte ich daher auf einen kürzlich erschienenen Aufsatz zum Thema hinweisen, der ein paar mir neue Erkenntnisse enthält und Thesen vertritt, nämlich Beate Willma: »›Am Starkstrom Gegenwart‹. Postwar musical aesthetics in Ingeborg Bachmann’s ›Musik und Dichtung‹«, erschienen in Krieg und Literatur X (2004), S. 35–48. Willma ordnet Bachmanns Essay in den musikgeschichtlichen Kontext der 1950er Jahre ein: in Stockhausens Ästhetik der seriellen Musik, die Zielsetzungen der Münchner Konzertreihe ›musica viva‹, in Henzes und Nonos Textvertonungen. Willma zeigt dabei auch, wie Bachmann bewusst ihren Blick beschränkt auf bestimmte Typen von Musik, also andere ausschließt. Beispielhaft finde ich an diesem Vorgehen sowohl die Orientierung an der konkreten Zeitgeschichte der Musik als auch an der genauen Lektüre des Essays, die sich eben nicht damit begnügt, ihn mit den bekannten Interviewäußerungen zur Ausdrucksutopie Musik kurzzuschließen. So überraschend und gut begründend hätte ich mir die literaturwissenschaftlichen Beiträge des besprochenen Sammelbandes gewünscht.

 
 

Anmerkungen

Dies hat Corina Caduff in ihrer Monographie »dadim, dadam«. Figuren der Musik in der Literatur Ingeborg Bachmanns (Köln, Weimar.: Böhlau 1998) ausführlich gezeigt.   zurück
Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hg. von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. Neuausgabe München, Zürich: Piper 1991. S. 124.   zurück
Ebenda, S. 85.   zurück
Das Interview mit Gerda Haller, aus dem diese Äußerung stammt, wurde bislang nach einem Manuskript im Nachlass der Bachmann zitiert; verlässlicher ist jedoch neuerdings: Ingeborg Bachmann: Ein Tag wird kommen. Gespräche in Rom. Ein Porträt von Gerda Haller. Salzburg, Wien: Jung und Jung, 2004. Das Zitat dort auf S. 70–71.   zurück
Ingeborg Bachmann: Gespräche und Interviews (Anm. 2), S. 60.   zurück
Dass eine Autorin über ihr eigenes bevorzugtes Kunstmittel sagt, dieses sei nicht das Höchste, ist ganz schön provozierend. Die um ein Verstehen bemühte Literaturwissenschaft kann das seit Jahren nur glauben, wenn sie zugleich annimmt, Bachmann habe an diesem Höchsten doch mit ihrer eigenen Literatur teilhaben wollen. So erklärt sich der Erfolg des Begriffs der »musikalischen Poetik« in der Forschung. Vgl. dagegen Bachmann: Gespräche und Interviews (Anm. 2), S. 84.   zurück
Eine ›musikalische Schreibweise‹ wird Bachmann bereits – in aller Vagheit – von Manfred Jurgensen (Ingeborg Bachmann. Die neue Sprache. Frankfurt/M. u.a.: Lang 1981) attestiert. Den Begriff der »musikalischen Poetik« hat Hartmut Spiesecke geprägt: Hartmut Spiesecke: Ein Wohlklang schmilzt das Eis. Ingeborg Bachmanns musikalische Poetik. Berlin: Klaunig 1993. Spiesecke verknüpfte dies (ebd. S. 220) mit der These, Musik sei für Bachmann »Vorbild für eine Struktur des Schreibens« geworden.   zurück
Zitiert wird in den Beiträgen zum Teil, wie ich es auch tun würde, nach der neuen Ausgabe der so genannten Kritischen Schriften (hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. München, Zürich: Piper 2005), z.B. von der einen Herausgeberin Susanne Kogler in ihrer Einleitung. Dieselbe Autorin bemüht allerdings in ihrem Tagungsbeitrag einen Bachmann-Vorstellungsband des Piper-Verlags von 1964 Gedichte, Erzählungen, Hörspiele, Essays (S. 72, Anm. 12). Barbara Agnese zitiert nach dem zweiten Band der Werkausgabe von 1978 (in der dritten Auflage von 1984), Stefanie Golisch (S. 94, Anm. 6) nach der Einzelausgabe Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Essays, Reden, Kleinere Schriften (3. Aufl., München: Piper 1985). – Vielleicht ist dies für den Bachmann-Forscher leicht zu verschmerzen, da er die zitierten Sätze ohnehin in der Regel gut kennt und schnell in seiner eigenen Ausgabe auffindet (auch wenn natürlich die Verwendung anderer als der Kritischen Ausgabe darauf hindeutet, dass der jeweilige Verfasser deren Kommentar und Editionsbericht; und für einige Essays auch die dort gebotenen Varianten eben nicht kennt). Aber Kants Kritik der Urteilskraft möchte ich nicht nach einer von Gerhard Lehmann (Stuttgart 1963) herausgegebenen Ausgabe zitiert sehen, wie von Karl Ivan Solibakke (S. 52, Anm. 1), sondern z.B. nach der Akademie-Ausgabe: und wenn das nicht möglich ist, dann bitte in einer seitenunabhängigen Zitierweise, etwa nach Paragraphen. Denn so gut kenne ich Kant nicht, dass ich seine Sätze schnell fände. Noch mehr stört mich, dass Susanne Kogler und Hartmut Spiesecke Platons Phaidros nicht nach den in jeder zitierbaren Ausgabe vorhandenen Seitenzahlen der Stephanus-Ausgabe zitieren, sondern nach den akzidentellen ihrer in Frankfurt 1991 bzw. Stuttgart 1977 erschienenen.   zurück
Monika Albrecht / Dirk Göttsche (Hg.): Bachmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2002. Der Artikel »III.5 Bachmann und die Musik«, ebenda S. 297–308, stammt von Dirk Göttsche.   zurück
10 
Diese Information findet sich in allen biographischen Überblicken, etwa in der Vita, die Otto Bareiss-Ohloff für Text und Kritik 1985 verfasste, in Andreas Hapkemeyers Überblicken von 1982 (Bilder aus ihrem Leben) und 1990 (Entwicklungslinien zu Leben und Werk), in den Bildbiographien von Hans Höller bei Rowohlt (1999) und Joachim Hoell bei dtv (2001). Übrigens auch in Bachmanns Gespräche und Interviews (Anm. 2), S. 81.   zurück
11 
Dass einmal versehentlich die Schrifttype von Garamond zu Times New Roman wechselt (S. 180f.), sieht zwar nicht gut aus, ist aber auch nicht schlimm.   zurück
12 
Von den 49 Endnoten des Aufsatzes verweisen nur zwei auf die Forschung anderer, nämlich die Note 3 (S. 31) auf Dirk Göttsches Studie Die Produktivität der Sprachkrise in der modernen Prosa von 1987 und die Note 35 (S. 32) auf Spieseckes Monographie (siehe oben Anm. 3).   zurück
13 
Der erste prominente Beitrag ist Peter Fehls Dissertation, die eben von Sprachskepsis und Sprachhoffnung handelt. Peter Fehl: Sprachskepsis und Sprachhoffung im Werk Ingeborg Bachmanns. Diss. masch. Mainz 1970. – Ich muss gestehen, dass ich einige Formulierungen Agneses gar nicht verstehe. So schreibt sie S. 23: »Den Begriff ›Sprachskepsis‹ auf Bachmann anzuwenden könnte bedeuten, auch Wittgenstein nicht verstanden zu haben, und die Sprachproblematik, die auch für Bachmann zentral ist, auf das Kantsche Modell zurückzuführen, das heißt auf eine auf der Struktur Gegenstand-Beschreibung basierte Sprachauffassung, in der die Sprache noch als Entität zwischen Ich und der Welt, als Ersatz für alte philosophische Termini wie Erfahrung, Welt, Ich, Gott betrachtet wird.« Ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand die These vertritt, die Sprache sei eine (dritte) Entität zwischen (den Entitäten) Ich und Welt, aber selbst wenn das doch einer tun oder getan haben sollte, verstehe ich nicht, inwiefern eine Entität ein Ersatz für ältere philosophische Termini sein kann oder was es bedeutet, dass eine Entität zwischen Ich und Welt als Ersatz für Termini wie Ich und Welt betrachtet werde. – Ich vermute, dass Agnese ein einfaches Zeichenmodell meint, wie Wittgenstein es in den ersten Sätzen der Philosophischen Untersuchungen nach Augustins Confessiones (wieso führt Agnese Kant an?) zitiert; Augustin skizziert ein Sprachlernen, indem er einen Gegenstand mit einem zugehörigen Ausdruck zu verknüpfen lernte.   zurück
14 
Vgl. meine eigene Darstellung von Bachmanns Wittgenstein-Rezeption im Bachmann-Handbuch (Anm. 9).   zurück
15 
Karl Ivan Solibakke: Geformte Zeit. Musik als Diskurs und Struktur bei Bachmann und Bernhard (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Literaturwissenschaft, 514). Würzburg: Königshausen und Neumann 2005. Der Verlag schreibt darüber (Klappentext): »Die Analyse von Ingeborg Bachmanns Malina und Thomas Bernhards Der Ignorant und der Wahnsinnige setzt die Betrachtung der Tonkunst als Diskursgrundlage für die Werkinhalte und als Prinzip bei der Ausformung der Textstruktur voraus. Wichtig sind hierfür die Nachzeichnung jener musikalischen Diskurse, die ab 1800 für die moderne Literatur relevant werden, und die Parallelisierung von musikalischen und textlichen Formschemata.«   zurück
16 
Dass Solibakke außerdem meint, Was ich in Rom sah und hörte sei »nach dem Schema des goldenen Schnitts gegliedert«, scheint mir nur ein weiterer Beleg für seine wenig ernstzunehmende Argumentationsweise. So führt er als Beleg für die Verwendung des Goldenen Schnitts in einem Hörwerk die »Gesamttaktzahl« von Beethovens c-Moll-Symphonie (welcher Satz?) an: dort geht es sicher um hunderte von Takten. Für den Text begnügt er sich mit dem Hinweis, dass »im Bereich der natürlichen Zahlen das Zahlenverhältnis 3/5/8 die häufigste Umsetzung des Schnitts darstellt«, so dass es (ihn) nicht überrascht, »dass Bachmann ihre Rombilder auch daraufhin anordnet. In siebzehn Absätze unterteilt, besteht der Text aus zwei größeren Teilstücken von jeweils acht Abschnitten, die von einem Zentralabsatz unterbrochen und abgesetzt sind. Der Zentralabsatz, der von einer Abstraktheit der Raumkonfiguration gekennzeichnet ist, dient als poetologische Miniatur und ästhetisch-philosophische Leseanweisung für das Prosagedicht. Also bilden die Absätze 1 bis 5 die vordere Teileinheit der ersten Oktave, sodann die Absätze 6 bis 8 die hintere.« Ich habe dies in aller Ausführlichkeit zitiert, damit mehrerlei deutlich wird: Erstens: das logische Signalwort »also«, welches gemeinhin bedeutet, dass das Folgende aus dem Voranstehenden folgt, kann hier nichts dergleichen bedeuten, weil der Satz und die weiteren Sätze davor keinen Hinweis darauf geben, warum die Absätze 1 bis 5 die »vordere Teileinheit der ersten Oktave« geben sollten und woran man das erkennt. – Zweitens: Bekanntermaßen ist der Goldene Schnitt ein Verhältnis eigentlich für Strecken, bei dem sich die Gesamtlänge zur größeren Teilstrecke so verhält wie die größere Teilstrecke zur kleineren. Deswegen kann mit Zahlenverhältnissen, die mit Ganzen Zahlen ausgedrückt werden, nur eine Annäherung an den Goldenen Schnitt angegeben werden, die natürlich umso besser ist, je größer die Zahlen sind. (Der Wikipedia-Artikel zum Goldenen Schnitt URL: <http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Goldener_Schnitt&oldid=32206438> [Fassung 23.5.07] erklärt dies ganz hervorragend.) Das bedeutet, dass 8:5 oder 5:3 nicht so leicht auf den Goldenen Schnitt schließen lassen wie, sagen wir, 233:144. – Drittens: Es ist eine besondere Pointe des Goldenen Schnitts, dass es um das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen geht, wobei sich in den Teilen dieselben (Goldenen) Proportionen wiederholen. Das Gesamte von Bachmanns Text hat nach Solibakke 17 Abschnitte, gegliedert in 8+1+8 Abschnitte. Weder die Gesamtzahl noch die Teile haben irgendetwas mit dem Goldenen Schnitt zu tun. – Viertens: Vielleicht mutet es nur mir absurd an, die Zahl von Abschnitten als Maß des Goldenen Schnitts anzusehen, wo doch diese Abschnitte durchaus ihrerseits unterschiedlich lang sind (an Worten oder an Zeichen). Für Beethovens Takte gilt das nicht: die sind alle gleich lang, oder, falls es da Taktwechsel gibt, ähnlich lang.   zurück
17 
Wichtige Deutungshypothesen werden von ihr unerklärt gesetzt. So meint Kogler z.B., das sprechende Ich des Gedichts sei weiblich (S. 57): da wüsste ich schon gerne, woran sie dies erkennt.   zurück
18 
Spiesecke skizziert in seinem Aufsatz überblicksartig eine Linie der Beschäftigung mit Musik im Werk Bachmanns von der Lyrik (Lieder auf der Flucht), über das Hörspiel Die Zikaden und Bachmanns Umdeutung der platonischen Geschichte, bis zu den Libretti, um schließlich Malina als sprachlichen Neuansatz eines montierenden Schreibens gegenüberzustellen. Klammer der Werke vor Malina ist für Spiesecke, dass Bachmann an die Erlösung der Sprache durch die Musik geglaubt habe, was sich nicht nur in der Verwendung des Musikmotivs in Lyrik und Hörspiel, sondern auch zentral in ihrem musiktheatralischen Engagement zeigt, eben gerade jene berühmte Verbindung von »Musik und Dichtung«, wie es in Bachmanns gleichnamigem Essay heißt. Den Essay mit dem Librettoschaffen zusammen zu denken, finde ich überzeugend, habe ich allerdings ausführlicher schon bei Katja Schmidt-Wistoff gelesen: Katja Schmidt-Wistoff: Dichtung und Musik bei Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze: der »Augenblick der Wahrheit« am Beispiel ihres Opernschaffens. München: iudicium 2001. (Zugl. Univ. Diss. Bonn 2000).   zurück
19 
Bachmann: Gespräche und Interviews (Anm. 2), S. 46.   zurück
20 
Achberger hebt Schönbergs Pierrot lunaire, Wagners Tristan und Isolde und Beethovens späte Klaviersonaten hervor, weil diese Stücke das Ich selbst spiele und weil man in diesen Werken »Momente eines Grenzüberschreitens, sowohl tonal als auch thematisch, einer unverkennbar mystischen Transzendenz, friedlich und erhaben« finde (S. 97). Beispielhaft kurz zu Achbergers Interpretation des Wagner-Intertexts: Gemeint sind damit Passagen aus dem Traumkapitel, besonders ein Traum, in dem das Ich sich als Schauspieler bei einer Opernaufführung träumt. Diese starke Verzerrung der Aufführungssituation (Traum, Misslingen der Aufführung etc.), auch der vom Ich jeweils gesungene Text spielen allerdings in Achbergers Deutung keine Rolle; stattdessen Schönbergs Interpretation des so genannten Tristan-Akkords in seiner tonalen Mehrdeutigkeit, welche Achberger als Ausweis der Transzendenz versteht (S. 103). Hier wird deutlich, wie fragwürdig es ist, ‘Transzendenz‹ musikhistorisch aus dem Stück zu interpretieren, obwohl von Aufführung durch das Ich nur schwer die Rede sein kann; klarerweise hat außerdem in Malina der jeweils herbeizitierte Text der Oper eine deutliche Funktion im Roman, welcher allein genügen würde, die intertextuelle Referenz zu begründen.   zurück