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Technikphilosophische Aspekte der Lebensphilosophie

Ernst Oldemeyer stellt Positionen zur Diskussion

  • Ernst Oldemeyer: Leben und Technik. Lebensphilosophische Positionen von Nietzsche zu Plessner. Paderborn: Wilhelm Fink 2007. 176 S. Kartoniert. EUR (D) 19,90.
    ISBN: 978-3-7705-4407-3.
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Verfemung der Lebensphilosophie

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Der mit Nietzsche beginnende Strang der Lebensphilosophie war ideenpolitisch lange in der Defensive. Zu offensichtlich schienen die Gefahren, die mit einem Denken einhergehen, das nicht die Differenz zwischen Mensch und Tier, sondern die Einheit aller unter dem Titel ›Leben‹ zu fassenden Erscheinungen betont. Dreh- und Angelpunkt in dieser Auseinandersetzung ist der Vernunftbegriff, denn während anthropozentrische Theorien den Menschen als durch Vernunft ausgezeichnet begreifen (animal rationale), muss die Lebensphilosophie Vernunft als ein bereits im bloß organischen nicht nur angelegten, sondern bereits vorhandenen Modus verstehen, der es erlaubt, in der Welt zu Recht zu kommen. Ist aber die Differenz Mensch/Tier erst einmal auf diese Weise relativiert, steht bereits da Gespenst des Faschismus im Raume: Allzu oft wurde eine gerade Linie von Nietzsche zu Hitler gezogen, beispielsweise bei Lukács.

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Sind wir über diesen Stand der Diskussion hinaus? Als Peter Sloterdijk in seiner Dankesrede zur Verleihung des Lessing-Preises eben jene Denkfigur erneut vorführte, war keine Verteidigung mehr nötig. Schon Schnecken und Mollusken bildeten Immunsysteme aus, die das Leben auf vorhersehbar Unvorhersehliches, Größeres und Lebendbedrohliches vorbereiteten. In diesem Sinne sei auch Religion als ein Immunsystem zu verstehen, das den Menschen auf die Begegnung mit dem ganz Anderen vorbereite.

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Rehabilitierung einer Tradition

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Ernst Oldemeyer zeigt in seinem Buch Leben und Technik. Lebensphilosophische Positionen von Nietzsche zu Plessner, dass derartige Argumente bei weitem nicht so neu sind, wie sie bisweilen präsentiert werden. Er unternimmt damit zugleich den Versuch der Rehabilitierung einer unterschätzten Tradition. Sein Buch stellt in angenehm klarer Sprache und mit pointiertem Zugriff Autoren vor, die zu Unrecht aus der technikphilosophischen Diskussion gedrängt wurden. Da Technikphilosophie hier nicht als Spezialistenfach für philosophierende Ingenieure, sondern als Integrationszentrum umfassender Diskussionen verstanden wird, eignet sich das Buch auch für Leser der Nachbardisziplinen: gerade auch für die philologischen Fächer. Wer sich um einen interdisziplinären Austausch zwischen Kultur- und Technikwissenschaften einsetzt, wird hier Argumente dafür finden, Kultur und Technik nicht als Widerspruch zu verstehen.

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Aktualität lebensphilosophischer Positionen

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Inhaltlich fällt auf, dass die lebensphilosophischen Positionen in einem Punkt kaum der Aktualisierung bedürfen. Immer wieder, besonders deutlich bei Berdjajew und Bergson, taucht die Einsicht auf, dass es auch eine Ethik des Bleiben-Lassens geben muss. Die Umstellung von der Leitidee des Wachstums zur Idee der Nachhaltigkeit kann auf individueller Ebene nur bedeuten, dass der Mensch versteht, dass er vieles nicht braucht. Die Klimakrise wird diese Umstellung der Gewohnheiten zwangsläufig beschleunigen Zur Avantgarde gehört dann, wer einfach mal zu Hause bleibt, statt wie ein um 300 Jahre verspäteter James Cook das Ende der Welt zu suchen. Diese Modernität des Bleiben-Lassens hätte man schärfer gegen die dominierende Idee des Wachstums konturieren können.

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Fazit

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Entsprechend plädiert auch Oldemeyer abschließend für eine Kultur des Ausgleichs, die Natur und Technik nicht mehr als Gegensätze versteht, sondern Technik »natürlich« einzusetzen weiß. »Natürlich« heißt dann vor allem: unter Abschätzung der Folgen, auch der Fernfolgen, was nicht zuletzt qua textueller Reflexion zu bewerkstelligen wäre. Die lebensphilosophische Tradition wird damit zur Basis eines Denkens, das sich einerseits von einem bloßen ›Zurück-zur-Natur‹ der frühen Ökobewegung abgrenzt, weil auch diese noch dualistisch denkt, das zugleich aber die Vorstellung von vollständiger Beherrschbarkeit der Natur ebenso hinter sich lässt. Lebensphilosophische und -philologische Ansätze werden sich künftig vor allem mit den Theorien der Ökonomie auseinanderzusetzen haben, die gleichermaßen in Politik und Alltag diffundieren. Oldemeyers Buch liefert hierfür einen lesenswerten und inspirierenden Ausgangspunkt.