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Napoleon in Gebrauch

  • Barbara Beßlich: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800 bis 1945. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007. 504 S. Gebunden. EUR (D) 79,90.
    ISBN: 978-3-534-20025-2.
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Entgegen ihrer eigenen Programmatik enthält Barbara Beßlichs Habilitationsschrift zum deutschen Napoleon-Mythos keine Mythengeschichte Napoleons. Und sie schließt auch keine Forschungslücke, wie die Einleitung dies ankündigt (S. 17). Was die Autorin hier tatsächlich präsentiert, ist vielmehr ein Grundlagenwerk zur deutschen Literatur- und Ideengeschichte zwischen 1800 und 1945, das mit seinem analytischen und darstellerischen Verfahren die bisherigen Forschungsergebnisse zur literarischen Napoleonrezeption weitreichend umorganisiert und das vermeintlich vertraute Themenfeld insgesamt neu perspektiviert.

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Seine besondere Bedeutung gewinnt dieses Buch nämlich nicht allein aus dem Umstand, dass es die bisherige historische Demarkationslinie der Forschung überschreitet und fast die Hälfte seiner rund 500 Seiten der bislang literatur- und kulturgeschichtlich unterbelichteten Napoleonliteratur nach 1848 widmet. Sondern Beßlichs methodische Herangehensweise an das literarische Material macht Napoleon überdies erstmalig als Reflexionsmedium einer literarischen Kommunikation sichtbar, die 150 Jahre deutscher Kulturgeschichte durchzogen und gestaltet hat und die – so lautet die grundlegende Einsicht bereits nach Lektüre der ersten Kapitel – auch nur in ihrer Gänze verstanden werden kann. Dank der atemberaubenden Fülle des von Beßlich präsentierten und diskutierten Materials ist die literatur- und kulturgeschichtliche Forschung von nun an eben dazu in der Lage.

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Methodik durch die Hintertür

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Es ist indes für das Verfahren dieser materialgesättigten Studie nicht ohne Signifikanz, dass man über ihre Methodik, ihre zentralen Kategorien und theoretischen Voraussetzungen im eigens dafür vorgesehenen Einleitungskapitel »Mythos und Erinnerung. Fragen, Ziele und Methoden einer literaturwissenschaftlichen und kulturhistorischen Analyse der deutschen Napoleon-Literatur« (S. 22–32) am wenigsten erfährt. Das Buch wolle, so heißt es hier, »eine Literaturgeschichte des Napoleon-Mythos von 1800 bis 1945 als deutsche Erinnerungsgeschichte und kulturelle Bedeutungsgeschichte« schreiben (S. 22); und zwar mit deutlichem Akzent auf der »produktiven Potenz« von Literatur im Zusammenhang »der kulturellen Sinnproduktion« (ebd.). Auf diese literaturwissenschaftlich durchaus mehrheitsfähige Erklärung folgt ein berückend pflichtschuldig anmutender, kursorischer Schnelldurchlauf durch diverse Theoriekonzepte und Ansätze im Umfeld von ›Mythos‹ und ›Erinnerung‹, die eher gelistet als diskutiert werden. Offenbar fest auf die Evidenzeffekte von Metonymien vertrauend, lässt Beßlich hier in dichter Folge eine Reihe klingender Namen fallen wie Roland Barthes, Herfried Münkler, Hans Blumenberg, Ernst Cassirer, Gerhart von Graevenitz, daneben Etienne François und Hagen Schulze, Aleida und Jan Assmann.

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An die Stelle einer – von der Verfasserin (S. 25) explizit dispensierten – kritischen Auseinandersetzung mit der Vielzahl konkurrierender Mythenbegriffe in den Geistes-, Kultur- und Religionswissenschaften der vergangenen Jahrzehnte treten Verweise auf mehr oder minder einschlägige Lexikonartikel und Einführungstexte zum Thema. Einzig Wulf Wülfings Modell einer »Mythisierung historischer Personen« steigt aus den Fußnoten in den Fließtext auf und wird von Beßlich »begriffen als erinnerte und in der Erinnerung ästhetisch neu- und umgedeutete, schöpferisch imaginierte Geschichte« (S. 25). Als eine solche mythisierte historische Person sei Napoleon – hier folgt ein kleiner Schlenker über das kulturhistoriographische Konzept Etienne François’ und Hagen Schulzes – ein »deutscher Erinnerungsort« (S. 29) des 19. und 20. Jahrhunderts gewesen. Dass die Verfasserin diesen Erinnerungsort / Mythos Napoleon vornehmlich durch literarische Texte hindurch verfolgt, begründet sie – und hier wird es interessant – mit dem Quellenbefund: »[D]er deutsche Napoleon-Mythos [wird] ganz wesentlich in der Literatur konstruiert, inszeniert und verhandelt«, er »exiliert […] nach 1821 in Deutschland regelrecht in das literarische Medium, um erst wieder nach 1890 weitere Medien zurückzuerobern« (S. 32 f.).

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Von eben dieser Beobachtung nimmt Beßlichs Napoleon-Buch seinen darstellerischen Ausgang, und von ihr her gewinnt es auch seinen eigentlichen methodischen Ansatz, der weder mit mythen- noch mit erinnerungstheoretischen Theoremen etwas zu tun hat: Ohne es explizit zu machen, schreibt Beßlich eine literarische Gebrauchsgeschichte Napoleons von 1800 bis 1945, und sie tut das äußerst stringent. Denn letztlich fragt das Buch konsequent nach den spezifischen Potenzialen dieser historischen Figur für die literarische Kommunikation in Deutschland. Es verfolgt die form- und sinngeschichtlichen Transformationen dieses napoleonischen Reflexionsmediums durch die Jahrzehnte hindurch und führt seine Leser auf diese Weise durch einen literarischen Möglichkeitsraum, dessen Topographie sich durch den Gebrauch Napoleons ebenso diskontinuierlich wie regelhaft gewandelt hat und somit weitreichende Einsichten sowohl in die Funktionsweisen literarischer Kommunikation als auch die deutsche Kulturgeschichte bietet.

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Die reitende Weltseele

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Das erste von drei Großkapiteln der Studie –»Mythische Muster an ihren Grenzen« überschrieben (S. 41–168) – widmet sich dem literarischen Gebrauch Napoleons zu dessen Lebzeiten und zeichnet an knapp fünfzig Texten verschiedener Autoren die Verschiebungen und Umbrüche der Napoleonkonzepte sowie ihrer ästhetischen Formen während der Jahre 1797 bis 1821 nach. Dabei macht die Verfasserin das literarische Material, wie durchgängig in ihrer Studie, durch ausführliche Zitation und Paraphrase anschaulich und verleiht ihren nicht minder ausführlichen Textanalysen auf diese Weise eine große Transparenz. Auch gleicht dieses Darstellungsverfahren die teils überschüssige rhetorische Terminologie Beßlichs aus, die an manchen Stellen dem korrekten Gebrauch entsprechender Vokabeln größeres Gewicht beimisst als der Erhellung des Sachverhalts; wenn es etwa zu Hölderlins Buonaparte-Versen »Er kann im Gedichte nicht leben und bleiben, / Er lebt und bleibt in der Welt.« heißt: »Das in einer Anadiplose gedoppelte Monosyndeton trennt antithetisch ›die Welt‹ und ›das Gedicht‹ als gegensätzliche Sphären« (S. 48). In höchstem Maße leserfreundlich sind dagegen die konzisen Zusammenfassungen zu Beginn jedes Großkapitels, die auch eine selektive Lektüre des Buchs erlauben.

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Die entscheidende Transformation, die Beßlich am Ende der vermeintlich bekannten Rezeptionsepoche von 1797–1821 ausmacht, ist der ebenso grundlegende wie irreversible Wandel Napoleons von einem durch mythisierende Analogiebildungen zu entschlüsselnden Phänomen in ein »mythische[s] Muster« (S. 43) mit eigenem wirklichkeitserschließenden Potenzial.

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Angefangen beim Italienfeldzug, misst Beßlich in sieben teils zeit-, teils gattungs-, teils sinngeschichtlich motivierten Schritten diese frühe Rezeptionsgeschichte ab und rekonstruiert das diskurshistorische Arsenal von Topoi und Figurationen der literarischen Beschreibung Napoleons, das sich – so lautet das zweite wichtige Ergebnis dieses Teils – nach 1821 nicht mehr wesentlich ändert.

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Für den Zeitraum von 1797 bis 1811 (S. 45–60) stellt die Verfasserin zunächst anhand der italienischen Buonaparte-Panegyrik den großen Einfluss der napoleonischen »Selbstmythisierung« (S. 52) auf die lyrische Bildgebung heraus. Wie in der ausführlich diskutierten Ode auf Buonaparte von Joseph Görres (1798) korrespondiert hier die typologische Überbietung antiker Helden und mythischer Figuren – von Hannibal und Alexander bis Prometheus – einem Horaz’schen Grundton der Verse, während Friedrich Hölderlins Odenentwurf Buonaparte (1797/98) die Grenzen dichterischer Darstellbarkeit angesichts eines als Naturgewalt vorgestellten Revolutionsgenerals reflektiert und mit oben bereits zitierten Versen endet. Diese Entgrenzungsfigur macht Beßlich schließlich auch in Hegels brieflichem Diktum von Napoleon als »Weltseele« (S. 59) aus, das sie mit Blick auf sein philosophisches System für weit signifikanter erklärt als die oft kolportierte Rede vom »Weltgeist zu Pferde«.

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Die Cäsarisierung Napoleons

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Das zweite Teilkapitel (S. 61–77) zeichnet die »Frontverschiebungen in der Publizistik (1799–1815)« an Texten Gleims, Coleridges, Reichhardts, Seumes, Arndts, Fichtes und anderer Autoren nach und weist zunächst die deutsche Napoleon-Kritik vor 1804 als eine aus, die den selbsternannten Konsul auf Lebenszeit »als Revolutionsbeender und innenpolitische[n] Despot[en], nicht als Nationalfeind« (S. 63) ins Visier nahm und nicht zuletzt aus der Feder vormaliger Bewunderer stammte. Im Zuge dieser republikanischen Kritik durchlief Napoleon eine signifikante topische Transformation vom griechischen Heros zum römischen Kaiser, die in seiner Selbstkrönung 1804 ihre ereignisgeschichtliche Entsprechung fand. Angereichert wurde der Topos vom »neuen Augustus« schließlich durch den Justizmord am Herzog von Enghien im selben Jahr, der vor allem in späteren Jahren zu einem dramatisch höchst fruchtbaren Stoff avancierte.

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Figurativ dominieren bis 1808 – etwa bei Ernst Moritz Arndt – Analogien zu historischen Herrschern römischer oder orientalischer Provenienz, versetzt mit einer bereits bei Hölderlin angedeuteten Metaphorik elementarer Naturgewalten. Deren Hyperbolik ist im Jahre 1809 bereits so etabliert, dass sie im zweiten Teil von Arndts Geist der Zeit die Versuche des Autors performativ unterminiert, Napoleon als Figur der Mittelmäßigkeit zu präsentieren (S. 70 f.), und es zugleich Fichte in seinen Vorlesungen Ueber den Begriff des wahrhaften Krieges (1813) ermöglicht, den französischen Kaiser als vorzivilisatorische Größe plausibel zu machen, deren Ungezähmtheit Horrendum und Faszinosum zugleich ist.

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Wie Beßlich an Friedrich Schinks Schand- und Schimpfode (1813) illustriert, nimmt die deutsche Napoleon-Publizistik auf ihrem Weg durch die Freiheitskriege an agitatorischer Rhetorik zu und an Komplexität der Form ab. Einzig Joseph Görres geht mit seiner Ethopoeie Napoleons Proklamation an die Völker Europas vor seinem Abzug auf die Insel Elba (1814) neue Genrewege und schlägt mit der monologischen Form sowie der dominanten Schicksalsthematik des Textes einen doppelten Bogen zum dritten Teilkapitel Beßlichs, das sich der Napoleondramatik widmet.

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Hier stehen mit »[d]ramatischen Verhüllungen des Schicksals« (S. 77–92) vor allem solche Bühnenwerke zur Diskussion, die – von der bisherigen Forschung ebenso übersehen wie von der zeitgenössischen Zensur – Napoleon in Gestalt eines anderen historischen Herrschers thematisieren: Zacharias Werners Attila, König der Hunnen (1808), Theodor Körners Zriny (1812), das die Belagerung der ungarischen Festung Sigeth durch Süleiman den Prächtigen zum Handlungsrahmen wählt, und das altnorwegische Drama König Yngurd aus der Feder Adolph Müllners (1817) werden hier detailliert analysiert und mit der übrigen Napoleondramatik der Zeit in systematische Beziehung gesetzt. Diese Dramatik erweist sich dabei nicht allein als politisches, sondern auch als gattungspoetisches Kommunikationsmedium. Denn wie Beßlich anhand zweier Einakter Friedrich Rückerts (1815/1818) aufzeigt, wird die Napoleonfigur nach dem gescheiterten Russlandfeldzug komödienfähig und von den Autoren nicht zuletzt dazu benutzt, auf der Bühne die Grenzen und Möglichkeiten einer Schicksalsdramaturgie zu verhandeln.

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Pharaonischer Prometheus der Apokalypse

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Das vierte Teilkapitel (S. 92–108) widmet sich E.T.A. Hoffmanns Erzählung Die Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden (1813), an der Beßlich exemplarisch den bedeutenden Einfluss von Textstruktur und Bildlichkeit der biblischen Apokalypse auf die Napoleondichtung der Freiheitskriege zu zeigen versucht. Da der Verfasserin allerdings entgeht, dass sich Hoffmanns Text in seiner Gesamtanlage nicht auf die Offenbarung des Johannes, sondern auf die Totenfeldvision des Propheten Hesekiel bezieht (Hes 37), da ferner ihr intertextualitätsanalytisches Verfahren in einem Wort-Wort-Abgleich zwischen Hoffmanns Erzählung und einer nicht näher spezifizierten Bibelausgabe besteht und sie überdies gänzlich auf eine religions- und konfessionsgeschichtliche Kontextualisierung der eschatologischen Konzepte im literarischen Text verzichtet, gelingt diese Unternehmung nicht.

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Den Spuren biblischer Allusionen folgt zunächst auch das fünfte Teilkapitel unter dem Titel »Zweiter Pharao und falscher Prometheus« (S. 108–118), das sich der nationalen Befreiungslyrik der Jahre 1809–1815 widmet. Am Beispiel der Geharnischten Sonette Friedrich Rückerts zeigt Beßlich das politisch-performative Potenzial der hier wie andernorts prominenten Gleichsetzung Napoleons mit dem Pharao des Buches Exodus auf: Da der ägyptische Herrscher in den biblischen Erzählungen fest in eine antipodische Figuration mit seinem Kontrahenten Mose eingebunden ist, ruft die lyrische ›Pharaonisierung‹ Napoleons die Figur des mosaischen Überwinders als realpolitische Leerstelle auf, die es aus deutschen Reihen noch zu besetzen gilt. Die ausgeprägte Finalisierungsstruktur der befreiungslyrischen Texte wird hier ebenso deutlich wie der Umstand, dass Napoleon bis 1814 als außer-ordentliches Phänomen wahrgenommen wurde, das sich allein durch Analogisierung mit vertrauten Figuren hermeneutisch beherrschen ließ.

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Wie Beßlich nachweist, beginnt sich eben dies mit seiner Verbannung zunächst nach Elba, dann nach St. Helena zu ändern. Hier nämlich setzt der Transformationsprozess Napoleons vom mythisch erklärungsbedürftigen Phänomen zum Medium politisch-literarischer Kommunikation ein, was an der Umakzentuierung des Prometheus-Mythos in Ernst Moritz Arndts Gedicht An Napoleons Verehrer besonders augenscheinlich wird: Die in der napoleophilen Dichtung vor 1804 oft bemühte Parallelisierung Buonapartes mit dem Licht- und Kulturbringer Prometheus wird hier – anlässlich der Ankunft Napoleons auf St. Helena – in die dichterische Form eines expliziten Vergleichs gegossen, der sein tertium comparationis nun jedoch im finalen Schicksal beider Protagonisten findet: »Um diese beide schwebte das Gericht, / das an den Felsen band die hohen Sünder« (S. 117). Auf diese Weise analogisiert, erscheint Napoleon im Laufe des Gedichts als widersinnige Kopie des Prometheus, als »Freiheitsmörder« und damit als »Lichterlöscher« (ebd.), was seine titelgebenden »Verehrer« unter den deutschen Lesern entsprechend in Fürsprecher finsterer Sklaverei verwandelt.

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Der Kaiser ist tot – es lebe der Kaiser

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Das sechste Teilkapitel »Von Elba nach St. Helena. Zu Lebzeiten entrückt« (118–137) lenkt den Blick auf eine faszinierende Gegenläufigkeit von zeitgeschichtlicher Entwicklung und textueller Struktur während der Jahre 1814 bis 1821, die Beßlich überzeugend mit einem Wechsel der literarischen Gattung auf dem Feld der Napoleondichtung in Beziehung setzt. An Texten Friedrich Rückerts, August von Platens und Heinrich Heines wird hier aufgezeigt, wie das realgeschichtliche Ende Napoleons die literarischen Texte entfinalisiert, die nun von der inneren Notwendigkeit befreit sind, entweder in mythischen Narratemen dieses Ende zu antizipieren oder es durch lyrische Appellation im politisch-militärischen Handlungsraum zu provozieren.

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Das gattungspoetische Ergebnis dieser Entwicklung ist der Aufstieg der Ballade, die mit ihrem narrativ und historisch distanzierenden Gestus nun erstmalig zum Austragungsort einer literarischen Auseinandersetzung mit Napoleon wird. An Rückerts Humoreske Der Götter Rath, an Platens balladesker Dichtung Colombos Geist und an Heines Die Grenadiere macht Beßlich anschaulich, wie »das lyrische Ich zurücktritt und die Handlung einer abgeschlossenen Geschichte im Vordergrund steht« (S. 127). Und erst dieser Abschluss – das ist hier der entscheidende, wenngleich in der Studie nicht systematisch ausgeführte Punkt (S. 137) – erlaubt eine hermeneutische Arbeit an Napoleon, die als letztlich werkästhetische Hermeneutik konzipiert ist und als solche die Abgeschlossenheit (vulgo: die Ganzheit) ihres Gegenstandes zur Voraussetzung hat.

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Der siebte und letzte Abschnitt des ersten Großkapitels widmet sich – dessen zeitgeschichtlicher Grundordnung entsprechend – den literarischen Reaktionen auf Napoleons Tod 1821, mit dem die mythisierenden Vergleiche vollends aus der Dichtung verschwinden, während die intertextuellen Bezüge auf vorangegangene Napoleon-Poeme zunehmen. Franz Grillparzers, von Byron-Allusionen durchzogenes, Trauergedicht Napoleon. Geschrieben im Jahre 1821 setzt dabei bereits eine Gedankenfigur ins lyrische Bild, die Beßlich in ihrem zweiten Großkapitel als Signatur der Napoleondichtung des 19. Jahrhunderts verhandeln wird: Der Tod Napoleons erscheint als Verschwinden einer epochemachenden Ausnahmefigur, im Lichte deren Größe sich das Mittelmaß und die Epigonalität von Gegenwart und zu erwartender Zukunft nur um so deutlicher abzeichnet.

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Im Rahmen eins längeren Exkurses über die in Deutschland bemerkenswert erfolgreiche Napoleon-Ode Il Cinque Maggio aus der Feder Alessandro Manzonis (1821) und ihre Übersetzung durch Friedrich de la Motte Fouqué und Johann Wolfgang Goethe weist Beßlich an den Eckermanngesprächen nach, wie Napoleon unter den diskursiven Händen Goethes »endgültig zu einer poetologischen Figur« (S. 155) wird und in dessen dichtungstheoretischen Reflexionen der 1820er Jahre »als Künstler und Originalgenie […] die Rolle [übernimmt], die in den frühen poetologischen Schriften Goethes ein Prometheus, Shakespeare oder Erwin von Steinbach eingenommen hatten« (S. 157). Wie schließlich ein Seitenblick auf Adelbert von Chamissos dramatische Umsetzung der Manzoni-Ode deutlich macht, ist dieser mythologische Rollentausch Napoleons durchaus zeittypisch und markiert den Wendepunkt in der literarischen Gebrauchsgeschichte dieser Figur: »Am Ende seines Lebens ist Napoleon selbst zu einem mythischen Muster geworden, das keiner erläuternden Vergleiche mehr bedarf« (S. 168) und in den nachfolgenden Jahrzehnten sein weltdeutendes und vor allem sein poetologisches Potenzial voll entfalten kann.

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Napoleon ist, was wir nicht sind

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Wie Beßlich in ihrem zweiten Großkapitel zum jetzt nur mehr kurzen 19. Jahrhundert aufzeigt, avanciert Napoleon hier zur durchgängigen Instanz literarischer Selbstreflexion, während die fiktionale Literatur im Gegenzug zum eigentlichen Erinnerungsort Napoleons in Deutschland wird (S. 175). Den berühmten Kernsatz Jakob Burckhardts »Größe ist, was wir nicht sind« weist die Verfasserin dabei als Algorithmus auch der deutschen Napoleon-Literatur jener Jahrzehnte aus (S. 171). Diese Literatur, so zeichnet es sich im Laufe dieses Kapitels ab, tendiert dabei deutlich zur dramatisch-bildseriellen Form, popularisiert sich gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend und gewinnt gleichzeitig – zumal auf dem Weg über Nietzsche – den Status eines kulturkritischen Reflexionsmediums. Die acht, stärker an einzelnen Autoren und Texten orientierten, Teilkapitel nehmen die bislang in der Forschung kolportierte Epochenzäsur von 1848 in ihre Mitte und weisen sie schon dadurch als wenig tragfähig für die Ordnung der napoleonischen Dinge des 19. Jahrhunderts aus.

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An den Anfang ihres Durchlaufs durch die letzten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts stellt Beßlich eine brillante Analyse von Wilhelm Hauffs Erzählung Das Bild des Kaisers aus dem Jahr 1827 (S. 178–206). Deren doppeldeutiger Genitiv im Titel bringt, so wird in dieser feinsinnigen Interpretation deutlich, die mediale und semiotische Gemengelage der Napoleon-Literatur jener Jahrzehnte auf den syntaktischen Punkt: Als fiktionale Antwort auf Sir Walter Scotts biographisches Monument The Life of Bonaparte (1827) konzipiert, faltet Hauffs Erzählung kaleidoskopisch das zeitgenössische Spektrum von Napoleon-Bildern auf, die – durch das analytische Perspektiv Beßlichs betrachtet – zugleich als poetologische Positionierungen zur Romantik erkennbar werden.

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Doch für die literarischen Napoleon-Bearbeitungen des 19. Jahrhunderts weit aussagekräftiger als der – in der literaturwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre inflationäre und dadurch längst nicht mehr glaubwürdige, geschweige denn interessante – Aufweis literarischer »Selbstreferenzialisierung« (S. 184) ist die zentrale aisthetische und epistemologische Bedeutung des Bildmediums in Hauffs Erzählung: Beßlichs Lektüre macht die Transformation der realhistorisch abgeschlossenen Geschichte Napoleons in die Simultaneität eines Bildes sichtbar, das einerseits zur Reflexion im Formrahmen der Ekphrasis auffordert und andererseits konkrete Handlung anstößt. Mit dieser Doppelung von Reflexion und Aktion leitet Hauffs Erzählung literatur- und diskursgeschichtlich zur Dramenbühne über, auf der die Auseinandersetzung mit Napoleon im 19. Jahrhundert ihren eigentlichen Austragungsort findet, genauer: hätte finden sollen.

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Dass diese aisthetisch-epistemologische Bewegung zum Handlungsraum Bühne indes nur vor dem Hintergrund des schmerzlich wahrgenommenen Mittelmaßes einer epigonalen Epoche erklärlich wird, illustriert Beßlichs zweites Teilkapitel (S. 206–224). Überschrieben mit »Wallfahrten und Wiedergänger«, widmet es sich der elegischen Panegyrik Platens, Immermanns, Zedlitz’ und Gaudys, die zwischen Nostalgie und Politisierung oszilliert. Als Bezugsgröße des lyrischen Sprechens über Napoleon fungiert hier immer wieder sein Grab auf St. Helena – teils wiederum bildmedial vermittelt durch das Gemälde Horace Vernets (S. 211) – und damit das Monument seiner Absenz. Diese lokal gebundene Absenz erzeugt in den von Beßlich diskutierten Gedichten eine Art Unterdruck, dessen Sog nicht allein zahlreiche literarische Schatten, Geister und Wiedergänger Napoleons hervorbringt, sondern dem sich letztlich auch die teilpolitische Dynamik dieser Texte verdankt. Dabei macht Beßlich in den 1820er und 1830er Jahren einen ausgeprägten »Napoleon-Kult« in Deutschland aus (S. 220), der sich nicht zuletzt in einer lyrischen Fetischisierung der 1840 nach Frankreich verschifften Asche Napoleons niederschlägt (S. 222 f.)

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Blindgänger im Raum-Zeit-Kontinuum

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Im Mittelpunkt des dritten Teilkapitels zum 19. Jahrhundert (S. 225–245) stehen die Reisebilder Heinrich Heines. Denn hier, so Beßlich, schlage sich der »doppelte[ ] Blick« des Dichters auf Napoleon als politisches und ästhetisches Phänomen am deutlichsten nieder (S. 225 f.). Es ist vor allem die – wiederum bildästhetisch gedachte – Wahrnehmung Napoleons als »eine verlorene Ganzheit in einer zerrissenen und fragmentierten Welt« (S. 229), die Beßlich als maßgebliches poetisches Gestaltungsprinzip der Heine’schen Napoleon-Texte ausmacht und zunächst an Nordsee, dann an Ideen. Das Buch Le Grand nachweist. In ihren Analysen kann sie überdies zeigen, dass sich der letztgenannte Text »in seiner religiösen Bildlichkeit gegen antinapoleonische Bekenntnisbücher polt, wie Ernst Moritz Arndts Katechismus für den deutschen Soldaten und Heinrich von Kleists Katechismus der Deutschen« (S. 239). Heines Mythisierungsstrategie Napoleons entwickelt sich dabei im Laufe seiner Werkgeschichte von einer aktualisierenden, kritisch-reflexiven Inszenierungstechnik hin zu einem späteren Verfahren der Enthistorisierung, das Napoleon als »Chiffre für ferne, vormoderne Zeiten« ins Bild setzt (S. 224). »Damit ist ein allererster vorsichtiger Schritt getan zu den parahistorischen Texten des 20. Jahrhunderts, die Napoleons Geschichte gegen die Realität anders erzählen oder Napoleon in die Gegenwart des 20. Jahrhunderts katapultieren.« (S. 245)

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Die anschließenden Kapitel zu Grabbes Napoleon oder die hundert Tage (S. 245–263) sowie zu der Frage, »warum Hebbel kein Napoleon-Drama schrieb« (S. 263–283), versuchen nun, den konkreten Möglichkeitsraum der Bühne für die politisch-poetologischen Napoleon-Projekte des 19. Jahrhunderts auszuloten. Das wichtigste Ergebnis, das diese Passagen der Studie allerdings weit eher performativ zeigen als analytisch formulieren, lautet: So sehr eine dramatische Ästhetik mit ihrem Spannungsfeld von simultanem Bild und sukzessiver Handlung die Napoleonliteratur jener Zeit prägt, so wenig ist Napoleon tatsächlich tragödienfähig.

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Durch Grabbes Transformation der legendären Schnelligkeit napoleonischer Kriegsführung in ein dramatisches Kompositionsprinzip explodiert das Bühnengeschehen und mit ihm jede teleologische Geschichtsphilosophie. Was bleibt, ist die Einsicht in eine von Volksmassen bestimmte, kontingente Welt, in der genialische Weltenlenker wie Napoleon notwendiger Weise zu Komödianten werden (S. 260), zu Blindgängern im Raum-Zeit-Kontinuum einer Epoche der Mittelmäßigkeit. Zwar erfahren wir – und auch hier spiegelt die eigentümliche Pointenlosigkeit von Beßlichs Ausführungen die Leere ihres Gegenstandes – letztlich nicht, warum Hebbel kein Napoleon-Drama schrieb, doch das nachfolgende Kapitel zur heroisch-sentimentalischen Napoleon-Epik zwischen Vormärz und Realismus lässt es ahnen.

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»Schlachtengetöse und Sentimentalitäten« fungieren hier als Überschrift zum Durchlauf durch eine Napoleonliteratur, der ihr Held bereits zum historischen Stoff geworden ist (S. 270–282). An den historischen Romanen Ludwig Rellstabs (1834) und Ferdinand Stolles (1838), den Epen Christian Friedrich Scherenbergs (1849/1855) sowie an Robert Griepenkerls Schauspiel (1861) macht Beßlich die »maieutische Funktion Napoleons bei der Installation eines integrativen Nationalismus« in Deutschland (S. 272) sichtbar; eine Funktion, die sämtliche dieser Texte sowohl für sich in Dienst nehmen als auch ästhetisch reflektieren. Das gattungsgeschichtliche Novum besteht in der napoleonischen Eroberung des Romans, der den Helden einerseits privatisiert, ihn andererseits aber – und in diese Gruppe fallen die von Beßlich diskutierten Texte – als historischen Hintergrund einer gegenwartsbezogenen politischen Thematik aufbaut. Die zeitgenössische Konkurrenz zu Frankreich wird hier ebenso verhandelt wie der Liberalismus; und zwar entweder im Gestus »politische[r] Geschichtsdidaktik« (S. 279) oder ethisch-sentimentalischer Empathie.

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Weit schärfere Konturen gewinnt Napoleon freilich unter den Händen Nietzsches, dem Beßlich ein eigenes Kapitel widmet (S. 283–299), um in der abschließenden Passage zum 19. Jahrhundert (S. 299–309) an Karl Bleibtreus Uebermensch und Carl Hauptmanns Bürger Bonaparte dessen Einfluss auf das Drama »jenseits des Naturalismus« nachzuzeichnen.

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Zunächst präsentiert Beßlich das unbekannte Gedicht Ueber fünfzig Jahre (1863), das der junge Nietzsche Zur Feier des fünfzigjährigen Gedenktages der Schlacht bei Leipzig verfasst hat und das – mit zahlreichen Grabbe-Anleihen gespickt – eine Traumvision des geschlagenen Napoleon von einem vereinten deutschen Reich zum Inhalt hat. In der von Beßlich hier diagnostizierten Transformation des poetisierten Napoleon ins Konzept eines entzeitlichten und archaisierten Tatmenschen laufen zahlreiche Traditionslinien der Napoleonliteratur Heines, Arndts, Fichtes, Madame de Staëls zusammen (S. 288 f.), wobei sich zugleich wichtige Topoi und Denkfiguren von Nietzsches späterer Auseinandersetzung mit Napoleon bereits hier abzeichnen.

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Das Diktum aus Zur Genealogie der Moral von »Napoleon, diese[r] Synthesis von Unmensch und Übermensch« (S. 290), die figurative Verschmelzung Napoleons mit Goethe zu einer weltgeschichtlichen Symbiose und schließlich die »Gestaltung Napoleons zum Künstler-Tyrannen« (S. 293) liest Beßlich als endzeitlich beschleunigte Finalisierungsfigur, die zugleich die historische Zeit sprengt, wobei sich die tradierten Bilder von tätigem Genie und entfesselter Naturkraft zu einem konturierten Gender-Konzept verbinden: Die Hoffnung Nietzsches auf eine »Vermännlichung Europa’s« (S. 296) bezieht ihre Kraft dabei aus einer Phantasie Napoleons als demjenigen, der »ein ganzes Stück antikes Wesen, das entscheidende vielleicht, das Stück Granit, wieder heraufgebracht«, die weibische moderne Zivilisation niedergerungen hat zur Errichtung des »Eine[n] Europa« (S. 297).

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»Im Bannkreis Nietzsches« beobachtet Beßlich schließlich die postnaturalistische Dramatik, die auf dem Weg über Nietzschelektüren auch Napoleon als Stoff wiederentdeckte. Dabei entpuppt sich das Prosa-Drama Der Uebermensch des ungemein produktiven literarischen Napoleon-Bearbeiters Bleibtreu nicht allein als sozialdarwinistische Vulgarisierung der nietzscheanischen Napoleonfigur, sondern letztlich als Nietzsche-Drama, dessen zentraler Protagonist im letzten Akt dem »Wahnsinn einer Selbstvergottung« verfällt (S. 304). Und auch wenn Carl Hauptmanns zweiteiliges Drama Bürger Bonaparte und Kaiser Napoleon, dessen Totalisierungsanspruch sich in »260 Sprechrollen in 37 unterschiedlichen Bildern« ausdrückt (S. 306), die »geistesaristokratische Haltung« Nietzsches (ebd.) übernimmt und sich gegen jedes deterministische Modell des Menschen richtet, endet das Stück mit einem ursprungsutopischen Ausblick auf die Völker im Osten, das weit stärker die Denkmodelle Oswald Spenglers und Arthur Moeller van den Brucks antizipiert als die Nietzsches fortschreibt (S. 308 f.).

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Napoleon sind wir

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Nur vor dem Hintergrund dieser langen Gebrauchsgeschichte Napoleons wird – das macht Beßlichs drittes und letztes Großkapitel »Der deutsche Napoleon. Charismatische Variationen und politische Indienstnahmen (1900–1945)« bereits auf den ersten Seiten deutlich – die bemerkenswerte Metamorphose verständlich, die Napoleon zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchläuft und deren differenzierter Aufweis das größte Verdienst dieses verdienstreichen Buches ist.

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Hier wird Napoleon nämlich »in einer verzwickten rhetorischen Übertragung […] als Figur mit dem deutschen Volk analogisiert«, sodass »viele Napoleon-Schriften des 20. Jahrhunderts das Paradox durchexerzieren [können], zugleich deutschnational, frankreichkritisch und napoleonbegeistert zu sein« (S. 311 f.). Die bereits skizzierte Enthistorisierung und Entnationalisierung Napoleons in seinem literarischen Gebrauch im 19. Jahrhundert bilden dafür ebenso die Grundbedingung wie die bereits bei Grabbe dramatisch durchgespielte Möglichkeit, Völker als eigentliche Protagonisten von Geschichte zu denken. Doch selbst angesichts dieser diskursgeschichtlichen Weichenstellung ist es frappant zu sehen, dass »der deutsche Napoleon-Mythos« ausgerechnet zwischen den Weltkriegen, mit dem Versailler Vertrag und der Besetzung des Rheinlands im Rücken, »seine vielleicht intensivste und grellste Ausprägung« erlebt (S. 314).

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Reflexionsmedium der Moderne

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Was Beßlich auf den folgenden 130 Seiten ausfaltet, ist ein vielstimmiger und höchst dynamischer literarischer Kampf um Napoleon, an dem Vertreter unterschiedlichster ästhetischer und weltanschaulicher Projekte beteiligt sind, wobei Napoleon – zumal in den 1820er Jahren – durchweg als Medium der Selbstreflexion der Moderne fungiert.

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Vergleichsweise vorhersehbar gestaltet sich das im Umfeld des lyrischen Expressionismus, dem Beßlich das erste Teilkapitel zu Texten Georg Heyms und Gertrud Kolmars widmet (S. 320–341). »Im Kampf gegen die wilhelminische Langeweile« – so der Titel des Abschnitts – wird Napoleon zum »Anti-Bürger par exellence stilisiert« und seine Exzentrik wie auch sein Scheitern zur Bedingung der Möglichkeit seiner ästhetischen Applikabilität (S. 320 f.). Mit Grabbes Napoleon oder die hundert Tage als entscheidendem Prätext im Rücken akzentuiert Heym in seinem Sonettzyklus Mont St. Jean (1910) den Feldherrn Napoleon gegenüber dem Politiker und bringt ihn gegen die – in unübersehbar spätpubertärer Orgiastik geschilderte – Dekadenz der Epoche in Stellung.

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Die Privatisierungstendenz der Napoleonfigur, wie Beßlich sie in Kolmars Gedichtzylus Napoleon und Marie ausmacht, erweist sich dagegen als gekonnte Verschränkung von politischer und geschlechtlicher Figuration, die einen weiblichen Befreiungskampf inszeniert und dabei auf intertextuellem Wege Theodor Körners heroischer Napoleondichtung das Wasser abgräbt, um es in die Gräben der eigenen Selbststilisierung zu leiten.

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Die Wandlungen Napoleons »zwischen Expressionismus und Exil«, die sie als »Entwicklung vom unpolitisch früh-expressionistischen Napoleon-Mythos hin zum zeitpolitisch aktualisierten Napoleon-Mythos der Exil-Literatur« (S. 341) begreift, zeichnet Beßlich dann anhand der Dramendichtung Hermann Essigs, Fritz von Unruhs, Walter Hasenclevers und Georg Kaisers nach (S. 341–368). Essig greift in seinem Schauspiel Napoleons Aufstieg (1903–05) die Ermordung des – hier als redlicher Held fungierenden – Herzogs von Enghien auf, in dessen moralischem Licht Napoleon zum »Melancholiker voller Hybris« schrumpft (S. 347). Während in diesem Stück allerdings das Sturm-und-Drang-Pathos des prometheischen Faust motivisch aufgenommen und in eine »düstere Traumwelt« (ebd.) überführt wird, nutzt von Unruh in seinem Bonaparte (1927) dieselbe Enghien-Episode und dieselbe Prometheus-Typologie zur Ausgestaltung eines »verfassungsrechtliche[n] Schlüssel-Drama[s]« (S. 347).

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Flankiert von den positiv gezeichneten Republikanern Hulin und Carnot wird Napoleon hier zur Reflexionsfigur staatsrechtlicher Überlegungen in Analogie zu Carl Schmitts Modell des Reichspräsidenten als »Hüter der Verfassung« (S. 350) gestaltet und der Napoleonstoff auf der Bühne damit deutlich politisiert; eine Tendenz, die sich in Hasenclevers Komödie Napoleon greift ein (1929) weiter fortsetzt. Dezidiert als zeit-, faschismus- und kapitalismuskritisches Stück angelegt und zugleich gegen »den ikonoklastischen Umgang mit der Figur Napoleons im Frühexpressionismus« gerichtet (S. 356), lässt die Komödie Napoleon als reanimierte Wachsfigur aus dem Museum ins weltpolitische Geschehen der Weimarer Republik eintreten und schließlich in der Psychiatrie enden, gescheitert an seiner nicht-medialisierten Größe, die in der Gegenwart nur mehr als pathologisch wahrgenommen werden kann.

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Georg Kaisers Tragikomödie Napoleon in New Orleans (1938–1941), die Beßlich exemplarisch für Napoleonbearbeitungen der Exildramatik liest, entwirft – wie der Titel schon andeutet – ein »parahistorische[s] Denkspiel mit historischen Konjunktiven« (S. 363) und katastrophischem Schluss, das einmal mehr Fragen nach der Legitimität charismatischer Herrschaft stellt, sie diesmal allerdings – und das wird für die Napoleon-Bearbeitungen während des Nationalsozialismus symptomatisch werden – direkt auf die deutsche Diktatur hin lesbar macht.

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Napoleon ist, der da kommt

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Für das Verständnis der literarischen Kommunikation über und via Napoleon vor und während des Nationalsozialismus konstitutiv sind allerdings, wie Beßlich in ihrem dritten Teilkapitel »Hodierno Heroi. Vages Charisma und völkerpsychologische Konkretionen« (S. 368–388) zeigt, die Verhandlungen und literarischen Realisierungen des Themas im George-Kreis.

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Freilich sind auch die Napoleon-Mythen im Umfeld Georges über Nietzsche vermittelt. Das Spezifische der von Beßlich in diesem Zusammenhang diskutierten Texte liegt jedoch zunächst in ihren antonomastisch bleibenden Bezugnahmen, deren Referenz zwischen Napoleon und George selbst oszilliert.

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An den ebenfalls nie explizit werdenden Napoleon-Bezügen in Der siebte Ring (1907) sowie in seinem Bismarck-Fragment zeigt Beßlich noch einmal deutlich auf, dass sich die Faszination Georges für die charismatische Figur nicht von Napoleon selbst, sondern vom Napoleonismus herschreibt und in der lyrischen Umsetzung jede »Aktualisierung politischer Herrschaftsformen des Empire« gekappt sind (S. 371). Und trotz der durchaus unterschiedlichen weltanschaulichen Versatzstücke, die von verschiedenen Mitgliedern des Georgekreises mit der Figur Napoleons verbunden werden, zielten die Bearbeitungen doch durchweg auf »den genialen Einzelmenschen […], der seine Epoche prägt« (S. 375).

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An Friedrich Gundolfs Caesar-Monographie weist Beßlich einmal mehr die Tendenz in der Biographik des Georgekreises nach, über Napoleon George zu thematisieren und die so entstehende »Täter«-»Seher«-Synthese konsequent im transpolitischen und transnationalen Raum zu halten.

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Die umfangreichsten Napoleon-Texte im Umfeld Georges stammen indes aus der Feder Barthold Vallentins, der bereits in seinen frühen lyrisch-dramatischen Szenen Die Zwiesprachen vom Kaiser (1914) und Neue Zwiegespräche vom Kaiser (1919), vor allem aber in seiner Napoleon-Monographie (1923) die Schallmauer der antonomastischen Vagheit durchbricht und den von George im Ungefähren prophezeiten, mannhaft-charismatischen Führer zu Napoleon konkretisiert. Wie Beßlich überzeugend darlegt, formt Vallentins fußnotenlose »Wesensschau« (S. 384) Napoleon zu einer geschichtlichen Wesentlichkeit um, die eben dadurch aus der Enge raum-zeitlicher Koordinaten befreit und zur zukünftigen Gestalt eines heroischen Neubeginns werden kann.

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In diesem transzendentalontologischen Denkmodell ist es nur mehr ein kleiner Schritt zur Proklamation einer »Wesensgleiche zwischen Napoleon und den Deutschen«, wie sie Vallentin schließlich in seiner Essay-Sammlung Napoleon und die Deutschen (1926) formuliert und schließt: »Napoleon gehört den Deutschen« (S. 385). Dass Vallentin dieses Proklamat – ebenso wie das gesamte Denkmodell – mindestens eben so sehr gegen das morphologische Denksystem Oswald Spenglers wie gegen Frankreich richtet, macht noch einmal die eminente Bedeutung Napoleons als Reflexionsmedium nicht allein der literarischen, sondern auch der wissenschaftlichen Kommunikation in Deutschland anschaulich.

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Der vorletzte Abschnitt von Beßlichs Studie mag zunächst als ein rein retardierendes Moment vor dem finalen Kapitel zu »Hitler und Napoleon« erscheinen, enthält aber entscheidende Hinweise für das Verständnis dessen, was auf dem Feld der Napoleon-Biographik in den 1920er und 1930er Jahren in Deutschland tatsächlich verhandelt worden ist.

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Beßlich lenkt hier die Aufmerksamkeit auf die Napoleon-Monographien Emil Ludwigs (1925) und Werner Hegemanns (1927), die sie – im selben Maße wie die Arbeiten der Autoren zu preußischen Herrschern – als Kommunikationsmedien der politischen Gegenwart Deutschlands ausmacht. Während Ludwig in seiner Biographie den vom Heroenkult der Zeit bereits vereinnahmten Napoleon im Rückgriff auf die genieästhetischen Darstellungsmodi und die Identifikationsrhetorik eben dieses Kults »liberalisiert und demokratisiert« (S. 392), demontiert Hegemann »den Kaiser Napoleon I. als deutschen Nationalhelden« samt seiner Verehrer, denen er sein Buch Napoleon oder »Kniefall vor dem Heros« ironisch widmet (S. 395), indem er seinen gesamten Text und damit auch den Mythos fragmentarisiert und ins Absurde wendet.

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Der Napoleon aus Braunau

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Wie kaum eine andere Passage von Beßlichs Buch macht das abschließende Kapitel zu »Hitler und Napoleon« (S. 399–435) anschaulich, wie groß der Erkenntniszugewinn tatsächlich ist, wenn man die Geschichte des deutschen Napoleon-Mythos als Gebrauchsgeschichte schreibt. Denn offenkundig zeichnet tatsächlich der literarische Gebrauch Napoleons während der Weimarer Republik, seine kontinuierliche figurale Verbindung mit einem zu erwartenden charismatischen Führer, dafür verantwortlich, dass die Napoleonisierung Hitlers so reibungslos vonstatten ging. »Der Ruf nach dem starken Mann […] war in der Weimarer Republik allzu oft auf Napoleon bezogen worden, als daß dies nicht rückwirkte auf jemanden, der sich selbst zu einem starken Mann stilisierte« (S. 400) und dessen Auftritt auf der nationalen Bühne eine ähnliche Suche nach mythischen Analogien lostrat wie das Erscheinen Napoleon um 1800: »Wie Napoleon zu Lebzeiten permanent mit Alexander und Karl dem Großen verglichen wurde, so wurde jetzt Hitler mit Napoleon verglichen.« (S. 401)

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Natürlich hatte die Analogisierung Hitlers mit Napoleon in apologetischer Absicht auch ihre Tücken. Insbesondere Napoleons Russlandfeldzug war ein von den Nationalsozialisten gefürchteter Fallstrick dieser Mythisierungsstrategie Hitlers, der sie – angeregt von Benito Mussolinis Napoleon-Drama Campo di Maggio – indes selbst mit enormem Aufwand betrieb; etwa mit der im Jahre 1940 und damit ein Jahrzehnt nach »dem napoleonischen Retour des cendres« (S. 402) angeordneten Überführung der Urne des Napoleonsohns Herzog von Reichsadt von Wien nach Paris.

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Wie Beßlich anschaulich macht, avanciert die Napoleonliteratur in den 1930er Jahren zu einem der Hauptkampfplätze um und gegen die nationalsozialistische Herrschaft. Zunächst rücken mit Thomas Manns Bruder Hitler (1939), Arnold Zweigs Bonaparte in Jaffa (1934–38) und Joseph Roths Die hundert Tage (1934/35) drei Texte ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die den Nationalsozialismus gerade dadurch zu demontieren suchen, dass sie die Unterschiede zwischen Napoleon und Hitler betonen, an Napoleon pazifistische Herrschaftsmodelle durchspielen oder über ihn die nationalsozialistische Mythisierungsstrategie ausstellen.

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Im Gegenzug wird in der nationalsozialistischen Napoleon-Biographik Rudolf Hohlbaums, Wulf Bleys und Philipp Bouhlers die Hitler-Analogie festgeschrieben. Allerdings stehen – und das ist die diskursgeschichtlich spannendste Erkenntnis – diese Texte »formal in der Schuld jener ›historischen Belletristik‹, die in der Weimarer Republik versucht hatte, Napoleon psychologisch zu demokratisieren und vom Sockel des Titanen zu holen« (S. 412).

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Unter dem Titel »Literarischer Protest im antinapoleonischen Gewand« (S. 424) diskutiert Beßlich schließlich an drei Beispielen – Ferdinand Bruckners Heroische Komödie (1942), Arnold Bronnens N (1935) und Heinrich Franks Der Oberst (1943) –, »wie der Napoleon-Stoff als literarischer Code zur Mobilisierung gegen Hitler genutzt werden konnte« (S. 425). Während bei Bronnen erneut die Enghien-Episode zur politischen Reflexionsfolie gemacht wird und Bruckner den neuralgischen Russlandfeldzug zentral setzt, wählt Frank die historisch wenig bekannten Umsturzpläne des Oberst Jacques-Joseph Oudet gegen Napoleon im Jahre 1809 als politisch hoch brisanten Stoff und »führt« – wie Beßlich zeigen kann –»den Leser behutsam hin zur Denkbarkeit eines Attentats« (S. 433). Das berechtigte Erstaunen der Verfasserin darüber, »wie ein solcher Text überhaupt 1943 in Deutschland erscheinen konnte« (S. 435), lässt abschließend noch einmal erahnen, wie viele tiefgreifende literatur-, kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Erkenntnisse auf zukünftige Forscher warten, die das historische Feld auf dem Weg der Gebrauchsgeschichte durchschreiten.

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Fazit

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Es sei, so beendet Beßlich ihren abschließenden »Ausblick« auf die Napoleon-Literatur nach 1945, »die Absicht [ihrer] Untersuchung« gewesen, den »teils verschütteten deutschen Napoleon-Mythos in einer literaturwissenschaftlichen und kulturhistorischen ›Archäologie‹ freizulegen und den Weg des kulturellen Erinnerns von 1800 bis 1945 nachzuzeichnen« (S. 446). Dass ihr mehr als das gelungen ist, illustriert schon allein die ungebührliche Länge dieser Rezension: Nicht nur stellt Beßlichs Buch die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem »deutschen Napoleon-Mythos« auf eine völlig neue Grundlage und bietet der weiteren Forschung zur deutschen Literatur- und Kulturgeschichte außerdem einen schier unerschöpflichen Pool an sorgfältig aufbereitetem Material an. Ihr gebrauchsgeschichtlicher Blick durch das napoleonische Perspektiv ermöglicht überdies tatsächlich neue Einsichten in die Funktionsweisen literarischer Kommunikation sowie in die kulturelle und politische Selbstreflexion in Deutschland zwischen 1800 und 1945.

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Dass die Verfasserin diese Einsichten in den seltensten Fällen selbst formuliert und auch ihre Methode – wie eingangs bereits bemerkt – nicht systematisch reflektiert, schmälert den großen Wert ihrer Studie keineswegs. Natürlich kann man die rhetorik- und metriklehrbuchhaften Paraphrasen der diskutierten Gedichte, Dramen, Essays und Erzählungen als uninspiriert kritisieren. Auch mag man bedauern, dass die analytische Schärfe der Beobachtung immer da merklich nachlässt, wo Biblisches in den Texten auftaucht und das reflexhaft eingeworfene Schlagwort »Säkularisierung« an die Stelle der kulturgeschichtlichen Untersuchung tritt. Und schließlich mag man sich darüber verwundern, dass der gesamte Rezeptionskomplex der napoleonischen Ägypten-Expedition kommentarlos aus der Darstellung ausgeklammert wird, obwohl sich ihr wahrlich nicht allein Karoline von Günderrodes weltgeschichtlich-panegyrische Ergüsse verdanken.

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Doch ganz abgesehen davon, dass auch die Literaturwissenschaft inzwischen arbeitsteilig organisiert ist und sich der Ruf nach analytischer Omnipotenz entsprechend schnell als stratifikatorischer Anachronismus entlarvt, machen diese potenziellen Kritikpunkte die entscheidende Leistung des Buches nur um so deutlicher: Beßlichs Buch zu Napoleon als Reflexionsmedium literarischer Kommunikation ist ebenso wenig Monument wie ihr Gegenstand, sondern es ermöglicht literaturwissenschaftliche Anschlusskommunikation, gibt ihr zugleich das Niveau vor, und dieses Niveau ist hoch.