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Der Ursprung der modernen Ästhetik
in der Kulturanthropologie des Spiels
und der kindlichen Phantasie

  • Heinz Brüggemann: Walter Benjamin. Über Spiel, Farbe und Phantasie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. 392 S. 11 s/w, 21 farb. Abb. Geheftet. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 9783826035043.
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Dies ist ein außergewöhnliches Buch. Ungewöhnlich im Thema, in der philologischen Solidität und Präzision der Durchführung und in der konsequent durchgehaltenen Forschungsperspektive, die den Blick auf unscheinbare Details mit genauen historischen Kontextualisierungen und weit ausgreifenden kulturwissenschaftlichen Perspektiven verschränkt.

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Zunächst zum Thema: Spiel, Farbe und Phantasie – das sind zweifellos Leitmotive des Benjaminschen Denkens, die der Theoretiker immer wieder umkreist und reflektiert hat, freilich nicht so sehr in seinen sogenannten Hauptwerken als in seiner autobiographisch fundierten Erinnerungsprosa, in etlichen Feuilletonbeiträgen, Glossen und Rezensionen sowie in zahlreichen, oft fragmentarischen Aufzeichnungen und Reflexionen, die zumeist erst posthum im sechsten und siebten Band der Gesammelten Schriften (1985/1989) veröffentlicht worden sind. Die Benjaminforschung hat diesen Aspekten des Werks daher bislang nur am Rande Beachtung geschenkt. Dass der Verfasser des Trauerspielbuchs, des Kunstwerkaufsatzes und des Passagenwerks sich auch für das Kinderspiel und das Kinderbuch, die Farbe als ästhetisches Phänomen und den Vorgang der Phantasiebildung interessiert hat, war wohl bekannt, wurde aber in seiner grundlegenden Bedeutung für Benjamins Ästhetik nicht ernst genommen, weil die verstreuten Äußerungen zu diesen Problemkomplexen in der Regel durch das Raster der Forschung fielen und daher niemals in ihrem gedanklichen Zusammenhang rekonstruiert, geschweige denn in ihrem kulturwissenschaftlichen Kontext analysiert worden sind.

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Benjamin als Pionier einer »Kulturästhetik«
im Spannungsfeld von Romantik
und moderner Avantgarde

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Brüggemanns Studie löst dieses Desiderat auf beeindruckende Weise ein. Der Verfasser zieht noch die entlegensten und beiläufigsten Äußerungen Benjamins zu dem von ihm untersuchten Thema heran, und er verfolgt sie mit einer Gründlichkeit, Akribie und Ausdauer, die in jeder Zeile nicht nur den versierten Experten, sondern mehr noch den leidenschaftlichen und passionierten Benjaminleser verraten.

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Charakteristisch für sein Vorgehen ist schon der Beginn der Studie: Brüggemann wirft anhand bislang unpublizierter Materialien aus dem Nachlass den Blick auf ein von Benjamin 1926/1927 im Umriss skizziertes, aber niemals realisiertes und bis heute vergessenes Projekt zu einem Dokumentarwerk über »Die Phantasie« (S. 13–37), aus dem er in nuce die Intentionen des Kunsttheoretikers abzulesen sucht. Die Skizzen zeigen Benjamin im Spannungsfeld der Wiener kunsthistorischen Schule (Alois Riegl), des Warburgkreises sowie der avantgardistischen Malerei des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, insbesondere des »Blauen Reiters« (Kandinsky, Macke, Klee), zu dem schon der frühe Benjamin sich hingezogen fühlt. Sie unterstreichen aber vor allem seinen weit gefassten Anspruch auf einen neuen und erweiterten Begriff des Ästhetischen, der sich nicht länger auf den »Gebietscharakter« und die »Geschlossenheit« einer autonomen Kunstproduktion einschränken lässt, sondern gerade die vermeintlichen ›Randzonen‹ der Hochkultur, die Erzeugnisse der populären und volkstümlichen Kunst, der gewerblichen »Kunstindustrie« im Sinne Riegls und der Körperkunst, mitsamt ihren spezifischen historischen, sozialen und technischen Voraussetzungen, in seine Untersuchungen integriert.

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Schon der frühe Benjamin, das ist Brüggemanns Ausgangsthese (S. 23 f.), zeigt sich als Pionier einer weit gefassten kulturwissenschaftlichen und kulturanthropologischen Forschungsperspektive, die im Sinne einer umfassenden Kultursemiotik Kultur als die Gesamtheit aller symbolischen Zeichensysteme einer Gesellschaft betrachtet und weniger auf die Erfassung anthropologischer Konstanten als auf die genaueste Erforschung der Funktionen und geschichtlichen Veränderungen kultureller Wahrnehmungsmuster zielt. Diese Perspektive ist es auch, die das nicht nachlassende Interesse des Theoretikers an den nur scheinbar peripheren Phänomenen des (kindlichen) Spiels, der Farbwahrnehmung und der Phantasiebildung unterhalb des Höhenkamms der kanonisierten Kulturgüter begründet und motiviert.

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Während Brüggemann im Rekurs auf das Dokumentarwerk über die Phantasie den methodischen Ausgangspunkt Benjamins und, wie man hinzufügen darf, seiner eigenen Studie gewinnt, dient ein zweiter exemplarischer Exkurs zum Denkbild »Moskau« (S. 37–46) vornehmlich der historischen Konturierung von Benjamins Unternehmung. Brüggemann zeigt hier zum einen, dass der urbane Raum der Großstadt für Benjamin als ein ausgezeichnetes Medium der Phantasietätigkeit fungiert, zum anderen, dass dessen Wahrnehmungstheorie im stetigen Dialog mit der Frühromantik und deren Gegenspieler Goethe sowie wie mit den »Wahrnehmungsdispositive[n] zeitgenössischer bildender Kunst« (S. 46) entwickelt worden ist. Damit ist die zweite Ausgangsthese gewonnen, die für den weiteren Fortgang der Untersuchung bestimmend ist.

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Das Spiel als Legitimationsfigur
der Ästhetik der Moderne

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Dem Kinderspiel ist das erste große Kapitel der vorliegenden Studie (S. 47–125) gewidmet. Seine zentrale Bedeutung für eine kulturwissenschaftlich erweiterte Ästhetik erkannt zu haben, ist für Brüggemann einerseits das Verdienst der Avantgardekünstler um 1910, die – wie zum Beispiel die Maler im Umkreis des »Blauen Reiters« – das Interesse an einfacher Volkskunst und kindlicher Kreativität wiederbelebt haben und sich dabei auf Vorläufer wie Jean Paul (Levana), Charles Baudelaire und andere Autoren des neunzehnten Jahrhunderts berufen konnten, andererseits die Leistung der neu entstehenden wissenschaftlichen Spieltheorie, die, etwa in der Untersuchung von Karl Groos über die Spiele der Menschen (1899), das Kinderspiel als Gegenstand experimentalpsychologischer, volkskundlicher oder historischer Forschung für sich entdeckt hat.

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Benjamin ist von all diesen Strömungen inspiriert worden, nicht zuletzt weil sie mit seinem eigenen, auf frühromantische Quellen zurückgehenden Verständnis von der spezifischen Poesie der Kindheit konvergieren. Seine Literarisierung von Spielprozessen in der Berliner Kindheit deckt sich zum Teil bis ins Detail mit den Aussagen zeitgenössischer Spielbücher, mit den Bestrebungen von Bilderbuchkünstlerinnen wie Tom Seidmann-Freud, denen der Literaturkritiker zwei Rezensionen gewidmet hat (S. 78–83), und mit den Einsichten der Kinderpsychologie von Clara und William Stern, die Benjamin persönlich gekannt haben und, wie Brüggemann erstmals zeigt, in ihrem Standardwerk zur Entwicklung der Kindersprache sogar Äußerungen aus dessen Kinderjahren kolportieren (S. 83–89). In Benjamins kulturanthropologischem Konzept des Spiels ist dieses ein subversives Reservat vor der Erziehungsdressur durch die Erwachsenen, ein Medium der Emanzipation aus sozialen Zwängen, ein Ort unreglementierter, gleichsam ›magischer‹ Erfahrungen und eine Quelle von künstlerischer Phantasie und Kreativität zugleich. Daher kann die Anthropologie des Kindes mit seinen konstruktiven wie destruktiven Impulsen für ihn, wie für viele andere Strömungen der Avantgarde von Neoromantik und Surrealismus bis zum konstruktivistischen Funktionalismus, geradezu eine Modell- und Leitbildfunktion für das eigene Schaffen gewinnen.

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Der Rekurs auf Kindheit und Kinderspiel besitzt eine programmatische und legitimatorische Bedeutung für die Ästhetik und Kunstpraxis der Moderne um 1900. Auch für Benjamin bildet das Spiel das anthropologische Fundament jeder Form von künstlerischer Produktivität (S. 116). Es ist Brüggemanns Verdienst, Benjamins philosophisches Konzept des Spiels erstmals umfassend zu rekonstruieren und im Umfeld der zeitgenössischen Spieltheorie und Kunstproduktion historisch exakt zu verorten.

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Farbe und (entstaltende) Phantasie

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Das Spiel als privilegierter Ort kindlicher Kreativität und Phantasietätigkeit ist bei Benjamin seit seinen frühen Reflexionen zum Thema »Phantasie und Farbe« von 1915 mit dem Konzept einer spezifischen, unbegrifflichen und entgegenständlichten Farbwahrnehmung als »Urphänomen der Phantasie« verknüpft, die ihre auf den ersten Blick leicht absonderlichen Züge in dem Maße verliert, indem man sie mit Brüggemann (Kapitel II: »Phantasie und Farbe«, S. 127–240) im übergreifenden Kontext der kunsttheoretischen Debatten um 1800 und ihrer Fortschreibung am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts lokalisiert. So gelangt Kandinsky in seiner Programmschrift Über das Geistige in der Kunst, die Benjamin schon sehr früh rezipiert hat, zu verblüffend ähnlichen Schlussfolgerungen hinsichtlich der ästhetischen Funktion der ›reinen‹ Farbe und des Farbsehens (S. 127–131, 195–202).

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In historischer Perspektive lässt sich die Genese dieses Konzepts von Bildanschauung bis zur Kontroverse zwischen den Frühromantikern und Goethe über das Verhältnis zwischen Gestalt, Kontur und Farbgebung zurückverfolgen (S. 203–210), wobei neben Friedrich Schlegel, Novalis und Tieck wiederum Jean Paul als zentraler Gewährsmann fungiert (S. 173–176). Diese zeitgenössischen und historischen Kontexte werden bei Brüggemann, der sich in diesem Kapitel als exzellenter Kenner der ästhetischen Theoriedebatten zwischen Frühromantik und klassischer Moderne erweist, ebenso behutsam wie detailliert untersucht – eine Argumentationsweise, die dem Leser einige Ausdauer und intellektuelle Anstrengung abverlangt und gelegentlich auch zu Wiederholungen führt, ihn dafür aber auch mit einer Fülle von neuen Funden, anregenden Detaileinsichten und überraschenden Kontextualisierungen belohnt. Hingewiesen sei an dieser Stelle nur auf die Kontroverse zwischen Benjamin und Scholem über den Kubismus (S. 143–153), auf die Rezeption der Kinderzeichnungen von Annemarie Hennings (S. 159–162), die Benjamin über Hugo Ball und Emmy Hennings in seiner Berner Zeit kennen gelernt hat, oder die Auseinandersetzung mit G. F. Hartlaubs grundlegendem Werk über die Kinderzeichnung (S. 162–168).

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Grundzüge einer antiklassischen Ästhetik

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Brüggemann sieht in Benjamins Kunsttheorie eine grundlegende Polarität von Rezeption und Produktion, Versenkung und Distanzierung, Entstaltung und Gestaltung am Werk, die mit den beiden Hauptrichtungen der Moderne – der rauschhaft-unbewussten Kreativität der Surrealisten und dem kontrollierte Schaffen der Funktionalisten – korrespondiere. Der zentrale Impuls des Benjaminschen Denkens aber gehe von dessen Konzept der »Entstaltung des Gestalteten« (S. 209) aus, das als Gegenentwurf zum idealistischen Gestaltbegriff auf eine Aufhebung des falschen Scheins ästhetischer Totalität, auf eine radikale Destruktion von Harmonie, Ganzheit, symbolischer Schönheit und anderer Leitbegriffe der klassizistischen Ästhetik ziele. Die Entstaltung, bei Benjamin auf frühromantischen Spuren nicht selten in die Metapher des Wolkenhimmels gefasst, löst die fest umrissene, starre, begrifflich eindeutig zu fixierende Gestalt gerade auf, lässt die Dinge vieldeutig und wandelbar erscheinen, sie gleitend ineinander übergehen und legt untergründige, bis dahin unsichtbare Beziehungen und Korrespondenzen zwischen ihnen frei. In diesem Prinzip der Entstaltung konvergiert die Erfahrung der Kindheit mit dem Wahrnehmungsmodus des Traums und des Rauschs und den künstlerischen Verfahrensweisen der Surrealisten und anderer Repräsentanten der Moderne.

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»Entstaltende Phantasie« ist denn auch der dritte und letzte Teil der Untersuchung überschrieben (S. 241–339), der verschiedenen Dimensionen von ›Entstaltung‹ nachgeht. Das Spektrum reicht dabei von der barocken Allegorie mit dem Totenschädel als konventionellem Emblem dieses Prozesses über den in der Berliner Kindheit wie in der bildenden Kunst des zwanzigsten Jahrhundert vielfach geschilderten Ausbruch aus den geschlossenen Objektwelten des bürgerlichen Intérieurs bis zur »Entgrenzung der Sinne« (S. 280) im Akt der Lektüre und zu den subversiven Praktiken historischer Erinnerung, die Benjamin in seiner Theorie geschichtlicher Erfahrung postuliert. Manches von dem, was der Verfasser hier ausführt, auch der abschließende, in der Kontextualisierung teilweise weiterführende Vergleich zwischen Klees und Benjamins Interpretation des »Angelus Novus« (S. 327–339), ist in der Forschung schon wiederholt thematisiert worden. Bei Brüggemann wird es jedoch mit vergleichbaren Entwicklungen in der Architektur und bildenden Kunst der Moderne parallelisiert und an instruktiven Lektüren exemplarischer Prosastücke aus Benjamins Kindheitserinnerungen anschaulich illustriert.

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Einsichten von Brüggemanns Monographie

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Brüggemanns Buch ist ein Standardwerk für alle, die sich mit den hier behandelten – wie gezeigt worden ist: keineswegs bloß randständigen – Motiven Spiel, Farbe und Phantasie im Denken Walter Benjamins auseinandersetzen wollen. Sein kulturanthropologisches Konzept des Spiels, der Phantasie und der Kindheit wird bei Brüggemann erstmals kenntnisreich in seiner konstitutiven Bedeutung für seine Kunsttheorie und die Ästhetik der Moderne entfaltet. Dabei werden zahlreiche, oft übersehene Texte – neben den thematisch einschlägigen Feuilletonbeiträgen, Rezensionen, Denkbildern und Notaten vor allem die literarischen Erinnerungsminiaturen der Berliner Kindheit und die Drogenprotokolle – einer sorgfältigen, kulturwissenschaftlich perspektivierten Lektüre unterzogen, die eine Vielzahl bislang übersehener Details und Kontextbezüge freilegt.

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Grundlegend ist die Studie aber auch für die Erforschung von Benjamins Verhältnis zur Weimarer Klassik, zur Romantik und zu den kunsttheoretischen Debatten um 1900 sowie vor allem für die Analyse der intermedialen Austauschprozesse mit der zeitgenössischen bildenden Kunst. Benjamin war mit der Kunst seiner Zeit schon aufgrund seiner Herkunft als Sohn eines Kunstauktionators bestens vertraut. Wie tief ihn die Entwicklungen in Malerei und Architektur und die sie begleitende Theoriebildung aber tatsächlich geprägt haben, wird erst nach der Lektüre von Brüggemanns – mit zahlreichen Illustrationen versehener – Monographie vollends klar. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Benjamins Verhältnis zur Kunstgeschichte und Kunsttheorie, speziell an den entscheidenden Epochenschwellen um 1800 und 1900, wird durch sie auf eine ganz neue Grundlage gestellt.

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Probleme und Desiderate

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Die literaturhistorische Positionierung Benjamins in der Konstellation von Barock, Frühromantik und klassischer Moderne fällt dagegen, trotz vieler neuer Detaileinsichten, bei Brüggemann vergleichsweise konventionell aus. Die Relevanz des so umrissenen historischen Koordinatensystems für Benjamins Œuvre ist selbstverständlich nicht zu bezweifeln. Die Fixierung auf die genannten Epochen führt aber auch zu gelegentlichen Blickverengungen, wenn etwa die Entwicklung von Benjamins Anthropologie des Spiels zwar mit wiederholten Hinweisen auf Jean Pauls Levana erläutert wird, andere von Benjamin geschätzte Theoretiker wie Pestalozzi oder die von ihm durchaus differenziert betrachteten Philanthropen der Aufklärung, die bereits über eine höchst elaborierte Spielkonzeption verfügten, hingegen ausgeblendet werden.

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Etwas zu selektiv fällt generell die Ausleuchtung des, zumal für die Spieltheorie wichtigen, pädagogischen Problemhorizonts aus. Benjamin wurde seit seiner Jugend von der Reformpädagogik nicht nur Gustav Wynekens, später von der Auseinandersetzung mit den sozialistischen Erziehungstheorien von Edwin Hoernle, Asja Lacis u.a. entscheidend geprägt, wie etwa an seinem »Programm eines proletarischen Kindertheaters« (1929) zu zeigen wäre, das aus nicht ganz einleuchtenden Gründen völlig ausgeklammert wird. Innerhalb dieses Diskussionszusammenhangs nimmt sich manches, was etwa an den Fibelkonzeptionen Tom Seidmann-Freuds bei isolierter Betrachtung originär zu sein scheint, als typisches Element reformpädagogischer Praxis aus, und auch Benjamins Kritik, der hier praktizierten Spieldidaktik mangele es zum Teil an Sachbezug und kollektiver Autorität (S. 83), lässt sich wohl erst vor diesem Hintergrund angemessen verstehen.

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Interessant wäre auch der Versuch gewesen, Benjamins Konzept nicht nur gegenüber der Goetheschen Kunsttheorie und Farbenlehre zu profilieren, sondern dieses – über die von ihm selbst gezogenen Linien hinaus – auch von der Schillerschen Spielkonzeption in den »Briefen über die ästhetische Erziehung« und ihrer Nachgeschichte bis zu der heute immer noch wirkungsmächtigen kulturidealistischen Spieltheorie Johan Huizingas (Homo ludens, 1939) abzugrenzen. Bedenken wären zudem gegen Brüggemanns Versuch anzumelden, die Berliner Kindheit von 1932 als Ausdruck entstaltender Phantasie dem »Lakonismus« und der »Nüchternheit« der Deutschen Menschen (S. 298) entgegenzusetzen, während doch die diversen Fassungen des Kindheitsbuchs zeigen, wie sehr sich der späte Benjamin gerade in diesem Werk um eine stilistische Haltung bemüht hat, in der gedankliche Komplexität und sprachlicher Lakonismus zwanglos zusammenfinden.

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Gelehrte Spaziergänge
zwischen den Wissensordnungen

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Gemessen an den zahllosen neuen Einsichten, die Brüggemanns Monographie für den Leser bereithält, fallen diese Einwände freilich nicht ins Gewicht und sind eher als Hinweise auf weiterführende Präzisierungen und Ergänzungen aufzufassen, die durch den hier vorgelegten Vorstoß in das zuvor nicht erkundete Terrain von Benjamins Überlegungen zu Spiel, Farbe und Phantasie überhaupt erst möglich gemacht werden. Brüggemanns Studie überzeugt nicht zuletzt durch die große Geduld und Intensität, ja Leidenschaft, mit der sie sich auf 350 Seiten in die verschlungenen Wege und Seitenpfade des Benjaminschen Denkens versenkt, um dieses mit korrespondierenden und konkurrierenden kulturtheoretischen Konzepten zu kontrastieren und auf diesem Weg seine aktuellen Gehalte freizulegen. Ohne epigonal zu sein – und das ist wahrscheinlich die größte Kunst –, ist sie auf produktive Weise von Benjamins Impuls zur »Rettung des Unbedeutenden« (S. 294) ebenso inspiriert wie von seinem seinerzeit bahnbrechenden Konzept, durch gelehrte »Spaziergänge zwischen den Wissensordnungen« im Sinne Jean Pauls (S. 95) den autonomen »Gebietscharakter« der Kunst aufzusprengen und diese in den kulturellen Zeichensystemen und historischen Bedingungen ihrer Zeit zu verorten.