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Sehnsucht nach Klarheit:

Christian J. Emden will Benjamin für Historiker erschließen

  • Christian J. Emden: Walter Benjamins Archäologie der Moderne. Kulturwissenschaft um 1930. München: Wilhelm Fink 2006. 184 S. Kartoniert. EUR (D) 24,90.
    ISBN: 978-3-7705-4338-0.
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»Walter Benjamin für Historiker« (S. 7): Diesen Alternativtitel für seine Studie schlägt Christian J. Emden in seinem Vorwort zu Walter Benjamins Archäologie der Moderne: Kulturwissenschaft um 1930 vor. Benjamin für die Geschichtswissenschaften zu erschließen – die Relevanz dieses Anliegens kann kaum überbetont werden: In der Tat scheint der regen Rezeption Benjamins in den Literatur– und Medienwissenschaften der letzten Jahrzehnte eine relatives Schweigen der Geschichtswissenschaften gegenüber zu stehen: Benjamin wird von der Historikerzunft bisher nicht oder kaum wahrgenommen. Fällt der Name Walter Benjamin dennoch im Zusammenhang solcher Studien, die man gemeinhin der Historiographie zurechnen würde, so tritt er entweder als Stichwortgeber in Form eines prägnanten Bonmots auf oder seine Lebensgeschichte soll exemplarisch für das Schicksal der Intellektuellen im frühen 20. Jahrhundert einstehen. Es fehlen jedoch die Studien, die sich mit Benjamins eigenem Anspruch auseinandersetzen, eine »kopernikanische Wendung in der geschichtlichen Anschauung« 1 einleiten zu wollen. Emdens Studie scheint daher diese Nichtrezeption Benjamins kompensieren zu wollen.

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Der weitreichende Anspruch, der in dem angebotenen Alternativtitel »Benjamin für Historiker« zum Ausdruck kommt, muss im Hinblick auf Emdens Untersuchung jedoch revidiert werden: Nicht um eine Einführung in Benjamins Denken für Historiker oder ein Fruchtbarmachen seiner Gedanken für die Historiographie geht es Emden, sondern, wie bereits der Untertitel der Studie verrät, um seine Einordnung in das Feld der ›historischen Kulturwissenschaft‹. Unter diesen Begriff, den Emden von Heinrich Rickert übernimmt, fallen vornehmlich die Arbeiten von Alois Riegl, Fritz Saxl, Erwin Panofsky, Georg Simmel, Max Weber und Aby Warburg. Ziel ist es demnach, Benjamin im Feld der frühen Soziologie und Kunstgeschichte zu verorten, denn »[d]aß Benjamins Schriften in die Endphase der ›Achsenzeit‹ kulturwissenschaftlichen Denkens zwischen 1880 und 1930 fallen, ist selten beachtet worden« (S. 11). Dieses Anliegen erklärt die Argumentationsstrategie Emdens, »Überschneidungen und Korrespondenzen zwischen Benjamins Arbeiten und dem zeitgenössischen Diskurs kulturwissenschaftlichen Denkens um 1930« (S. 10) ins Zentrum zu stellen. Emdens Arbeit versteht sich so als notwendiges Korrektiv im Grabenkampf um Walter Benjamins Œuvre, der sich bis dato angeblich ausschließlich zwischen Literaturwissenschaften und Philosophie abgespielt habe: »Benjamins Archäologie der Moderne kann […] weder im Kontext literaturwissenschaftlicher Poetik verhandelt noch auf die Problemlagen der kritischen Theorie als einer philosophischen Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen der Moderne reduziert werden« (S. 9).

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Absetzen möchte Emden sich genau besehen von denjenigen Vertretern der Literatur– und Medienwissenschaft, die Benjamin »in den letzten zwanzig Jahren« »oft in kapriziöse Methodendiskussionen eingespannt haben« (S. 15) sowie von poststrukturalistischen und psychoanalytischen Interpretationen, die Benjamin laut Emden zu einer »Legendengestalt« stilisiert haben. Verantwortlich für die unterlassene Einordnung dieses Denkers in den Bereich der Kulturwissenschaft ist laut Emden drittens die »ambivalente Rezeption Benjamins unter den Vertretern der Frankfurter Schule nach 1945« (S. 15). Diesen drei Ansätzen, denen Emden vornehmlich Aufgeregtheit und mangelnde Klarheit vorwirft, setzt er seine Verortung Benjamins in der ›historischen Kulturwissenschaft‹ entgegen.

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Die unter dem weiten Titel Walter Benjamins Archäologie der Moderne: Kulturwissenschaft um 1930 angekündigte Studie von Christian J. Emden vermag es leider nicht, Benjamins Beitrag zu den Geschichtswissenschaften neu zu beleuchten. Emden verbleibt im Biographisch–Anekdotischen; es gelingt ihm nicht, den dringlich notwendigen Brückenschlag zwischen Benjamins Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung und seinem eigenen methodischen Ansatz zu leisten. Insbesondere der Frage nach der Produktion von Geschichte und den Praktiken des Geschichtsschreibens wird keine Aufmerksamkeit zuteil.

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Schwerpunkte

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Emdens Abhandlung gliedert sich in vier Teile, die der Chronologie von Walter Benjamins Schriften vom Ursprung des deutschen Trauerspiels hin zum Passagen–Werk folgen: 1. Historische Spätzeiten: Vom Barock zur Moderne, 2. Zeitschichten: Eine Archäologie der Moderne?, 3. Die Lesbarkeit der Bilder: Das gesellschaftlich Imaginäre und 4. Mythos und Moderne: Kulturwissenschaft um 1930. Obwohl es eine klare Zuordnung von Kapiteln und Werken Benjamins zu geben scheint, ist schwer auszumachen, was der jeweilige Gegenstand der Kapitel ist. In allen geht es Emden darum, die jeweiligen Einflüsse auf den besprochenen Benjaminschen Text nachzuzeichnen und Korrespondenzen zu den Schriften der Kulturwissenschaftler, allen voran Georg Simmel und Max Weber, aufzuzeigen. Nicht selten stehen daher personelle Beziehungen zwischen Benjamin und wichtigen Denkern der 1930er Jahre im Zentrum. 2 So hinterlässt Emdens Buch den Eindruck einer mehr oder weniger überarbeiteten Aufsatzsammlung, die kein durchgängiges Erkenntnisinteresse verfolgt, anders als Titel und Einleitung vorgeben. Es fehlt die systematische Verzahnung innerhalb des Buches sowie eine präzise Fragestellung innerhalb der Einzelkapitel.

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»Historische Spätzeiten: Vom Barock zur Moderne«

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Im ersten Kapitel »Historische Spätzeiten: Vom Barock zur Moderne« steht Benjamins Studie Ursprung des deutschen Trauerspiels im Mittelpunkt. Emden verdeutlicht einerseits, dass Benjamins Barockbuch als genuin gegenwartsbezogenes Projekt zu verstehen ist und »[f]ür Benjamin […] das Klassische kontingent [sei], während der Barock als transhistorische Kategorie funktioniert« (S. 34). Zum anderen liegt ihm viel daran aufzuzeigen, dass sich Benjamins Trauerspielbuch im Rahmen zeitgenössischer Studien lesen lässt, deren erklärtes Ziel es ist, die bis dato vernachlässigte Epoche ›Barock‹ zu rehabilitieren. Genannt werden hier die Schriften von Heinrich Wölfflin und Alois Riegl. Emden erwähnt, dass sich bereits diese von Benjamin als Habilitationsschrift konzipierte Studie auf neuartige Weise mit der Darstellungsfrage auseinandersetzt:

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Hinter der offensichtlichen Verzettelung des Trauerspielbuchs verbirgt sich […] eine Methode, die die Darstellung von Geschichte nicht an deren Erzählung bindet, sondern an die scheinbar unmittelbare Evidenz von Bruchstücken, die sich selbst den Kommentar liefern sollen. (S. 24)
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Dieser Einsicht in den unauflösbaren Zusammenhang von Form und Inhalt in den Benjaminschen Texten wird jedoch bald der Boden entzogen, wenn es heißt:

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Vor diesem Hintergrund [i.e. der uneinheitlichen Barockdefinitionen bei Herbert Cysarz und Konrad Burdach] ist es nicht überraschend, daß auch Benjamin keine wirkliche einheitliche Definition des Barock anzuvisieren vermag. (S. 25)
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Von der Logik dieser Aussage abgesehen – warum sollte Benjamin den uneinheitlichen Definitionen nicht gerade eine kohärente Definition entgegen setzen? – wird hier eben jener Punkt verfehlt, auf den es ankommt: Benjamin definiert nicht, stattdessen operiert er in der Vorrede zum Trauerspielbuch mit dem Begriff der Konstellation: Ein Phänomen ist dasjenige, was sich in einer Konstellation aus Vor– und Nachgeschichte darstellt, d.h. es wird erst in einem gegenwärtigen Moment erkennbar und ist jenseits dieses »Jetzt der Erkennbarkeit« nicht verfügbar.

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»Zeitschichten: Eine Archäologie der Moderne?«

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Das zweite große Kapitel von Walter Benjamins Archäologie der Moderne widmet sich dem Passagen-Werk – Benjamins unvollendet gebliebenen Studie über »Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«. Hier werden einige zentrale Gedanken und Eigenheiten des Benjaminschen Passagenprojektes erläutert, so z.B. die Relevanz der Dinge, das Sammeln als Praxis der Kulturwissenschaft und die Vertextung der Stadt Paris als Voraussetzung für deren Historisierung. Verwunderlich bis ärgerlich jedoch ist die fehlende Auseinandersetzung mit den zentralen Konzepten Benjamins, die im Passagen-Werk auftauchen. So bleibt Emdens Beschäftigung mit dem äußerst problematischen Begriff des »dialektischen Bildes« darauf beschränkt, zunächst Benjamins Diktum »Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt« (GS V.1, 578), zu zitieren und im Anschluss daran zu konstatieren: »Was Benjamin hier in den Griff zu bekommen sucht, ist jene Praxis der Kulturwissenschaft, die Warburg sowohl in seiner Bibliothek als auch in seinem Mnemosyne–Atlas zur Anwendung bringt« (S. 69). Mit der bloßen Gleichsetzung ›Benjamins Theorie des dialektischen Bildes = Warburgs Praxis‹ ist erst die Frage – und zudem keine neue – aufgeworfen, aber zu deren Klärung noch nichts getan. 3 In Bezug auf das dialektische Bild würde man sich entweder eine Erläuterung dieses gerade nicht auf den ersten Blick schon einleuchtenden Konzepts wünschen oder zumindest einen bibliographischen Verweis auf die Sekundärliteratur, die sich diesem Thema bereits gewidmet hat. 4 Zudem weist Emden zwar verschiedentlich darauf hin, dass Benjamins Interesse nicht ausschließlich sprachlichen Bildern gilt; erstaunlicherweise kommt aber seine Studie völlig ohne Bildmaterial aus. 5

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Ähnlich oberflächlich verfährt Emden mit dem von Benjamin entworfenen Programm für das Parisbuch:

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Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden. (GS V, S. 574)
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Diese Sätze sind nur vermeintlich eindeutig: Was genau versteht Benjamin unter den »Lumpen«, dem »Abfall«? Wie ist das Verb »verwenden« zu deuten? Emdens Kommentar zu dieser Stelle lautet lapidar:

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Benjamin ist den geistvollen Formulierungen auch im Passagen–Werk nicht ganz entgangen, aber er trägt seinem methodischen Ansatz dennoch Rechnung und widmet sich Bettlern, Ballonfahrern, Gaslampen, Bürgersteigen, Brandstiftern, Droschken, Sammlern, Warenhäusern und Straßenecken, deren Darstellung den ›Kommentar zu einer Wirklichkeit‹ liefern soll (V, 1028). (S. 68)
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Trotz der Konzession läuft Emdens Argumentation hier auf die Behauptung eines Widerspruchs zwischen dem expliziten methodischen Anspruch Benjamins und dessen Praxis hinaus. Doch wird man Benjamin nicht erst dann gerecht, wenn man unter der programmatischen Ansage, »die Lumpen, den Abfall« »verwenden« zu wollen, ein Programm versteht, das in erster Linie sprachlich gedacht ist, nämlich hinsichtlich der bis dato nicht historiographiefähigen Textgattungen (Reiseführer, Vaudeville–Stücke, Panoramabücher etc.), die ins Passagen-Werk Eingang finden? Sicherlich werden damit einhergehend auch Themen und Phänomene verhandelt, die eher diesen populären Genres vorbehalten waren, doch geht es eben nicht nur um die Betrachtung des vermeintlich Abseitigen. Emdens apodiktische Eindeutigkeit ist eine Verkürzung, mit der er sich um die eigentlich interessanten Fragen, nicht zuletzt für Historiker, bringt.

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Dies gilt auch im Hinblick auf die Termini »Spur« und »Aura«, die Emden ganz aus der Diskussion halten möchte:

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Benjamins Rede von Spur und Aura, die viel Aufmerksamkeit erregt hat, mag auf den ersten Blick kaum von historischem Interesse sein. Benjamin scheint hier einer poetischen Begriffsmagie zu verfallen, die für sein Unternehmen einer Archäologie der Moderne kaum kritisches Potential aufweist. (S. 70)
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Aber ist das unter dem Titel einer »Archäologie der Moderne« überhaupt möglich? In den Benjaminschen Passagenaufzeichnungen sind Spuren in zweifacher Hinsicht historiographisch relevant: Zum einen als Objekt (u.a. in deutlich bezogen auf neue verwaltungstechnische Methoden zur Registrierung von Individuen), zum anderen in ihrer metasprachlichen Funktion als theoretischer Begriff. Führt nicht gerade die Auseinandersetzung mit der Frage, was überhaupt zu einer Spur werden kann, direkt ins Projekt einer ›Urgeschichte der Moderne‹?

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»Mythos und Moderne: Kulturwissenschaft um 1930«

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Nachdem die beiden ersten Kapitel in Emdens Studie zwar Werkvernetzungen aufzeigen, die bislang noch nicht in dieser Detailgenauigkeit nachzulesen waren, im Hinblick auf die Interpretation von Benjamins Schriften jedoch stets im Rahmen dessen bleiben, was von Seiten der Literaturwissenschaft bereits geleistet wurde bzw. diese Erkenntnisse gar gelegentlich unterlaufen, erwartet man vom dritten Kapitel eine eigenständige These. Überschrieben mit »Die Lesbarkeit der Bilder: Das gesellschaftlich Imaginäre« ist dies der wichtigste Abschnitt in Emdens Studie. Es zielt darauf ab, genauer zu fassen, was Emden unter »Benjamins Archäologie der Moderne« versteht. Darauf gehe ich unten genauer ein.

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Emdens zentraler These im vierten Kapitel »Mythos und Moderne: Kulturwissenschaft um 1930«, dass sich nämlich Benjamin mit einer fortschreitenden Remythologisierung des Gesellschaftlichen um 1930 befasst und sein Programm dezidiert mythenkritisch sei, ist nicht zu widersprechen. Besonders offenkundig wird jedoch, dass Emden ganz unbefragt ein wissenschaftliches Fortschrittsparadigma vertritt, was in einer Studie zu Benjamin angesichts dessen deutlicher Fortschrittskritik doch verwundert. Wiederum geht es in diesem Kapitel um den Vergleich der beiden Lager Kritische Theorie und historische Kulturwissenschaft und um Emdens Anliegen, Benjamin letzterem zuzuschlagen. Der historischen Kulturwissenschaft attestiert Emden dann auch, »ein weitaus erfolgreicheres Modell« (S. 148) entworfen zu haben, was u.a. daran zu messen sei, dass das Warburg–Institut in London einen größeren gesellschaftlichen Einfluss ausüben konnte als das Institute for Social Research in New York. Benjamin selbst, so Emdens These in diesem Kapitel, reihe sich implizit in die Kulturwissenschaft ein, und es sei vornehmlich seiner misslungenen Kontaktaufnahme zur Warburg–Schule zu verdanken, dass er sich eher in Richtung Adorno und New York orientiert habe. Wie im restlichen Buch, so verweist Emden auch in diesem Abschnitt des Buches auf interessante biographische Details und persönliche Verbindungen Benjamins. Zu einer Neuinterpretation der Benjaminschen Texte trägt Emden jedoch gerade auch hinsichtlich der Historiographie kaum etwas bei.

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Archäologie, »Urgeschichte der Moderne« und das »gesellschaftlich Imaginäre« – zu Benjamins Bildbegriff

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Der hierfür entscheidende Begriff der Archäologie findet sich bei Benjamin in den Passagenaufzeichnungen nicht als ausdrückliches Programm (Benjamin spricht dort von »Urgeschichte« und »Schichten«), wird aber im Denkbild »Ausgraben und Erinnern« (GS IV, S. 400f.) programmatisch ausgeführt. Aus diesem Text, den er nur zitiert und nicht analysiert (mehr zu dieser Arbeitweise Emdens unter Punkt 4), bezieht Emden seinen Archäologiebegriff, und setzt ihn in Bezug zum archäologischen Interesse Sigmund Freuds und Michel Foucaults. Von Foucaults Archäologiebegriff unterscheidet sich der bei Benjamin immanente Ansatz laut Emden dadurch, »daß Benjamins Archäologie der Moderne nicht die Regeln bestimmter Diskurse zum Gegenstand hat, sondern vielmehr die Bilder gesellschaftlicher Sinnbildung« (S. 11). Bilder, so Emden, haben immer einen Bezug zum Mythos und zur Vergangenheit; sie werden daher bei ihm mit dem Benjaminschen Begriff des ›historischen Indexes‹ gleichgesetzt. Aufgrund der Bedeutung der Bilder bei Benjamin bezeichnet Emden dessen Projekt als eine »Archäologie des gesellschaftlichen Imaginären« (S. 10).

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Worum handelt es sich beim »gesellschaftlich Imaginären«? Auch wenn im Haupttext nicht explizit gemacht wird, auf welche Begrifflichkeit Emden sich bezieht, legen die Fußnoten sowie eine Bemerkung im Vorwort die Vermutung nahe, dass mit dem »gesellschaftlich Imaginären« neben Cornelius Castoriadis’ Verwendung des Begriffes vornehmlich das »social imaginary« von Charles Taylor gemeint ist. Dieser definiert den Begriff folgendermaßen:

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[…] the ways in which people imagine their social existence, how they fit together with others, how things go on between them and their fellows, the expectations that are normally met, and the deeper normative notions and images that underlie these expectations. 6
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Der Terminus des »gesellschaftlichen Imaginären« verbleibt bei Taylor im Unklaren: Es wird nicht deutlich, welche Extension dieser Begriff hat und welche Manifestationen ihm zuzurechnen sind. Diese Unschärfe ist Programm, soll der Terminus doch eine Vielzahl von Erscheinungen unter sich fassen. Dennoch muss nach seiner Trennschärfe hinsichtlich des Benjaminschen Projektes gefragt werden. Und diese Frage zieht weitere Bemerkungen zum Benjaminschen Bildbegriff nach sich.

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In dieser Hinsicht aber enttäuscht Emdens Arbeit in mehrfacher Hinsicht: Zum einen stehen »Bilder« im Zentrum der Untersuchung, der Bildbegriff jedoch wird an keiner Stelle des Buches einer Erörterung für wert befunden. Weder stellt Emden eigenständige Thesen auf noch positioniert er sich gegenüber den bereits auf diesem Feld publizierten Studien. Was »Bild« nach Benjamin für Emdens Studie bedeutet, bleibt daher völlig unklar. Das ist umso erstaunlicher, da der Autor Benjamin beständig unklare Begrifflichkeiten vorhält.

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Zum zweiten wird an Taylors Definition deutlich, dass sein Interesse am »social imaginary« dessen Kohärenzfunktion gilt: Es geht ihm um Normen und die Aushandlung eines gesellschaftlichen Zusammenhalts. Benjamin jedoch ist kein Denker der sozialen Zusammenhänge, sondern der Brüche und Dissonanzen: Ihm ist zwar an der Analyse von dominanten Bildern des 19. Jahrhundert gelegen, jedoch gerade an solchen Bildern, die inkohärent sind, hybrid, allegorisch im Benjaminschen Sinne. Gerade ihre Inkohärenz und ihr Scheitern machen sie zu seismographischen Zeichen einer ›Urgeschichte der Moderne‹. Zumindest eine genauere Einsicht in das, was im Hinblick auf Benjamin unter den Bildern des »gesellschaftlichen Imaginären« zu verstehen sei, wünscht man sich von Emdens Studie.

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intellectual history und die fehlende Lektüre der Texte

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Mit dem methodischen Ansatz von Emden mag eine spezifische Thematik enger zusammenhängen. Im Vorwort zu seiner Studie erwähnt Emden eine Denktradition, in die sich sein Unternehmen einreihen lässt: intellectual history bzw. Ideengeschichte (auch wenn diese beiden Begriffe neben dem sprachlichen Aspekt sicherlich noch weitere Unterschiede aufweisen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann). Zentral sind bei dieser Art der Darstellung das Nachzeichnen von Einflüssen, Schulen und Gedankentraditionen – und Emden geht es, wie bereits die Einleitung sagt, um die Verortung Benjamins im Diskursfeld der Kulturwissenschaften. Ziel ist es aufzuzeigen, wie ein bestimmter Denker zu seinen Einsichten gekommen ist; ein zugegebenermaßen schwieriges Unterfangen. Im Rahmen der intellectual history liegt der Akzent hierbei oftmals auf persönlichen Verflechtungen der jeweils behandelten Intellektuellen, und auch bei Emden wird dieses biographische Ebene stark akzentuiert. 7

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Auf eine Lektüre von Benjamins Texten mag sich Emden offensichtlich nicht einlassen, wie eine kleine Sammlung von Kommentaren zu Benjamins Stil verdeutlicht: »Dieses scheinbar abstrakte Zitat […]« (S. 106), »um auf recht kapriziöse Weise zu betonen« (S. 52), »worauf er jedoch hinweisen will« (S. 122), »[…] wenn Benjamin in diesem Zusammenhang einigermaßen kryptisch betont, daß […]« (S. 47). Aus dieser Zusammenstellung, die sich problemlos erweitern ließe, wird deutlich, dass Emden Benjamins Ausdrucksweise stört. Er wirft ihm absichtliche Unklarheiten vor, und er unternimmt es, vermeintliche Dunkelheiten des Benjaminschen Textes in eindeutige Übersetzungen zu überführen, z.B.: »wenn Benjamin […] betont, daß die Allegorie gerade dort zu finden sei, ›wo Vergänglichkeit und Ewigkeit am nächsten zusammenfließen‹ (I, 397), so meint dies vor allem das Nachleben des Vergangenen« (S. 47). Durchgängig wertet er die Benjaminsche Sprache als etwas Externes, den eigentlichen Sinn Ornamentierendes oder Verschleierndes.

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Genau in diesem Punkt jedoch verfehlt er das Benjaminsche Programm:

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Der gute Schriftsteller sagt nicht mehr als er denkt. Und darauf kommt viel an. Das Sagen ist nämlich nicht nur der Ausdruck sondern die Realisierung des Denkens. So ist das Gehen nicht nur der Ausdruck des Wunsches, ein Ziel zu erreichen, sondern seine Realisierung. (GS IV.1, S. 435)
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Das Gemeinte liegt nicht vor oder jenseits des Geschriebenen, sondern ist in diesem gegeben oder: aufgehoben. Emdens durchgängiges Vereindeutigen der Benjaminschen Textpassagen zeugt davon, dass er Benjamins Sprachauffassung und damit einen Großteil seines philosophischen Werkes ebenso ignoriert wie die in den Schriften intern verhandelten Strategien der Darstellung und deren Reflexion.

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Angesichts der insistenten Kritik Emdens an der Dunkelheit der Benjaminschen Sprache ist es erstaunlich, dass er die Benjaminschen Originalzitate fast ausschließlich als Belege einsetzt. Benjamin, dem von Emden so häufig Unklarheit, dunkle Ausdrucksweise und unnötig verklausuliertes Schreiben vorgehalten wird, wird meistens in extenso zitiert. Und gerne wird ein Absatz mit einem Benjamin–Zitat abgeschlossen. Einige der schwierigsten Stellen aus dem Benjaminschen Œuvre, an denen sich schon Generationen von Forschern die Zähne ausgebissen haben, werden derart angeführt, als erklärten sie sich von selbst. Diese Art des Autoritätsbeweises ist ärgerlich: Entgegen der deutlichen Stellungnahme Emdens setzt sie voraus, dass Benjamins Texte auf den ersten Blick verständlich seien und keiner genaueren Analyse bedürften. Einerseits wird damit argumentiert, Benjamin sei »dunkel« oder verwende eine uneigentliche Sprache, andererseits wird gerade die Auseinandersetzung mit der sprachlichen Seite dieses Werkes gemieden.

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Fazit: Benjamin lesen

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Nicht nur, dass Emden die enge Verzahnung von Inhalt und Ausdruck, ja den eigentlich sprachphilosophischen Hintergrund von Benjamins Texten nicht wahrhaben mag: Auch hinsichtlich der Weise, in der die Einflüsse anderer in die Benjaminschen Texte eingehen, gibt es hier nichts Neues zu erfahren, sondern vielmehr etliche Rückschritte hinter den Forschungsstand zu bemerken. An keiner Stelle setzt sich Emden mit Benjamins idiosynkratischer Zitierweise auseinander, vielmehr wird auch diese als unnötige Verkomplizierung an sich doch so einfacher Zusammenhänge angeprangert. Hier wäre eine Stelle gewesen, an der es sich gelohnt hätte, weiter darüber nachzudenken, wie Benjamin relevantes Gedankengut spielerisch einflicht, zentrale Einflüsse eskamotiert und für sein Argument weniger relevante Denker lang und breit in seinem Text behandelt. Dass Benjamin jemand war, der bewusst Fährten verschleiert und falsche gelegt hat, ist wohl kaum zu bestreiten.

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Sicherlich: Die genaue Darstellung von bislang vernachlässigten Einflüssen auf das Benjaminsche Schreiben, wie sie Emden bietet, hat einen Eigenwert, der nicht bestritten werden soll. Es stellt sich jedoch die Frage, was uns als Lesern Benjamins das Austauschen einer Einflussquelle durch eine andere im Hinblick auf Benjamins Schriften an Erkenntnisgewinn bringt, wenn diese nicht in ihrer Eigentümlichkeit ernst genommen werden.

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So bleibt als enttäuschende Kritik an Emdens Studie, dass sie das verfehlt, was sie im Titel und Vorwort ankündigt, nämlich eine Aufarbeitung der Benjaminschen Texte im Hinblick auf Geschichte und Geschichtsschreibung. Hierzu kann man nur Walter Benjamins Schriften (wieder) lesen, um in einer genauen Auseinandersetzung mit seinen Texten zu erfragen, welche Modelle er in Bezug auf eine »kopernikanische Wendung in der geschichtlichen Anschauung« (GS V.1, S. 490) anzubieten hat.

 
 

Anmerkungen

1 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften V.1. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 490. Benjamin wird im Folgenden nach den Gesammelten Schriften mit Bandangabe zitiert.    zurück
Einige der Kapitel basieren auf bereits publizierten Arbeiten Emdens, so u.a. »Walter Benjamins Ruinen der Geschichte« in: Aleida Assmann, Monika Gomille und Gabriele Rippl (Hrsg.): Ruinenbilder. München: Fink 2002, S. 61–87; »›Stückwerk‹. Geschichte und Sammlung bei Walter Benjamin.« Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), Sonderheft, 69–91 und »Kulturwissenschaft als Entzifferungsunternehmen. Hieroglyphik, Emblematik und historische Einbildungskraft bei Walter Benjamin« in: Aleida Assmann und Jan Assmann (Hrsg.): Hieroglyphen. Stationen einer abendländischen Grammatologie. München 2003, S. 297–326.   zurück
Hier wäre eine Auseinandersetzung mit der Literatur, die sich bereits eingehend mit den jeweiligen Bildauffassungen von Benjamin und Warburg auseinander gesetzt hat, wünschenswert. Um nur die prominentesten Titel zu nennen: Cornelia Zumbusch: Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne–Atlas und Walter Benjamins Passagen–Werk. Berlin: Akademie Verlag 2004; sowie einige Artikel von Sigrid Weigel, u.a. »Bildwissenschaft aus dem ›Geister wahrer Philologie‹: Benjamins Wahlverwandtschaft mit der ›neuen Kunstwissenschaft‹ und der Warburg–Schule«. In: Detlev Schöttker (Hrsg.): Schrift – Bilder – Denken. Walter Benjamin und die Künste. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 112–127; sowie dies: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München: Fink 2004.    zurück
Zu nennen wären hier v.a. Ansgar Hillach: »Dialektisches Bild.« In: Walter Benjamins Begriffe. Hrsg. v. Michael Opitz u. Erdmut Wizisla. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, S. 186–229; Anselm Haverkamps Kapitel »Dialektisches Bild: Die Konstellation der Geschichte« in: Figura Cryptica, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 44–60; Bettine Menkes Studie Sprachfiguren: Name – Allegorie – Bild nach Benjamin. Weimar: VDG 2001; sowie Susan Buck–Morss: Dialektik des Sehens: Walter Benjamin und das Passagen–Werk. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000.    zurück
Die Vernachlässigung des Benjaminschen Bildhaushalts hat eine lange Tradition in der Auseinandersetzung mit Benjamins Schriften, die erst in letzter Zeit revidiert wird, vgl. hierzu u.a. Sigrid Weigel: »Zu den Bildern Walter Benjamins«. In: Trajekte: Zeitschrift des Zentrums für Literatur– und Kulturforschung Berlin 7:13 (2006), S. 15–22; Eine neuere Studie, die sich den nicht–sprachlichen Benjaminschen Bildern widmet, stammt von Heinz Brüggemann. Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie. Würzburg: Könighausen und Neumann 2007. Die Bedeutung des Bildmaterials für das Passagen-Werk herauszuarbeiten ist die Aufgabe, der sich Steffen Haug in seiner Dissertation »Kunst und Bild in Benjamins Passagen–Werk« (Arbeitstitel) derzeit widmet.    zurück
Charles Taylor: »Modern Social Imaginaries«. In: Public Culture 14:1 (2002), S. 106.    zurück
Zur intellectual history und ihrem oftmals unterkomplexen Verständnis von Texten vgl. den Aufsatz von Dominick LaCapra: »Rethinking intellectual history and reading texts«. In: Rethinking intellectual history: Texts, Contexts, Language. Ithaca & London: Cornell UP 1983, S. 23–71.    zurück