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  • Anja Gerigk: Das Verhältnis ethischer und ästhetischer Rede über Literatur. Eine historische Diskursanalyse. (Probleme der Dichtung 38) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2006. 269 S. Gebunden. EUR (D) 45,00.
    ISBN: 978-3-8253-5252-3.
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Die so folgenreiche wie hinlänglich bekannte Verknüpfung von ›kalon‹ und ›agathon‹ respektive ›pulchrum‹ und ›bonum‹ in griechisch- und römisch-antiken Schriften skandiert ein Verhältnis – eben des ›Schönen‹ und ›Guten‹, je nach Fall genauer: des Künstlerischen und Moralischen –, das auch nach der modernen Ausdifferenzierung von Kunst und Moral Bestand hat. Zwar scheint die seit etwa 1800 kurrente Rede von einer gegenüber heteronomen Konditionierungen autonomen Kunst, wie sie Kant, Schlegel und andere behaupten, alle Zeichen auf Trennung zu stellen. Doch zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die letzten 200 Jahre der Kunst wie auch der Rede über Kunst (welche freilich nicht auf das Attribut ›schön‹ abonniert ist), dass nur die Voraussetzungen, Probleme und Fragen moralisch-künstlerischer beziehungsweise ethisch-ästhetischer Relationen andere geworden sind. Dabei hat jenes Verhältnis gegenüber einfachen moralischen Übercodierungen und Disziplinierungen der Kunst entscheidend an Komplexität gewonnen, was eine differenzierte Beschreibung erforderlich macht. Gerade die jüngsten oder jüngeren Beobachtungen eines ›ethical turn‹ in den Literaturwissenschaften 1 , unter anderem im Kontext des Befundes einer ›ethischen Wende‹ auch ›postmoderner‹ Kunsttheorien, waren gelegener Anlass zu einer Reihe von literaturwissenschaftlich orientierten Neubeschreibungen auf dem aktuellen Stand der Theorie- und Methoden-Diskussion. 2

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Arbeitsprojekt

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An diese Arbeiten schließt auch die Dissertation von Anja Gerigk zum Verhältnis ethischer und ästhetischer Rede über Literatur an, deren legitimierendes ›surplus‹ der Einsatz historisch-diskursanalytischer Verfahren sei, die sie gegen konventionelle ideengeschichtliche, aber auch gegen systemgeschichtliche Ansätze zu profilieren sucht. 3 Gerigk skizziert ihr Projekt in der (knappen) Einleitung wie folgt:

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Grundidee dieser Studie ist die Zusammenführung eines Themas, der ethisch-ästhetischen Relation, und einer Methode, der foucaultschen Diskursanalyse. Der genaue Zuschnitt des untersuchten Materials wurde im Titel festgeschrieben: die Spezialisierung auf ›Rede über Literatur‹ [...]. Eine notwendige Beschränkung bildet der Zeitraum: Die [...] beschriebene Konstellation dauert vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart [...]. (S. 10)
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Es geht ihr also um eine Beschreibung der ›ethisch-ästhetischen Relation‹ (1) »abseits der Geraden« (S. 92), nämlich mit den Mitteln der Diskursanalyse (2), wobei sie ihren Gegenstand thematisch auf die Rede über Literatur (3) und zeitlich auf den Raum von circa 1800 bis zur Gegenwart (4) einschränkt. »Literatur als kulturelles Objekt, als Produkt diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken« (S. 12) in einem historisch begrenzten Formations-Horizont der ethisch-ästhetischen Relation erscheinen zu lassen ist gleichsam Ziel der Analysen. Dabei visiert sie ausdrücklich nicht eine Rekonstruktion dessen an, was Foucault selbst über Literatur gesagt hat, sondern vielmehr »statt der theoretischen Äußerungen des Autors dessen Methode auf jenen Gegenstand« zu beziehen (vgl. S. 13), und das auf dem fortgeschrittenen Niveau der wissenschaftlichen Aneignung von Foucaults historiographischer Methodologie insbesondere in der Archäologie des Wissens.

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Gegliedert ist Gerigks Studie neben »Einleitung« und »Schluss« in fünf Haupt-Kapitel: »1. Was ist Literatur«, »2. Diskursanalyse«, »3. Diskontinuitäten«, »4. Die archäologische Methode« und »5. Historische Fallbeispiele«. Um einer konzisen Darstellung willen sollen im Folgenden die auf die Kapitel 1–4 verteilten theoretischen und methodologischen Ausführungen zusammengefasst werden, um im Anschluss das Kernstück, die vier Grundfiguren der untersuchten ethisch-ästhetischen Formation (Kapitel 4) sowie deren äußere (Kapitel 3) und innere zeitliche ›Diskontinuität‹ (Kapitel 4) ›en bloc‹ nachzeichnen und problematisieren zu können.

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Theoretische und
methodologische Voraussetzungen

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Das erste Kapitel beginnt mit einer Übersicht über postessentialistischen Epistemologien verpflichtete Theorie-Modelle, die – zunehmend eingedenk eigener Anteile an der wissenschaftlichen Konstitution ihres Objekts – »Literatur als Abstraktum zu denken versuchen« (S. 15). Namentlich werden formalistische (Sklovskij), feldtheoretische (Bourdieu), systemtheoretische (Luhmann) und medientheoretische (Jahraus) 4 Modelle besprochen. Die hier getroffene Selektion von theoretischen Modellen 5 ist funktional. Denn es ist Gerigk um die Herleitung des Gedankens zu tun, dass Literatur auch als ›kulturelles Objekt‹ im Sinne der Diskursanalyse nicht eigentlich ein tatsächlich empirisches Produkt bestimmter diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken ist, sondern ein analytisches Konstrukt deren wissenschaftlicher Beschreibung. Die regelhafte Einheit der ethisch-ästhetischen Formation werde also erst deskriptiv ›hergestellt‹, was Foucault nicht genügend deutlich gemacht, aber durchaus impliziert habe.

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Um die eigenen methodologischen Prämissen genauer zu klären, referiert Gerigk dann eingangs des zweiten Kapitels die Rezeptionsgeschichte der Foucault’schen Diskursanalyse vor allem als eine durchaus auch produktive Fächer-Geschichte der Fehllektüren, Missverständnisse und Verkürzungen, quer durch Philosophie, Sozialwissenschaften, Geschichtswissenschaften, Medienwissenschaften, Sprach- und natürlich Literaturwissenschaften (für die hier Link und Kittler / Turk einstehen). Dagegen bemüht sie selbst sich (vor allem in den Kapiteln 3 und 4) um eine philologisch genaue Lektüre des ›methodologischen Hauptwerks‹ Foucaults, der Archäologie, 6 um erst dann Selektionen und Ergänzungen vorzunehmen. Besonderes Augenmerk gilt zuvor der nach Gerigk meist unterschlagenen, von Foucault zudem nicht hinreichend explizierten »Zweiteilung des foucaultschen Diskursbegriffs« (S. 59) in zwei ›distinkte Konzepte‹: einen analytischen und einen theoretischen Diskursbegriff. Jene Differenz konkretisiert sie als Unterscheidung zwischen Archäologie und Genealogie, zwischen ›Schürfarbeit, die Regeln freilegt‹ und ›Maulwurfsarbeit, die Machtpraktiken beschreibt‹, schließlich (exemplarisch) zwischen Archäologie des Wissens und Die Ordnung des Diskurses. Weitest gehende Priorität habe der analytische Diskursbegriff der Archäologie. Die Ausführungen zum theoretischen Diskursbegriff beschränken sich daher auf die kurze Skizze einer Theorie des Diskurses als »das, was reguliert werden muss« (S. 74) durch Prozeduren der Ein- und Ausschließung, als etwas also, das sowohl ›gefährliches Rauschen‹ und ›bedrohliche Materialität‹ ist, aber auch Kontrolle und Kanalisation seiner Produktion.

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Auf der Seite des analytischen Diskursbegriffs trägt Gerigk dann nach dem Vorbild der Archäologie eine weitere Unterscheidung ein, die nämlich zwischen Aussagenanalyse und Diskursanalyse, welche in einem Verhältnis der Komplementarität zueinander stünden. An Foucaults berühmte Definition des Diskurses als »Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören«, 7 anschließend, begreift sie die Aussagenanalyse als pragmatischen Ausgangspunkt der Diskursanalyse. Dabei, das ist bekannt, sei die Aussage nicht etwa die Einheit linguistischer oder logisch-propositionaler Elemente, sondern eine ›Funktion‹, die (als Existenzbedingung des Gesagten) ein ›Spiel von Beziehungen‹ eröffne, gleichsam mit vier ›Spielfeldern‹ verbunden sei: 1) mit einem ›Referential‹ im Sinne eines Feldes möglicher Objekte beziehungsweise Gegenstände, 2) mit einer Menge von nichtindividuellen Subjektpositionen, 3) mit einem assoziierten Feld koexistierender Formulierungen und 4) mit einem ›System der Materialität‹, das die wiederholte ›Re-Inskription und Transkription‹ von Aussagen gewährleiste. ›Spielfeld‹ 4 umfasse auch das ›Anwendungsfeld‹ von Aussagen, welches deren ›Anwendungsbedingungen und Reinvestitionsbedingungen‹ organisiere. Um »gezielt Fragen nachzugehen, die sich angesichts des untersuchten Materials stellen« (S. 95), das heißt aus Gründen der argumentativen Ökonomie bescheidet sich Gerigk gleichwohl im Weiteren mit einer Analyse der ›Spielfelder‹ 3 und 4.

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An die Aussagenanalyse, welche die Aussagenebene vorsortiere, sei als ›Ausführungsprogramm‹ die Diskursanalyse anzuschließen, die in ähnlicher Weise mit Foucault nach vier Abteilungen differenzierbar sei: 1) durch Aussagen gebildete disperse Gegenstände, 2) Strukturen von Äußerungsmodalitäten sprechender Subjekte, 3) Begriffe im Sinne übergreifender Schemata in lose verbundenen distinkten Aussagenbereichen, 4) Strategien der Einteilung von ›Bruchpunkten‹ des Diskurses, der Erzeugung von Teilmengen. Vor allem den Strategien, die am deutlichsten den Unterschied von Aussagen- und Diskursanalyse anzeigten, gilt das leitende Interesse. Sie bestimmt Gerigk frei nach Foucault genauer als nichtpersonale ›Quasiintentionen‹, die sich nachträglich als ›gewollte‹ Struktureffekte ausnehmen, solcherart aber – das sei der »springende Punkt« (S. 111) – als analytisch-deskriptive Konstrukte (!) verstanden sein sollen. 8 Wie tatsächlich das konkrete Zusammenspiel von Aussagen- und Diskursanalyse vorstellbar wäre, wird nicht gesagt, wohl aber werden einige wichtige ›epistemologische‹ Voraussetzungen in aller Kürze nachgereicht: Grundlage der Analysen sei ein historisch relativer Begriff von Wahrheit im Sinne eines diskursiven Erzeugnisses, ein nichtlinearer und nichtteleologischer Geschichtsbegriff und ferner das Interesse für Wissen statt für Wissenschaft.

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Zwischenfazit: Wenngleich die Rekonstruktion eines argumentativen Zusammenhangs der methodologischen Anteile der Arbeit bisweilen Mühe bereitet (was der Gesamtkomposition der Argumentation geschuldet sein mag) und überdies nicht alle offenen Fragen der praktischen Anwendbarkeit geklärt werden, 9 überzeugen doch die begrifflich und philologisch scharfen, überdies erfreulich kritischen Analysen der Foucault’schen Schriften und ihrer Rezeption. Ob freilich die für die historischen Analysen getroffene Selektion methodischer Bausteine aus Foucaults ›Werkzeugkiste‹ einleuchtet, muss an konkreten Ergebnissen bemessen werden.

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Die vier Grundfiguren der
ethisch-ästhetischen Formation

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Nach den umfänglichen theoretisch-methodologischen Ausführungen bildet die (historische) Diskursanalyse der ethisch-ästhetischen Formation von Rede über Literatur in der Zeit seit circa 1800 den zweiten Schwerpunkt der Arbeit. Als wesentliches Ergebnis der Analyse von Aussagenfeldern, Anwendungsfeldern und Strategien, um die es Gerigk ausweislich geht, stellt sie vier Grundfiguren beziehungsweise Strategien der Verteilung von Aussagen vor.

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1. »Fülle des Sagbaren«. Quasi-Intention dieser ›primären Strategie‹ sei, jene moralischen Ausschließungssysteme 10 außer Kraft zu setzen, welche seit Platons auch moralisch motiviertem Verdikt gegen die ›lügnerische‹ Dichtkunst die Rede über Literatur regulierten: »Literarische Rede soll von moralischen Untersagungen ausgenommen sein. Die veränderte analytische Konklusion lautet: Das Ausschließungssystem wird außer Kraft gesetzt.« (S. 116) Die »klassischen Sätze der Autonomie-Ästhetik« (S. 119) in den einschlägigen Schriften Kants, Schillers oder der Schlegel-Brüder seien die ersten symptomalen ›Dokumente‹ 11 der neuen Strategie.

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2. »Spiel und freigestellte Moralität«. Gegenüber der primären Strategie der Streuung bezeichne die ›sekundäre Strategie‹ Wahlpunkte und Abstände innerhalb dieser Streuung samt ihrer Widersprüche. Der Wahlpunkt ›Spiel‹ kennzeichne die »Unverbundenheit von Ethik und Ästhetik«, zugleich »Kunst als Gegenteil des sittlichen Ernstes« (S. 129). Beispiel sind unter anderem verschiedene Passagen bei A.W. Schlegel, darunter die Rede vom ›spielenden Schein‹ der ›echten Poesie‹ (vgl. S. 130). ›Freigestellte Moralität‹ meine im Widerspruch dazu die Potentialität, das »Vermögen der Literatur, ethisch wertvoll zu sein. Einfach ausgedrückt: Sie kann gut sein.« (S. 131) Dazu werden Aussagen unter anderem aus Texten Schillers (Ästhetische Erziehung), Sartres (Die Verantwortlichkeit des Schriftstellers), Barthes’ (Am Nullpunkt der Literatur), de Mans (Allegorien des Lesens) und Rortys (Kontingenz, Ironie und Solidarität) ausgehoben – neuerer Autoren also, was aber insgesamt die Ausnahme bleibt.

[17] 

3. »Das Geltende ist nicht das Gute«. Als Strategie auf ›tertiärer Ebene‹ und als Untergruppe des Wahlpunkts ›freigestellte Moralität‹ fungiere die Ablehnung geltender ethisch-moralischer Kategorisierungen literarischer Rede bei Aufrechterhaltung eines Wertanspruchs. Varianten dieser Strategie seien Ideologiekritik (Adorno: Ästhetische Theorie), Subversion (Marcuse: Konterrevolution und Revolte) und Transgression (Bataille: Die Literatur und das Böse).

[18] 

4. »Freiheit und Humanität«. Eine weitere Untergruppe der ›freigestellten Moralität‹, eine weitere Möglichkeit der ethischen Wertzuschreibung zu Literatur bilde schließlich das widersprüchliche Paar von Freiheit (exemplarisch vor allem Bemerkungen Schillers in den Kallias-Briefen sowie in der Ästhetischen Erziehung) und Humanität (besonders in der Perspektive des ›Allgemeinmenschlichen‹ nach dem Muster von Hegels Ästhetik-Vorlesungen).

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Zweierlei Ergänzungen liefert Gerigk zum Formations-Modell der vier Figuren noch nach. Erstens sei die Behauptung vom ›Primat des Diskurses‹ gegenüber nichtdiskursiven Praktiken in der Archäologie irreführend. 12 Diskursive und nichtdiskursive Praktiken seien hier dagegen als komplementäre und gleichrangige Bestandteile einer Strategie aufgeführt. Als ›Behandlungsweisen empirischer Objekte‹ müssten daher auch die nichtdiskursiven Praktiken eigens berücksichtigt werden, das heiße hier die »formationsspezifische Behandlungsweise des literarischen Textes« (S. 155). Für diese sei zum Beispiel die genaue Kennzeichnung einer individuellen ›poetischen Charakteristik‹ typisch, die als ›äst/ethische Charakteristik‹ sowohl ästhetisch-literaturwissenschaftliche als auch ethische Anteile umfasse. Die ›urteilende Kritik‹ sei eine weitere nichtdiskursive Praktik, habe aber eben nicht den Status einer determinierenden ›Zensur‹, sondern sei unverbindlich, überholbar und revidierbar. Eine produktive Funktion der Kritik liege in der Auszeichnung der Literatur (nicht nur einzelner Werke, sondern auch insgesamt) als ›Prädikat‹.

[20] 

Zweitens sei zum ›Distributionsgesetz‹ der primären Strategie, welches die Umrisslinie der Formation zeichne, eine Formations-›Regel‹ als ›Bildungsgesetz‹ exakter Punkte zu ergänzen: die Regel der ›Bestimmbarkeit‹. Diese besage die grundsätzliche Nicht-Bestimmtheit von Ästhetik und Ethik vermittels diskursiver und / oder nichtdiskursiver Praktiken, aber räume die Option einer Bestimmung – etwa im Sinne der sekundären und tertiären Strategien – dennoch ein.

[21] 

Perioden der Formation
und historische Fallbeispiele

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Gerahmt ist das Modell der vier Figuren durch Bemerkungen zur äußeren und inneren zeitlichen Diskontinuität der Formation. Einen Nachweis äußerer Diskontinuitäten, nämlich zwischen der Zeit vor und der Zeit nach 1800 liefert das dritte Kapitel. Rekonstruiert wird hier zunächst die Traditionslinie seit Platons in der Politeia geäußerter Kritik der mimetischen, zugleich nicht nur epistemologischen, sondern auch moralischen Insuffizienzen einer Kunst des bloß Scheinhaften, die der gefährlichen Illusionsbildung unmoralischer Gedanken zuspiele. Noch die frühen Schriften der philosophischen Ästhetik als Disziplin (darunter Baumgartens Aesthetica) zeugten von einer moralisch konditionierten normativen Poetik, welche auf die Stichworte ›poetischer Katechismus‹, ›poetische Diätetik‹ und ›justiziale Kritik‹ gebracht wird. Erst seit 1800 entschlage sich die Ästhetik allmählich moralischer Ausschließungssysteme und entfalte neue Strategien der Verteilung von Aussagen (s.o.). Den Übergang zur neuen Formation illustriert Gerigk auch durch eine kurze Gattungsgeschichte der Apologie, die sich von der Selbst-›Entschuldigung‹ vom Verdacht moralischer Defizite (Sidney: Defence of Poetry) zur ›Rechtfertigung‹ genuin ästhetischer Qualitäten verändert habe (Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?).

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Der grobe Entwurf eines internen Phasenmodells der Formation im vierten Kapitel ist lesbar als Ausdifferenzierungsgeschichte. Den Beginn bereite die frühromantischen Ästhetik um 1800 und das Prinzip der ›Einschließlichkeit‹ einer unterschiedslosen Fülle des Sagbaren (primäre Strategie), gleichsam das Auftauchen eines Objekts ›Poesie‹. Ästhetizistische und postmodernistische Varianten (Barthes: Die Lust am Text) des amoralischen Spiels sowie der ›Alternative‹ moralischer Ausschließung in Form von antiideologischer Gegen-Moral, Subversion oder Transgression (2. und 3. Strategie) erzeugten dann differenziertere Markierungen des Formations-Raums. Das singuläre Ereignis des Holocaust habe ferner eine »bleibende Veränderung des Diskurses durch außerdiskursive Geschichte« (S. 173) derart gezeitigt, dass ›Freiheit und Humanität‹ (4. Strategie) zu einer dominierenden Strategie avanciert sei. Mit dem ›moral turn‹ eines ›emancipatory postmodernism‹ scheine in den vergangenen Jahren überdies vor allem der Wert ›Alterität‹ als Variante von ›Freiheit‹ auf.

[24] 

Ergänzt werden die skizzenhaften, nicht immer argumentativ stringenten und literarhistorisch genauen Darlegungen zur Historizität der Formation durch Fallbeispiele (»Literatur im Nationalsozialismus«, »Literatur in der DDR«, »Zürcher Literaturstreit 1966«, »Deutsch-deutscher Literaturstreit 1990«). Exemplarisch erwähnt sei die Analyse der literaturbezogenen ethisch-ästhetischen Rede in der NS-Zeit. Gerigk konstatiert hier einen Verstoß insbesondere gegen die Strategie der ›Fülle des Sagbaren‹ und gegen die Bestimmbarkeits-Regel der Formation: Zensur und Konformisierung des literaturbewertenden Personals als nichtdiskursive Praktiken sowie die Restitution der ideologisch-moralischen Restriktion des ästhetischen Diskurses bezeugten einen Riss in der Formation. Ob der erfolglosen Kurzkarriere der nationalsozialistischen Ästhetik erscheine diese später dann als das ›Falsche‹ und ›Unwahre‹ im Diskurs (vgl. S. 201).

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Fazit

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Als Ziel einer historischen Diskursanalyse der ethisch-ästhetischen Formation ist oben das Angebot einer Alternative zu ideen- und systemgeschichtlichen Darstellungen referiert worden. Entgegen den Suggestionen einer linear-teleologischen Folge von auktorial zuschreibbaren Ideen über Kunst und Moral beziehungsweise den Beschreibungen der rein autopoietisch-eigenevolutorischen Dynamik eines autonomen Kunstsystems ist Gerigks Devise eine andere. Sie möchte die interepistemischen Relationen, thematischen Brüche und zeitlichen Diskontinuitäten einer gleichwohl in ihren Widersprüchen einheitlichen Formation bestimmter Redeweisen über Literatur aufzeigen. 13 Soweit überzeugen die Ergebnisse größtenteils und zeugen von einem echten Vorzug der Arbeit gegenüber ›konventionellen‹ Darstellungen. Einige kritische Rückfragen hinsichtlich der eigens vorgetragenen Ansprüche und Voraussetzungen sowie der Ergebnisse müssen dennoch erlaubt sein.

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1. Steht wirklich Wissen oder doch vor allem Wissenschaft im Fokus der Analysen? Der eindeutige Akzent jedenfalls liegt auf kanonischen Schriften der disziplinären Ästhetik, offenbar also nicht ›abseits der Geraden‹ von Disziplin und Kanon.

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2. Ist eine derart scharfe (epistemologisch grundsätzlich begründete) Trennung zwischen Literatur und Rede über Literatur zwingend nötig? 14 Liegt – anders gesagt – eine entsprechende kategoriale Trennung von Textsorten (ästhetische beziehungsweise philosophische und poetologische Texte vs. literarische Texte) in der Tat auf der Linie der Diskursanalyse? Wären nicht in den Archiven der Bibliotheken Materialien zu finden gewesen, welche immerhin konkrete historische Praktiken der professionellen wie privaten, nichtoffiziösen Lektüre vorführen? Und würde das nicht mindestens die Distanz von literaturbezogener und literarischer Rede verringern? 15

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3. Hätte in diesem Zusammenhang nicht auch ein weniger selektiver Rückgriff auf diskursanalytische Werkzeuge Vorteile gehabt, hätten nicht – wie soeben angedeutet – Objekt-›Referentiale‹ und ferner Subjektpositionen mit Gewinn genauer (oder zum Teil nur anders) analysiert werden können? Eine Analyse von Subjektpositionen hätte zum Beispiel Fragen nach der ›Autor-Funktion‹ in der ethisch-ästhetischen Rede über Literatur oder nach der Relevanz von (Inter-)Diskursstrukturen humanologischen Wissens für die Figur der ›Humanität‹ eröffnet.

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4. Ließe sich zudem jenes für das Fülle-Prinzip der primären Strategie so wichtige Denken der Autonomie von Kant bis Luhmann nicht durch den Nachweis einer Verbundenheit mit der Dominanz organologischer und kybernetischer Modelle in verschiedenen modernen Wissensformen neu beleuchten (und die These von der ›Fülle des Sagbaren‹ gegebenenfalls relativieren)?

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5. Könnte schließlich eine Diskursanalyse der NS-Literatur nicht vielleicht auch anderes aufzeigen als einen Bruch der Formation und einen Skandal der Geschichte? Könnte sie womöglich ausgerechnet hier – gewissermaßen ›out of line‹ – mit Kontinuitäten überraschen?

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Um richtig verstanden zu sein: Solcherlei Überlegungen produktiv durch so befragbare wie interessante Ergebnisse anzuregen, zeichnet die Arbeit aus. Die Ausführungen zu den Methoden sowie das Großprojekt eines diskursanalytisch-historiographischen Versuchs über die ›ethisch-ästhetische Relation‹ der letzten 200 Jahre erlauben aber auch en gros ein unter dem Strich positives Fazit. Dem nicht nur präzisen wie freilich ›trockenen‹ methodologischen Reflexionen auf hohem Niveau, sondern auch offenen Fragen aufgeschlossenen Leser sei die Arbeit daher fraglos empfohlen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Vernon W. Gras: The Recent Ethical Turn in Literary Studies. In: Mitteilungen des Verbandes Deutscher Anglisten 4 (1993, 2), S. 30–41.   zurück
Vgl. Gerhard Gamm / Gerd Kimmerle (Hg.): Ethik und Ästhetik. Nachmetaphysische Perspektiven. Tübingen: Edition Diskord 1990; Christoph Wulf (Hg.): Ethik der Ästhetik. Berlin: Akademie-Verlag 1994; Gerhard Hoffmann / Alfred Hornung (Hg.): Ethics and Aesthetics. The Moral Turn of Postmodernism. Heidelberg: Winter 1996; Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996; Bernhard Greiner / Maria Moog-Grünewald (Hg.): Etho-Poetik. Ethik und Ästhetik im Dialog. Bonn: Bouvier 1998.   zurück
Gerigk grenzt sich u.a. explizit gegen das gleichwohl ähnliche Dissertations-Projekt Niels Werbers ab, der in Literatur als System die frühe literarische System-Geschichte der Emanzipation von Epistemologie und Moral nachzeichnet (vgl. Niels Werber: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1992). Anders als Werber gehe es ihr nicht um die literarische, sondern die literaturbezogene Rede. Angemerkt sei, dass die Einsicht, ästhetische Rede sei Rede über Kunst bzw. Literatur, spätestens seit Luhmanns Kunst-Buch und dessen Rezeption grundsätzlich durchaus zu den zentralen Einsichten einer Systemtheorie der Kunst gehört.   zurück
Kein medientechnisches Modell im Sinne Kittlers, das explizit an Foucaults Arbeiten anschließt, sondern ein ›formales‹ Medienmodell wird hier angeführt, das Jahraus im Anschluss an Luhmanns systemtheoretische Medium / Form-Unterscheidung weiterentwickelt.   zurück
Dekonstruktivistische Modelle u.a. werden nicht einbezogen.   zurück
Titel des Kapitels 2.3 und unausgesprochenes Motto auch der folgenden Abschnitte: »Die Archäologie des Wissens lesen«.   zurück
Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 156.   zurück
Der deutliche konstruktivistische Akzent der Arbeit ist bereits oben angedeutet worden.   zurück
Auch die historischen Analysen können nur implizit zur Aufklärung beitragen, denn: »Was den Prozess der Erkenntnisbildung angeht, so wird dieser nicht mitgeteilt, der folgende Abschnitt [über die ›ethisch-ästhetische Relation‹] verlässt sich weitgehend auf die […] methodische Erörterung [in den voran gegangenen Abschnitten].« (S. 115)   zurück
10 
An dieser Stelle kommt der theoretische Diskursbegriff zum Tragen.   zurück
11 
Foucaults konsequenzenreiche Unterscheidung von Dokument und Monument in der Archäologie wird offenbar nicht übernommen.   zurück
12 
Gerigk kritisiert hier Dreyfus’ und Rabinows Befund der ›Illusion eines autonomen Diskurses‹ in der Archäologie (vgl. Hubert L. Dreyfus / Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt/M.: Athenäum 1987, S. 12).   zurück
13 
Erwähnt worden ist hier eine Auswahl von Gerigks Referenz-Autoren und deren Schriften. Grundsätzlich aber ist ihr Anliegen, wie einige Bemerkungen andeuten, die Analyse von apersonalen Redeweisen im Sinne von Aussagenzusammenhängen, deren Verknüpfung gerade nicht die Autorität von Personen stiftet. Die recht umfängliche Materialsammlung konnte aus Gründen der Darstellungsökonomie allerdings nicht en detail vorgestellt werden.   zurück
14 
Die Fragen 1 und 2 weisen auf eine gewisse Nähe der Arbeit zu systemtheoretischen Denkweisen, von der insgesamt deren dezidiert konstruktivistische Pointierung zeugt. Diskursanalyse und Systemtheorie offen in einen Dialog zu bringen, wäre eine mögliche Variante gewesen, die dann an vorliegende Forschungsergebnisse hätte anschließen können. Vgl. beispielhaft: foucault mal luhmann. welche produkte? kultuRRevolution 47 (2004).   zurück
15 
Eine Faszination der Schriften Foucaults liegt gerade in den ›phänomenologischen‹ Beschreibungen diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken und Objekte – etwa der Meniñas von Velazques in Die Ordnung der Dinge oder der Martern eines Sträflings in Überwachen und Strafen. Foucault zeigt, worüber er bzw. ›man‹ spricht. Dies trifft natürlich für eine methodologische Schrift wie die Archäologie, die hier im Zentrum steht, ausnahmsweise nicht zu.   zurück