IASLonline

Pirandello nach dem cultural turn

Eröffnen die Kulturwissenschaften neue Perspektiven auf einen modernen Klassiker der europäischen Literatur?

  • Thomas Klinkert / Michael Rössner (Hg.): Zentrum und Peripherie. Pirandello zwischen Sizilien, Italien und Europa. (Studienreihe Romania 23) Berlin: Erich Schmidt 2006. 205 S. Kartoniert. EUR (D) 34,80.
    ISBN: 978-3-503-07979-7.
[1] 

Pirandello neu interpretieren

[2] 

Zentrum und Peripherie, Identität und Alterität – die Schlüsselbegriffe im Vorwort des vorliegenden Sammelbandes über das Werk Luigi Pirandellos vor dem wechselnden Horizont des sizilianischen, italienischen und europäischen Kulturraumes sprechen für sich: Die Herausgeber, Thomas Klinkert und Michael Rössner, haben sich das Ziel gesetzt, die Interpretation eines modernen Klassikers mit frischem Wind zu beleben. 1 Aus mehreren Gründen verspricht dieses Vorhaben eine spannende Lektüre: Zum einen müssen die Autoren der einzelnen Aufsätze unter Beweis stellen, dass sich die Debatte um die Fusion von Literatur- und Kulturwissenschaft gelohnt hat, indem sie ihren Lesern demonstrieren, welche neuen Erkenntnisse die innovativen Ansätze in der Praxis erbringen. Als wäre das nicht schwer genug, müssen sie zudem zeigen, dass sich die Kategorien der postkolonialen Literaturtheorie gewinnbringend auf Pirandellos Texte anwenden lassen. Dies ist alles andere als selbstverständlich. Als Sizilianer stammte Pirandello zwar vom äußersten südlichen Rand Europas, aber nicht etwa aus den Kolonialgebieten des Orients, Indiens oder der Karibik, die im Fokus der grundlegenden Studien Edward Saids oder Homi K. Bhabhas stehen.

[3] 

Möglicherweise ist es gar nicht im Sinne dieser Theoretiker, die von ihnen geprägten Begriffe auf einen kanonischen Autor der europäischen Moderne zu beziehen. Ist es dennoch vertretbar? Das Herausgeber-Duo Klinkert / Rössner hält es für das Gebot der Stunde, denn wesentliche Aspekte von Pirandellos Werk könnten durch diese Lesart in ganz neuem Licht erscheinen; so die »Erfahrungen der Fremdheit«, die »Infragestellung aller Gewissheiten« und die »Identitätsauflösung, aber auch die damit zusammenhängende selbstreflexive Darstellungsweise« (S. 10) – ein Themenkatalog also, der grosso modo mit demjenigen der postkolonialen Literatur überein zu stimmen scheint.

[4] 

Die Struktur des Sammelbandes

[5] 

Es fällt zunächst auf, wie sensibel und leserfreundlich die Herausgeber ihren Sammelband strukturieren. Dessen Thema ist komplex, da die zehn Beiträger zum Teil untereinander divergierende Zugänge zu ganz unterschiedlichen Pirandello-Texten versucht haben. Somit erweist es sich als hilfreich, dass die Aufsätze thematischen Sektionen von flexiblem Umfang zugewiesen sind, deren größte, die dritte, vier Beiträge umfasst, während die kleinste aus einer einzigen Studie besteht. In diesen beiden Abschnitten wird Pirandello, als Sizilianer ein beispielhafter Autor aus der Peripherie, als Modernist beziehungsweise als Vorreiter der Postmoderne beleuchtet. Die beiden vorhergehenden Sektionen behandeln die Oppositionen von sizilianischer Peripherie und italienischem Zentrum sowie Identität und Alterität, wobei der letztere Themenkomplex »die pflichtschuldige Verneigung vor dem Wahnsinn« (S. 66) einschließt, einen genuinen Pirandello-Topos.

[6] 

Diese Rezension möchte dem Sammelband in seiner Gesamtheit gerecht werden und jeden Beitrag zumindest schlaglichtartig erfassen, davon abgesehen will sie jedoch einen ausgewählten Aufsatz pro Sektion intensiver untersuchen. Natürlich handelt es sich dabei jeweils um einen Text, in dem der innovative kulturwissenschaftliche Zugriff besonders signifikant zutage tritt. Überdies gilt das Augenmerk der inneren Kohärenz der einzelnen Bandsektionen.

[7] 

Identität, Alterität und Wahnsinn

[8] 

Zunächst soll das Augenmerk Thomas Klinkerts Aufsatz gelten, der aus gutem Grund am Anfang der ersten Sektion und überhaupt der zehn Beiträge des Bandes steht. Er präsentiert grundlegende Gedanken zum Begriff der Identität, demjenigen Konzept also, das vermutlich das Herzstück aller kulturwissenschaftlichen Betrachtung bildet. Schon deswegen hat Klinkerts Text einführenden Charakter, der noch verstärkt wird, indem er – ausgehend von der personalen Identität, die sich in der Dialektik von Selbstbild und Fremdbild ständig neu ausrichtet – eine Definition von kultureller Identität unternimmt. Identität, so wird hier überzeugend dargelegt, lässt sich nur im zeitlichen Kontinuum fassen, findet ihren adäquaten Niederschlag daher in der Erzählung. 2 Bereits diese Vorgedanken zeigen, dass die kulturwissenschaftliche Interpretation den Konflikt mit den Prinzipien einer traditionellen, in der hegelianischen Ästhetik fußenden Literaturauffassung nicht scheut: Sie ignoriert deren Grundsatz, dass das lyrische Gedicht diejenige Textart sei, in der der Mensch zu sich selbst finde, also seine Identität bestimme.

[9] 

Doch vertieft Klinkerts Aufsatz dergleichen Grundsatzfragen nicht und ist auch nicht der richtige Ort dafür. Stattdessen wendet er sich Pirandello-Texten zu, in denen die Identitätsproblematik thematisch und strukturbildend wird. Vor allem gelingt ihm dies anhand der Novelle Berecche e la guerra, deren Protagonist an einer fremden kulturellen Identität teilhaben will, nämlich der deutschen. Als sein idealisiertes Deutschlandbild durch die Kriegsführung des Kaiserreiches im Ersten Weltkrieg ins Wanken gerät, hält er zunächst nach außen hin an seiner Germanophilie fest, um den Gesichtsverlust zu vermeiden. Als er die Unhaltbarkeit dieser Position erkennt, meint er ins gegenteilige Extrem umschlagen zu müssen. Als glühender italienischer Patriot scheitert er komisch.

[10] 

Klinkert deutet die Erzählung vor dem Hintergrund des dialektischen Identitätskonzeptes exemplarisch als verfehlte Selbstdefinition. Möglicherweise hätte er die doppelte Spiegelung, die seine Interpretation interessant macht – das Fremdbild deutscher Kultur in einem italienischen Text, der wiederum aus deutscher Sicht analysiert wird –, selbstreflexiv akzentuieren können. Dass der Kampf des Individuums um die kollektive Identität in Pirandellos Augen hervorragende Möglichkeiten bietet, um ins Groteske abzustürzen, ist hier jedoch, ebenso wie bei der Betrachtung mehrerer anderer Novellen, höchst überzeugend herausgearbeitet.

[11] 

Keine Sektion des Bandes ist so erstaunlich geschlossen und auf das Gesamtthema abgestimmt wie die erste. Die Aufsätze von Walter Geerts und Claudio Cicotti fügen sich schon deshalb zur Einheit, weil sie zum Teil ähnliche Primärtexte besprechen, etwa die Novelle La signora Frola e il signor Ponza, suo genero. Beide schließen darüber hinaus an Klinkert an, indem sie das Erlebnis der Alterität ins Auge fassen. Nach einer vielleicht zu extensiven Einführung in Pirandellos Novelle per un anno arbeitet Geerts sehr klar heraus, dass die »esperienza dell’alterità e dell’esclusione che ne è conseguenza abituale« (S. 45) einen zentralen thematischen Nukleus des Werks darstellt. Der ›Andere‹ wird von seinem Umfeld durchweg geächtet, zuweilen sogar mit dem Stigma des Wahnsinns behaftet.

[12] 

An diesem Punkt setzt die pointierte Betrachtung Cicottis ein: Da Pirandello von der Multiplizität der Persönlichkeit ausgeht, tritt Alterität in seinem Werk nicht erst in der Verschiedenheit des Einzelnen von seinem Milieu zutage. Fiktive Figuren wie Enrico IV aus dem Drama gleichen Namens, die sich ihrer inneren Vielfalt gelegentlich bewusst werden, steigen zu einer höheren Stufe des Bewusstseins auf – nämlich zu derjenigen des Wahnsinns.

[13] 

Sizilianische Peripherie vs. Italienisches Zentrum

[14] 

Nicht ganz so kohärent präsentiert sich die zweite Sektion, doch scheinen auch die Beiträge von Christine Ott und Susanne Kleinert thematisch ineinander zu greifen. Beide Male steht hier Pirandellos Blick auf Sizilien im Vordergrund, dem im geeinten Italien die Funktion der Peripherie par excellence zufällt; beide Male bildet das Werk des sizilianischen Veristen Giovanni Verga den Ausgangspunkt der Studie. Ott gelingt es, ausgerechnet den Strukturalisten Juri Lotman und sein altbekanntes Raummodell für die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Betrachtung der Grenzüberschreitung von Sizilien in die Großstädte des italienischen Festlandes fruchtbar zu machen. Angesichts der urbanen Entwicklung um 1900 – der Gegensatz von Zentrum und Peripherie wird zunehmend zu einer Differenz von peripheren Zentren und zentralen Peripherien nivelliert – steigt die Reise zum Symbol erster Ordnung auf: »[...] il viaggio rappresenta l’angoscia esistenziale del soggetto moderno« (S. 73). 3

[15] 

Geographisch ist Sizilien problemlos vom italienischen Festland und der übrigen Welt abzugrenzen – dies liegt in der Natur einer Insel. Mit der historischen und kulturgeschichtlichen Beschreibung Siziliens verhält es sich ungleich schwieriger, weil sich Griechen, Römer, Byzantiner, Araber, Normannen, Staufer, Franzosen und Spanier förmlich die Klinke in die Hand gaben, um ihre Fremdherrschaften auszuüben. Sie alle haben ihre Spuren hinterlassen und zur Herausbildung eines ausgesprochen hybriden Kulturraumes beigetragen, der dennoch ganz eigenen Gesetzen unterworfen ist. Sizilianische Autoren haben das Spezifische ihrer kollektiven Identität immer wieder prononciert hervorgehoben und zu definieren versucht, was Johanna Borek am Beispiel von Pirandello, Leonardo Sciascia und Vincenzo Consolo zeigt.

[16] 

Dabei wählt sie diese Trias keineswegs willkürlich, sondern verknüpft sie zu einer schlüssigen Entwicklungslinie, deren Ausgangspunkt Giovanni Verga ist. Worin besteht nun das typisch Sizilianische, das sich in den Werken dieser Autoren die Bahn bricht? Pirandello sprach im Rahmen seiner Ästhetizismus-Kritik von Vergas ›stile delle cose‹, den er in pointierte Opposition zum ›stile delle parole‹ Gabriele d’Annunzios stellte. Zwar setzt der Stil des Veristen die Tradition Dantes, Machiavellis und Manzonis fort, was ihn zunächst gerade nicht als spezifisch sizilianisch charakterisiert, seine Erzähltexte sind jedoch von der Sprache und Kargheit der Insel geprägt. Für Borek bilden die Pirandello-Lektüren Sciascias und Consolos die wesentlichen Referenzhintergründe.

[17] 

Leonardo Sciascia sah überall in Pirandellos Werk Sizilien, wenn nicht gar Agrigento. Ganz egal, welche Schauplätze Pirandello für seine Dramen- und Erzählhandlungen gewählt habe, die »Enge dieses Provinzstädtchens, in dem jeder jeden kennt, jeder jeden beobachtet und wertet« (S. 92) bleibe durchweg erhalten. So verkehre sich Sizilien in ein universales Welttheater, wofür es gerade wegen seiner hybriden Bevölkerung ideale Voraussetzungen biete. Zweifelsohne lässt Sciascias Argumentation, die von Borek kulturwissenschaftlich reflektiert wird, an Kohärenz nicht zu wünschen übrig. Dass sie als Grundlage der Pirandello-Interpretation herangezogen wird, ist ein Plus dieses Aufsatzes. Dennoch hätte sich ein wenig mehr kritische Distanz empfohlen. Provinzielle Enge voll sozialer Zwänge war zu Pirandellos Zeiten fast überall anzutreffen, sie war gewiss kein besonderes Spezifikum von Agrigento. Und dass sicilianità oder sicilitudine »als Rassenmischung, als kollektive Identität des Hybriden« (S. 92) zu definieren ist, greift möglicherweise zu kurz. Heterogene Kulturen gibt es in vielen Ländern, oft bilden sie aber ganz andere Merkmale heraus als die sizilianische. Wer also die Identität der Inselbewohner charakterisieren will, darf sich nicht auf diesen Aspekt beschränken.

[18] 

›Schwefelmenschen‹ waren Pirandello und Sciascia in Vincenzo Consolos Augen. Mit den Schwefelgruben war auf sizilianischem Boden eine moderne Welt entstanden, die unmenschliche Kinderarbeit, aber auch soziale Anklage hervorbrachte. Die Substanz, die der Erde abgerungen und zu Streichhölzern verarbeitet wird, wird so zur Metapher eines ganz spezifischen Illuminismus – spezifisch, weil er nicht aus den europäischen Zentren importiert, sondern am südlichen Ende des Erdteils geschaffen wurde. Wie die Grubenarbeiter den Schwefel, bringt insbesondere der Realismus des Kriminalautors Sciascia die Wahrheit ans Tageslicht. Dieses plastische Sprachbild – Johanna Borek gelingt der Zirkelschluss mit virtuoser Eleganz – führt uns zu Vergas ›stile delle cose‹ zurück.

[19] 

Die Auflösung des Gegensatzes von Peripherie
und Zentrum in der Moderne

[20] 

Die Modernitätserfahrung bildet den Nukleus der dritten Bandsektion, ein großes Thema also, das von ganz verschiedenen Seiten angegangen werden kann und wird. In anspruchsvoller wissenschaftlicher Prosa zeichnet Pasquale Guaragnella nach, wie Pirandello einen Kameramann als Erzähler einsetzt, um in dem Roman Quaderni di Serafino Gubbio operatore über die ästhetische Revolution der bewegten Bilder zu reflektieren. Die fragmenthaften Aufzeichnungen des Serafino Gubbio, der auf die bescheidene Funktion des Kurbeldrehers reduziert ist, werden dabei gerade nicht als entseelte Entsprechungen zu den mechanischen Filmaufnahmen gesehen. Mag die äußere Form des Romans Bezüge zum neuen Medium Kino aufweisen, so lässt sich doch ein ganz anderer Sinn aus dem Werk herauslesen: Rhetorisch raffiniert bleibt Guaragnella der Bildlichkeit des Kameraobjektivs verbunden, indem er die »presenza di un nuovo fuoco capace de spostare l’attenzione della funzione meccanica del narratore al suo bisogno di sfogo prepotente« (S. 105) feststellt. Pirandello, auch dies hebt der Aufsatz deutlich hervor, tritt damit in kontroversen Dialog zu anderen filmästhetischen Positionen im zeitgenössischen Italien. Der radikale Avantgardismus Marinettis etwa hatte die mechanische, von menschlichem Denken und Fühlen unabhängige Aufzeichnung fernab jeder skeptischen Infragestellung hymnisch gefeiert.

[21] 

Pirandellos Erstlingsroman L’esclusa kritisierte die überstürzte Modernisierung des jungen italienischen Nationalstaates. Im Mittelpunkt des Werkes steht Marta Ajala, die als Lehrerin den Prototyp der berufstätigen Frau repräsentiert, eine Neuerung jener Jahre. Sie fristet ein kümmerliches Dasein in Palermo, bevor sie sich mit ihrem Mann wiederversöhnt, der sie als vermeintliche Ehebrecherin verstoßen hatte. Insbesondere die finale Wendung der Romanhandlung hat Pirandello den Ruf eines wertkonservativen Traditionalisten, wenn nicht gar eines entschiedenen Gegners der feministischen Bestrebungen seiner Zeit eingetragen. Zu Unrecht, resümiert Susanne Kleinert, deren Aufsatz über die Geschlechterrollen und Modernisierungserfahrung L’esclusa in den Mittelpunkt stellt. Ihre erhellende Interpretation des Romans, methodisch zwischen cultural und gender studies angesiedelt und stark auf die zeitgenössische Essayistik und Gesetzgebung bezogen, gelangt zu einem anderen, differenzierteren Bild des Autors.

[22] 

Demnach verweigert sich der Skeptiker Pirandello der Modernisierung keineswegs, will jedoch den gewachsenen Kulturraum Sizilien vor deren exzessiven Auswüchsen bewahren. In L’esclusa geißelt er nicht das neuartige Phänomen der berufstätigen Frauen, sondern das Festhalten am archaischen Begriff der Familienehre. Dies stellt Kleinert überzeugend dar, indem sie detailliert herausarbeitet, wie Martas Ehemann Rocco als komische Figur charakterisiert wird. Seine panische Angst vor der Untreue seiner Frau treibt diese überhaupt erst in die Arme ihres Liebhabers, der bezeichnenderweise Parlamentsabgeordneter in Rom ist. Die Hauptstadt des jungen Nationalstaats Italien figuriert hier als abstrakte Idee des modernisierten Zentrums, dem Sizilien als rückständige Peripherie konträr gegenübersteht. 4 Nach dem tatsächlichen Ehebruch kehrt Marta zu Rocco zurück, der seinen Fehler mittlerweile eingesehen und bereut hat. Vor dem Hintergrund ihrer innovativen Interpretation vermag Kleinert das Finale des Romans, das nach traditioneller Lesart paradox erscheinen muss, mit Sinn zu erfüllen: Pirandello erkannte eben doch das Positive in der potentiellen Berufstätigkeit der Frauen. Mochte sie die Frauen zunächst zwar nicht aus ihrer materiellen Abhängigkeit befreien, wirkte sie doch immerhin darauf hin, archaische und inhumane Geschlechterbilder zu überwinden.

[23] 

Der frühe Pirandello gewinnt in Kleinerts Romanlektüre das Profil eines luziden und analytischen Beobachters der sozialen Verhältnisse seiner Zeit, eines Autors, der auf konkrete Fragen nicht minder konkrete Antworten fand. Mit Hilfe seines humoristischen Kontrastprinzips schuf er die adäquate Ausdrucksform für dieses Projekt. Der Traditionalist, gar der verbissene Anti-Feminist Pirandello wird hier überzeugend zu Grabe getragen.

[24] 

Guaragnellas und Kleinerts Betrachtungen zum Romanwerk Pirandellos werden durch zwei Beiträge ergänzt, die das Thema der religiösen Praktiken zur Modernitätserfahrung in Bezug setzen. Aus der Summe erschöpfender Werkkenntnis gelangt Michael Rössner zu dem Schluss, dass das Drama Sagra del Signore della Nave von 1925 avantgardistische Techniken aufgreift, sie jedoch aus dem Bereich des Experimentellen herauslöst und für den etablierten Theaterbetrieb salonfähig macht. Das eigentlich Interessante, so die gekonnt zugespitzte These, ist jedoch der cross-over von sizilianischer Volksfrömmigkeit und Auflösung der traditionellen dramatischen Konventionen, mit denen Pirandello dieser Coup gelingt. Ausgerechnet das Periphere nimmt hier also vorweg, was das Theater des 20. Jahrhunderts in den Zentren der Moderne als das aufregend Neue feiern wird.

[25] 

Kai Nonnenmacher indes gelingt eine geradezu beispielhafte mentalitätsgeschichtliche Kulturstudie, in der Glaubensrituale »als Resultat von kollektiven Selbstauslegungs- und Repräsentationsprozessen« (S. 117) fassbar werden. Auf der Grundlage der wegweisenden Kulturanthropologie Clifford Geertz’, aber auch der Thesen des Tübinger Ethnologen Thomas Hauschild, 5 rücken Phänomene wie die religiös geprägte Körpersprache der Sizilianer oder der ›böse Blick‹ ins Zentrum des Interesses. Mit dem vielleicht provokativsten Aufsatz des Sammelbandes eröffnet Nonnenmacher neues Terrain in der Pirandello-Forschung und weckt den Wunsch nach anschließenden, vertiefenden Studien auf der Basis dieser Methodik.

[26] 

Pirandello, Peripherien, Postmoderne

[27] 

Das Wort ›Grenze‹ gehört zu den wichtigsten und häufigsten Begriffen dieses Sammelbandes, dessen Beiträge so viel vom Übergang von einem Kulturraum in einen anderen sprechen. So auch in Monika Schmitz-Emans’ Aufsatz Pirandello und Pessoa als Revenants. Antonio Tabucchis intertextuelle Gespenster, der eine eigenständige Sektion bildet. Gleich zu Beginn ist von einer ›Grenzlinie‹ die Rede, die in diesem Fall jedoch den Bereich des Fiktiven von der Alltagswelt trennt. Das Werk des produktiven Gegenwartsautors Antonio Tabucchi, der auch von deutschen Romanisten in den neunziger Jahren als einer der führenden postmodernen Schriftsteller Italiens gelesen wurde, wird hier als »Kernprojekt einer Entdifferenzierung zwischen Realem und Imaginärem« (S. 191) vorgestellt. Vielfach rekurriert es auf Luigi Pirandello und Fernando Pessoa, deren jeweilige literarische Ästhetik sich bei aller Verschiedenheit insofern gleicht, als sie Fiktion als höhere Realität begreift. Anders als die empirische Wirklichkeit könne sich die Kunst nämlich der Tatsache bewusst werden, dass sie lediglich Schein produziert.

[28] 

Schmitz-Emans lässt eine beeindruckende Serie von Tabucchi-Texten Revue passieren, in denen sich Pirandello, Pessoa oder sogar beide zugleich ein Stelldichein als Wiedergänger geben. Sie fungieren dabei als Protagonisten und als Allegorien der Intertextualität, indem sie in den Erzählungen, die ohne ihr Schaffen nicht hätten entstehen können, höchstpersönlich in Erscheinung treten. Die postmoderne Überzeugung, dass originäre Autorschaft nicht mehr möglich sei, findet hier ihre fiktionale Ausdrucksform.

[29] 

Man mag kritisch einwenden, dass uns Schmitz-Emans nicht mit den allerüberraschendsten Erkenntnissen aufwartet. Pirandello und Pessoa hätten der Postmoderne vorausgegriffen und würden deswegen von dem Postmodernisten Tabucchi viel und gerne zitiert? Dergleichen Aussagen sind keine aufregenden Neuigkeiten. Dennoch ist beeindruckend, welch scharfe Konturen Schmitz-Emans dem Vorausdeutenden, Zukunftsweisenden in Pirandello und Pessoa gibt, wie präzise sie die intertextuellen Verweise in Tabucchi zu ihren Ausgangspunkten zurückverfolgt. Eine Vorreiterrolle zu behaupten, ist ja bekanntlich einfach; sie faktisch nachzuweisen, sehr kompliziert. Allerdings: Ob sich diese Studie so gut in den kulturwissenschaftlichen Rahmen des Sammelbandes einfügt, wie es dessen Vorwort wahrhaben möchte – das bleibe dahingestellt.

[30] 

Resümee

[31] 

In der Summe wird der Sammelband seinem hochgesteckten Ziel gerecht, eine repräsentative Auswahl der Texte Pirandellos in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. Man sieht: Sobald man das Objektiv der postkolonialistischen Optik auf den europäischen Kontinent einstellt, lassen sich nicht minder scharfe Kontraste zwischen Zentren und Peripherien erkennen als durch den Blick auf das Weltganze. Diese Räume sind es, die unsere Identitäten bestimmen und bilden, wie hier vielleicht zum ersten Mal am konkreten Oeuvre eines großen Autors des 20. Jahrhunderts gezeigt wird.

[32] 

Positiv ist darüber hinaus, dass das Neue gelegentlich auch von ›Neuen‹ gesagt wird. Neben vertrauten Namen der italienischen und deutschsprachigen Pirandello-Forschung ist mit Christine Ott, Claudio Cicotti und Kai Nonnenmacher die junge Romanistengeneration stark vertreten, was Klinkerts und Rössners Sammelband wohltuend von zahlreichen Publikationen dieses Typs unterscheidet, in denen ausschließlich etablierte Autoren oder eben lauter Newcomer zu Wort kommen. Darin spiegelt sich nicht zuletzt das produktive, zukunftsweisende Wirken des Deutschen Pirandello-Zentrums.

 
 

Anmerkungen

Der Band vereint die Beiträge des gleichnamigen Symposiums des Deutschen Pirandello-Zentrums vom 21. und 22. Oktober 2004 an der Universität Mannheim. Das Werk ist insofern zweisprachig, als das Vorwort auf Deutsch und Italienisch abgedruckt ist; den Beiträgen selbst folgt, je nachdem, ob sie auf Italienisch oder Deutsch abgefasst sind, eine Zusammenfassung in der anderen Sprache.   zurück
Aber auch im Drama, wie aus Klinkerts nachfolgenden Textinterpretationen implizit hervorgeht. Neben dem Roman Il fu Mattia Pascal und den Novellen Risposta und Berecche e la guerra bezieht er nämlich das Stück Come tu mi vuoi in die Untersuchung ein.   zurück
Welch herausragende Bedeutung der Wechsel von Sizilien in die Kapitalen Kontinental-Italiens für die Autoren von der Insel zu Pirandellos Zeit hatte, belegt ein Aufsatz von Wolfgang Sahlfeld aus einem ebenfalls 2006 erschienenen Sammelband. Darin heißt es einführend: »[...] sin dall’unificazione dell’Italia, la Sicilia era progressivamente diventata una periferia culturale del paese e molti erano i letterati siciliani che andavano a cercare fortuna sul continente e in particolare nella capitale Roma.« Wolfgang Sahlfeld: Gli ambienti letterari isolani nella narrativa siciliana: la sciabilità degli intellettuali tra Otto- e Novecento. In: Dagmar Reichardt (Hg.): L’Europa che comincia e finisce: la Sicilia. Approcci transculturali alla letteratura siciliana. Frankfurt/M.: Peter Lang 2006, S. 64–74, hier S. 64.   zurück
Die Erfahrung der Modernität, beginnend mit dem gewaltsamen Anschluss Siziliens an das geeinte und demokratische Italien des Piemonteser Königs Vittorio Emanuele II., wird von der Bevölkerung der Insel als traumatisch wahrgenommen. Dies lässt sich anhand repräsentativer Texte von Verga, Pirandello und Consolo belegen, wie Norma Bouchard in ihrem Aufsatz in Reichards bereits genanntem Sammelband vorführt, vgl. Norma Bouchard: Writing Historical Trauma: Representations of Risorgimento in Verga, Pirandello, Lampedusa, and Consolo. In: Dagmar Reichardt (Anm. 3), S. 75–84.   zurück
Freilich verlangt Hauschilds in der Sammlung Merlins Bibliothek der geheimen Wissenschaften und magischen Künste erschienenes Buch einem in den hergebrachten Leitlinien der textwissenschaftlichen Philologie ausgebildeten Literaturwissenschaftler einiges an Aufgeschlossenheit ab. Das Werk wendet sich expressis verbis gegen alle Wissenschaftler, die sich »etwas zu weit von den alltäglichen und existenziellen Grundlagen menschlichen Handelns entfernt« haben; seine Argumentation ist daher programmatisch eigenwillig und ›unorthodox‹. Thomas Hauschild: Magie und Macht in Italien. Über Frauenzauber, Kirche und Politik. Gifkendorf: Merlin Verlag 2002, S. 23.   zurück