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Europa - kontinentalisch gelesen

  • Paul Michael Lützeler: Kontinentalisierung. Das Europa der Schriftsteller. Bielefeld: Aisthesis 2007. 294 S. Paperback. EUR (D) 24,80.
    ISBN: 978-3-89528-595-0.
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Der Buchtitel rekurriert auf eine diskursive Entwicklung internationaler Kulturdebatten, die aus kulturwissenschaftlicher Sicht in Bereiche wie multicultural und postcolonial studies gemündet hat, welche etwa mit wegweisenden Studien wie Edward Saids Culture and Imperialism 1 oder Homi K. Bhabhas The Location of Culture 2 verbunden waren. Dass damit transkulturelle Phänomene wie Globalisierung und Kontinentalisierung auch ins Zentrum der neueren Philologien gerückt sind, ist nicht nur den Ergebnissen interdisziplinärer Projekte etwa auf dem Gebiet der Fremdheitsforschung 3 zu verdanken, sondern eben auch voraus gegangener Arbeiten des Verfassers 4 , zu denen der vorliegende Band als Beifügung und Ausdehnung verstanden werden soll (S. 22), hier mit Blick auf eine Geschichte des Europa-Diskurses aus literaturwissenschaftlicher Perspektive. Das Europa der Schriftsteller aus dem Untertitel des Buches dürfte für Paul Michael Lützeler in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Forschungsfeld avanciert sein.

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Zu Aufbau und Zielsetzung des Buches

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In seinem einleitenden Vorwort verortet Lützeler das Thema im postmodernen Diskurspluralismus und unterstreicht neben dessen Deskriptionsaspekt jene programmatischen Komponenten, die im Hinblick auf Demokratisierung und Emanzipation argumentieren (S. 9). Versucht wird, die Aktualität eines literarischen Transnationalisierungs- und Globalisierungsdiskurses neben des offenkundigen Bezuges zu populären öffentlichen Diskussionen mit überzeugend philologischer Fokussierung geltend zu machen: Literatur habe immer mit Mikrowelten zu tun, vermöge sie doch, das Partikulare universell und das Universelle partikular erscheinen zu lassen; ein besseres Gegengewicht gegen die Verflachung und Vereinheitlichung einer Zivilisation als das der Literatur sei kaum vorstellbar; sie sei auf eine denkbar umfassende Weise das Gedächtnis der lokalen, regionalen, nationalen oder kontinentalen Kultur, in der sie entstehe (S. 14).

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Der vorliegende Band versammelt neben einem Vor- und Nachwort elf entsprechend ausgerichtete Beiträge, die literarische und essayistische Reflektionen über Europa untersuchen und dabei anwendungsorientierte Einzelstudien zu den jeweiligen Autoren vorschlagen; die Studien werden in der Einleitung emphatisch als »Hoffnung machende Erinnerungen an Europa-Gedanken« (S. 24) klassiert. Dabei gelingt es Lützeler, der Lektüren jenseits methodologischer Moden anbietet, Texte von Schiller bis Hürlimann unter dem Schlagwort ›Europa‹ eng zu führen. Im Ergebnis steht die konzise Darstellung eines »Europas der Dichter« (S. 25), das epochal vom 18. bis 21. Jahrhundert reicht, so dass der Band das Thema in weitreichender literaturgeschichtlicher Spannweite nachzeichnen kann.

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Zu den einzelnen Beiträgen

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Die von Lützeler gelesenen Texte sind größtenteils kanonisch und der jeweiligen Autorphilologie bereits vertraut, doch erweisen sich aus der gewählten Sicht immer wieder neue Erkenntnisse als sinnvoll und möglich:

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Der erste Beitrag betrachtet das Verhältnis dreier Schriftsteller zur Europäischen Union, wie es deren je einschlägigen Texte nahe legen. Während Reinhold Schneider etwa in Winter in Wien (1958) mythisch, historisch und politisch reflektiere (S. 29) und als einer der ersten auf die Gefahr hingewiesen habe, Europa ohne Rücksicht auf das kulturelle Erbe zu bauen sowie bei der Unifikation zu einseitig auf die wirtschaftlichen Kräfte zu setzen (S. 35), weise Hans Magnus Enzensberger in Ach Europa! (1987) auf den kulturellen Reichtum und die Vielfalt der Lebensweisen in jenen Ländern der europäischen Peripherie hin, die noch nicht voll in den Kommerzsog der EU geraten waren (S. 37). In der Verteidigung der europäischen Identität gegen das Überhandnehmen eines Profitdenkens würden Adolf Muschgs Überlegungen in Was ist europäisch? (2005) große Ähnlichkeiten mit denen der beiden Vorgänger aufweisen (S. 41). Was diesen »drei Europa-Essayisten« (S. 47) gemeinsam sei, und was ihren Ausführungen den Charakter des Repräsentativen verleihe, sei die Ablehnung der einseitigen ökonomischen Ausrichtung des Unifikationsprozesses, das Verständnis der Logik des Wirtschaftlichen, die Anerkennung des Vorteils, baue man Zölle ab und liberalisiere den Markt, bei gleichzeitiger Einsicht, dass auf Dauer eine solche Einseitigkeit zum einen auf Standardisierung und Entdifferenzierung, zum anderen auf Grenzenlosigkeit und Globalisierung dränge (ebd.).

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Schiller wird als erster Dichter exemplifiziert, in dessen Werk Europa-Themen zentral behandelt werden; sie sind dann als Suche nach der Bedeutung von Freiheit innerhalb der europäischen Identität und als Problematisierung einer kontinentalen politischen Friedensordnung lesbar (S. 49 f.). Schiller denke allerdings nicht nur über die Eigenart europäischer Kultur und Identität nach, er untersuche auch als Politologe avant la lettre, wie große kontinentale Kriege der Vergangenheit zustande kamen und wie vergleichbare Konflikte in der Zukunft zu vermeiden wären (S. 63). Als politischer Analytiker sei er besonders an der Funktion des europäischen Gleichgewichts als Friedensfaktor interessiert (ebd.).

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Goethe interessiert Lützeler in diesem Zusammenhang vornehmlich anhand dreier Leithypothesen. Sie lauten:

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1. Goethes Europa-Ideen profilieren sich in der Diskussion mit den Romantikern, und seine Vorstellung von europäischer Kultur ist pluralistisch-dialogisch.

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2. Die Europa-Essays der Schriftsteller im 20. Jahrhundert zeigen, wie häufig Goethes Werk in den kontinentalen Krisenzeiten als Beispiel europäischer Kultur zitiert wurde.

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3. Die Akklamation von Goethes Begriff der ›Weltliteratur‹ ist angesichts der Dominanz des Englischen u.a. folgendermaßen zu diskutieren (S. 85):

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Wir haben es im Zeitalter der Globalisierung mit einem neuen Begriff von Weltliteratur zu tun. Goethe hatte eine Art internationaler literarischer Replik vor Augen, in der die vielen Dichtungen in unterschiedlichen Sprachen gleichberechtigt nebeneinander existierten und aufeinander neugierig waren oder sich ignorierten [...]. Die Weltliteratur in der Epoche der Globalisierung ist dominant, kennt keine Gesetze der Gleichberechtigung, ist monolingual, wenn auch keineswegs monokulturell. Dieser multikulturelle Aspekt ist gleichsam die letzte Verbindungsbrücke zwischen dem Goethschen und dem aktuellen Weltliteraturbegriff. (S. 106)
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Lützeler liest außerdem die Texte von drei im Jahr 1802 jungen Autoren (Ernst Moritz Arndt, Johann Gottfried Seume, Samuel Taylor Coleridge) unter dem Aspekt, wie sie die Napoleonische Politik beurteilen – im Mittelpunkt stehen deren Analysen der neuen Regierungsform, der Innen- und der Außenpolitik, in denen alle Argumente aufgezählt würden, »die man gegen die Politik Bonapartes als Erstem Konsul zusammentragen konnte: Despotismus, zu enge Beziehung zum Katholizismus, Reaktion auf dem Gebiet des Rechts, Militarisierung, Expansionsstreben und die geplante Unterwerfung Europas« (S. 120). Ihre Arbeiten seien bedenkenswerte und hellsichtige literarisch-politische Zeugnisse (ebd.).

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Mit Napoleons Kolonialkrieg in Santo Domingo beschäftigt sich ein Beitrag, der vor dieser Folie die Werke Kleists betrachtet, die viel dem Geist der Résistance wie auch dem Geist der Opposition gegen mögliche Fehlentwicklungen des Widerstands verdankten (S. 141).

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Mit dem Beitrag zu Conrad Ferdinand Meyers Jürg Jenatsch (1876) arbeitet Lützeler weiter am Thema eines europäischen ›Grundkonflikts‹. Die Hauptfigur des Romans verkörpert für ihn das außenpolitische Ideal der schweizerischen Eidgenossenschaft (nämlich die Behauptung der staatlichen Souveränität gegenüber den Großmächten Deutschland und Frankreich); zudem sei Jenatsch ein Held, dessen Taten bis zu einem gewissen Grad an den Wilhelm Tellschen Gründungsmythos der Schweiz erinnerten (S. 145) – und damit auch an einen Gründungsmythos Europas. Bei feiner Austarierung der Determinations- und Spantaneitäts-Gewichte habe C.F. Meyer die Möglichkeiten und Grenzen unterschiedlicher Individuen im Netzwerk strukturell-prozesshafter geschichtlicher Gegebenheiten und Zwänge gezeigt (S. 161).

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Aus Romain Rollands Jean-Christophe (1904–12) entwickelt Lützeler die Konzeption eines Europa-Romans, d.h. eines dialogisch strukturierten Romans, aus dem Vorstellungen über europäische Identität hervorgehen (S. 166f.).

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Zeit- und diskursgeschichtlich wird Thomas Manns Zauberberg gedeutet, in dem das Charakteristische, Bezeichnende und Typische der Epoche der Gegenwart herausgearbeitet werden kann (S. 187). Im Roman sei die in der Zwischenkriegszeit aktuelle Europa-Idee bzw. das kulturelle Verhältnis zwischen Europa und Asien ein Diskussionsgegenstand (S. 188). Krise, Niedergang, Krankheit und Tod werden als jene Phänomene der europäischen Kultur eruiert, für die Thomas Mann mit dem Bild des Sanatoriums eine einprägsame dichterische Metapher gefunden habe (S. 189).

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Hermann Brochs Kritik an Ernst Jüngers Der Friede ist ein Beitrag gewidmet, der unterstreicht, wie Broch sich aus ideologischen Streitereien heraus hielt, dass es ihm um die Beschreibung eines europäischen Machtmechanismus und dessen Veränderung im 20. Jahrhundert ging (S. 222). Weder finden sich bei ihm begeisternde Äußerungen über den Heroismus der Soldaten wie bei Jünger, noch wird von ihm die Heilkraft der Kirche und ihrer Theologie als Vademekum beim Aufbruch in die europäische Zukunft gepriesen (S. 222 f.).

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Angelehnt an Jan Assmanns Theorie eines ›kulturellen Gedächtnisses‹ 5 wendet sich Lützeler Paris und Wien als kulturellen »Speicherzentren« (S. 224) zu. Von dort waren bekanntlich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder intellektuelle Impulse zur europäischen Kooperation ausgegangen (S. 225); es handelt sich um Orte, an denen wegweisende Schriften zur Zukunft Europas und zur Einheit des Kontinents entstanden sind (ebd.). Lützeler spricht daher von einer »Verflechtungsfigur« des Europa-Diskurses, denn »Paris und Wien verhielten sich wie zwei Gesprächspartner, deren Meinungen unentwirrbar ineinander verwickelt bzw. dialogisch aufeinander bezogen blieben.« (S. 225 f.) Die Austauschprozesse zwischen beiden Monopolen seien Teil eines umfassenden Kulturtransfers, und Paris und Wien Erinnerungsorte besonderer Art (S. 226).

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Deutlich wird, dass der Europa-Diskurs seine Entwicklung hat und Teil ist eines gesamteuropäischen Emanzipationsprozesses. Zur Vision des pazifizierten Kontinents gehört für Lützeler die Liberalisierung in allen Bereichen der Kultur mit den Zielen der Freiheit in Religion, Wirtschaft, Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft; diese Forderung nach einer libertären Verfassung des Kontinents sei die Summe des Europa-Diskurses (S. 243) – eine hehre Meinung, die in dem vorliegenden Band zwar vereinzelt, doch in der Summe vielfältig aufgefächert wird.

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Zum Abschluss kommt Lützeler auf die aktuelle postkoloniale Europa-Diskussion zu sprechen, die er unter Rückgriff auf Europa-Essays zeitgenössischer Autoren (namentlich Thomas Hürlimann, Walter Jens, Ralf Hochhuth, Peter Sloterdijk, Yoko Tawada, Barbara Frischmuth, Karl-Markus Gauß und Adolf Muschg) festmacht und für diese eine stetige Präsens des Themas ›Europa‹ feststellt (S. 273).

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Fazit

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Wenn am Ende im Nachwort des Bandes die amerikanisch-europäischen Differenzen zu Wort kommen, dann ist dies vielleicht Lützelers biographischem Hintergrund geschuldet, ganz sicher aber seiner Überzeugung, dass Amerika und Europa nur durch die Verflechtung ihrer Kulturen das geworden sind, was sie heute sind, und bei einer historisch-kulturellen Rekonstruktionsarbeit, die deren Interdependenzen und Interrelationen offen legt, »gemeinsame kulturelle Grundlagen« (S. 280) zu Tage treten und dass sich bei der Arbeit am Diskurs einer atlantischen Identität bald zeigen wird, wie sehr der American und der European Dream einander ähneln (ebd.). Deren tertium comparationis ist in der Tat der Atlantic Dream,

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der die Voraussetzung einer neuen Atlantic Community oder gar einer Atlantic Union abgeben könnte – als Allianz befreundeter politischer Mächte, als eine Säule globaler Friedensordnung und nicht als hegemonialer Superstaat, nicht als Schrecken für den Rest der Welt. (ebd.)
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Welchen Nutzen die Literatur für ein solch ehrgeiziges Projekt haben kann, führt Lützeler mit seinen gewohnt brillant formulierten Lektüren vor Augen, wenngleich diese nicht vollkommen frei sind von tendenziell politischen Aussagen (s.o.). Damit soll aber weder über dem Konzept eines ›Europas der Schriftsteller‹ noch über Lützelers Buch ein Stab gebrochen werden. Im Gegenteil: Der literaturgeschichtlich offene und analytisch profunde Band ermuntert gerade dazu, auf dem Fundament fiktionaler Texte über ein real-politisches Europa nachzudenken; er kann damit neben anderen einschlägigen Studien 6 als empfehlenswertes Überblickswerk gelten. Der Band führt anhand wohlbegründeter Exempel und insgesamt überzeugend Erzählungen und Diskussionen von Europa vor, ohne dass ein konkreter Wirklichkeitsbezug zu kurz käme. Europas ›Kontinentalisierung‹ ist ohnehin schon lange nicht mehr eine allein literarische Phantasie.

 
 

Anmerkungen

Edward Said: Culture and Imperialism. New York: Knopf 1993.   zurück
Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London/New York: Routledge 1994.   zurück
Vgl. u.a. Karl Hölz, Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Herbert Uerlings (Hrsg.): Beschreiben und Erfinden. Figuren des Fremden vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2000 (Trierer Studien zur Literatur; Bd. 34).   zurück
Paul Michael Lützeler: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. München: Piper 1992; ders.: Europäische Identität und Multikultur. Fallstudien zur deutschsprachigen Literatur seit der Romantik. Tübingen: Stauffenburg 1997. S. auch ders. (Hrsg.): Europa. Analysen und Visionen der Romantiker. Frankfurt/M.: Insel 1982; (Hrsg.): Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger. Frankfurt/M.: S. Fischer 1994; ders. (Hrsg.): Europe after Maastricht. American and European Perspectives. New York: Berghahn 1994.   zurück
Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck 2000.   zurück
Vgl. u.a. Claude D. Conter: Jenseits der Nation – das vergessene Europa des 19. Jahrhundert. Inszenierungen und Visionen Europas in Literatur, Geschichte und Europa. Bielefeld: Aisthesis 2004; Wulf Segebrecht (Hrsg.): Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart. Frankfurt am Main: Peter Lang 2003.   zurück