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Helmuth Plessner und seine Biografen

Ein Vergleich der bisher erschienen Studien über
Leben und Werk des Wissenschaftlers

  • Christoph Dejung: Plessner. Ein deutscher Philosoph zwischen Kaiserreich und Bonner Republik. Zürich: rüffer&rub 2003. 644 S. Gebunden. EUR (D) 31,10.
    ISBN: 978-3-907625-11-8.
  • Carola Dietze: Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892-1985. Göttingen: Wallstein 2006. 622 S. Gebunden. EUR (D) 45,00.
    ISBN: 3-8353-0078-4.
  • Kersten Schüßler: Helmuth Plessner. Eine intellektuelle Biographie. Berlin u.a.: Philo 2000 [vergriffen]. 298 S. Kartoniert.
    ISBN: 3-8257-0188-3.
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Carola Dietzes Buch stellt die neueste von insgesamt drei Biografien Helmuth Plessners dar, die alle innerhalb der letzen sechs Jahre erschienen sind. Das bietet die Möglichkeit, eine erste kleine Bilanz zu ziehen und den Fragen nachzugehen, inwieweit sich diese Arbeiten in Erkenntnisinteresse, Aufbau und Inhalt sowie wissenschaftlichem Anspruch voneinander unterscheiden.

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Standpunkte und Erkenntnisinteresse

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»Es hat meinen Schülern nicht geschadet, daß ich Soziologie als Philosoph betrieb«, resümierte Plessner 1965 1 . Führt man sich nicht nur diese private Äußerung des langjährigen Göttinger Ordinarius, sondern beispielsweise auch die Etappen zur Konstitution seiner philosophischen Anthropologie vor Augen, die er in seinem Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch darstellte 2 , klingt wiederum an, was für Leben und Werk Plessners charakteristisch ist und Carola Dietze – wenn auch in anderem Zusammenhang – in folgender Bemerkung zum Ausdruck bringt: »Einfache und eindeutige Zugehörigkeit war Plessner von früh an in wichtigen Fragen der Identität verwehrt« (S. 527). Er ist ein Grenzgänger zwischen vermeintlich gegensätzlichen Bereichen, dem nicht nur die Geisteswissenschaften, sondern auch die Naturwissenschaften nahe standen, der innerhalb einer Einzelwissenschaft arbeiten konnte, ohne dabei aufzuhören, interdisziplinär wirken zu wollen. Diese wenigen Sätze mögen genügen, um einen Eindruck davon zu geben, aus wie vielen unterschiedlichen Perspektiven sich ein Biograf dem ehemaligen Husserl-Schüler nähern kann.

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Kersten Schüßler

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Schüßler, der mit seiner im Jahre 2000 erschienen Dissertation den ersten Versuch einer Plessner-Biografie unternahm, untersucht dieses Grenzgängertum, indem er die politischen Aspekte des Werkes aus deren philosophischen Wurzeln heraus entwickelt. Zentrale These dabei ist, dass eines der wichtigsten Motive aus der philosophischen Anthropologie, der Verschränkungsgedanke (dort von Geist und Körper) auch in einer Deutung der deutschen Geschichte wieder zu finden sei (S. 8). Der Verfasser entscheidet sich, diese Gedanken in Form einer Biografie auszuarbeiten, davon ausgehend, dass Plessners Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte maßgeblich von seiner persönlichen Sicht auf die Verhältnisse in der Weimarer Republik sowie den Erfahrungen, die er als Halbjude nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland und später im holländischen Exil machen musste, evoziert und geprägt wurden. Insofern ist, so Schüßler, »Plessners Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte […] auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst und mit den verlorenen Weggefährten der zwanziger Jahre« (S. 8).

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Christoph Dejung

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Deutlich weniger klar ist dagegen das Erkenntnisinteresse dieser Studie. Die beiden einleitenden Kapitel geben zwar viele Gründe an, warum eine Beschäftigung mit Plessner auch heute noch lohnenswert ist und verorten dessen Geburtsstunde im historisch-politischen Kontext, lassen den Leser aber bei der Frage nach dem Zweck dieser Arbeit weitestgehend im Dunkeln. Dejung betont zwar, dass sein Buch neue Erkenntnisse über das Denken des niederländischen Exilanten vermittle (»Zu diesem Buch«, S. 1), indem es »das Leben aus den Werken und die Werke aus dem Leben heraus zu verstehen« (S. 25) versuche – in welchen Bereichen besagte Erkenntnisse anzusiedeln und inwiefern diese neu sind, wird allerdings nicht erwähnt. So bleibt dem Leser, der sich bereits vor der Lektüre dieses Buches etwas mit dem Wissenschaftler beschäftigt hat, nichts anderes übrig, als anzunehmen, dass es sich dabei wohl hauptsächlich um die Darstellung von »Plessners Archetypen« (S. 25) handeln müsse, auf die Dejung wenige Zeilen zuvor mittels verschiedener Metaphern einen ersten Vorgeschmack gibt (s.u.).

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Carola Dietze

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Während Schüßler und Dejung sich Plessner von der philosophischen Warte aus nähern, entscheidet sich Dietze für einen sozio-historischen Zugang. Die wechselseitigen Bezüge zwischen Leben und Werk werden bei ihr vor dem Hintergrund bestimmter Fragen aus der Emigrations- und Remigrationsforschung vorgenommen. Sie verknüpft also eine lebensgeschichtliche Untersuchung mit generalisierbaren Fragestellungen (S. 20). Es geht ihr vor allen Dingen darum, am Beispiel von Plessners Lebensschicksal exemplarisch »die Chancen und Grenzen eines Wissenschaftsexils in einem europäischen Land, das von Deutschen besetzt wurde« zu eruieren und die Voraussetzungen einer Rückkehr nach Deutschland an eine deutsche Universität auf seiten des Emigranten und auf seiten der Hochschule zu beleuchten sowie zu untersuchen, wie Emigrant und in Deutschland gebliebene Kollegen und Studenten aufeinander reagierten (S. 10). Zur weiteren Überprüfung der anhand von Plessner gewonnenen Erkenntnisse dienen Vergleiche mit anderen Emigranten oder Remigranten beziehungsweise die »Analyse einzelner Positionen, Handlungen oder Entscheidungen auf die Ihnen zugrunde liegenden Strukturen und Interessen hin« (S. 20).

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Aufbau und Inhalt

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Kersten Schüßler

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Gemäß seiner Fragestellung stellt Schüßlers Buch in erster Linie eine Werkbiographie dar, die den Lebenshintergrund nur dann einbindet, wenn dieser dem Erkenntnisinteresse unmittelbar dienlich ist. So kommt es, dass er zwar seinen inhaltlichen Schwerpunkt auf die »spannungsreichen Dekaden bis 1945« (S. 9), also die erste Lebenshälfte Plessners legt, aber trotzdem nur wenige Sätze über dessen Kindheit, Jugend und Familie verliert. Sein Augenmerk liegt speziell auf der Darstellung der unterschiedlichen Beziehungen Plessners zu seinen Lehrern, Kollegen und Freunden an den verschiedenen Universitäten und seine Auseinandersetzung mit ihren Forschungsstandpunkten.

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In der Regel findet sich vor jedem übergeordneten Kapitel ein einleitender Abriss der historischen Verhältnisse, dem dann in den folgenden Unterkapiteln Plessners zum Teil berufliche, zum Teil private oder wissenschaftliche Reaktionen folgen.

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Durch Analysen, Auswertungen und Gegenüberstellungen von verschiedenen politischen und philosophischen Werken einerseits 3 , aber auch durch Kontrastierung beispielsweise der Stufen mit Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos undHeideggers Sein und Zeit andererseits (S. 75–99) gelingt dem Autor eine solide Darstellung der Entwicklung der politischen Leitgedanken Plessners bis zu dessen Abhandlung Das Schicksal deutschen Geistes, in der dieser den Ursachen für die Machtergreifung Hitlers auf den Grund zu gehen sucht. Entsprechend Schüßlers Schwerpunktsetzung fallen die letzten beiden Kapitel über Exil und Rückkehr des Wissenschaftlers nach Deutschland sehr knapp aus, so dass die darin enthaltenen Informationen allenfalls dazu geeignet sind, sich einen ersten Überblick über Plessners politische Sicht und seine Deutschlandvorstellungen zu verschaffen.

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Festzustellen ist, dass Schüßler seinem eigenen Anspruch insofern gerecht wird, als dass es ihm konstant gelingt, die politischen und philosophischen Gedanken des geborenen Wiesbadeners sich gegenseitig erhellen zu lassen. Zu Plessners politischem Verständnis zu Beginn der Weimarer Republik heißt es zum Beispiel auf Seite 45:

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Wenn Plessner nun den tieferen Zusammenhang von Zivilisation und Kultur in der Struktur des menschlichen Lebens aufdecken will, bringt er insgeheim ›Masse‹ und ›Elite‹ in ein neues Verhältnis. Dies ist der politische Aspekt, der mit dem wissenschaftlichen subtil ineinander greift.
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Christoph Dejung

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Zwar befasst sich auch Christoph Dejung vornehmlich mit dem »frühen« Plessner, beleuchtet dabei aber hauptsächlich die Genese seiner philosophischen Ideen. Im Gegensatz zu Schüßler ist dabei das Verhältnis von Werkinterpretation und Lebensdarstellung recht ausgewogen; die jeweils ungeraden Kapitel verfolgen das Lebensschicksal, die geraden enthalten Werkinterpretationen 4 . Dabei fällt generell auf, dass die Informationen zum Göttinger Ordinarius umfangreich kontextualisiert sind. So halten in die »ungeraden« Kapitel neben Abrissen zur Stadtgeschichte verschiedener Wirkungsstätten Plessners oder religionsgeschichtlichen Bemerkungen beispielsweise zur Ausprägung des Protestantismus in Wiesbaden (S. 32 ff) auch immer wieder philosophiehistorische (S. 555) oder literarische (S. 414) Querverweise Einzug. Diese zusätzlichen Informationen helfen sicherlich dabei, das Leben Plessners lebendig und anschaulich zu machen, sind aber zum Teil sehr assoziativ in den Text eingebunden, was bisweilen den »roten Faden« doch sehr verdeckt. Es lässt sich außerdem bei so manchem »Link« fragen, ob er tatsächlich in dieser Ausführlichkeit vonnöten ist.

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Das gleiche Prinzip verfolgt Dejung auch bei seinen Werkinterpretationen. Diese zeichnen sich zwar durch zielsicher gewählte Zitate Plessnerscher Primärtexte aus, finden sich aber wiederum mit den unterschiedlichsten Gedanken verknüpft. So fließen zum Beispiel in seine Erläuterungen bezüglich der Stufen Reflexionen über die Politik in den europäischen Ländern nach dem ersten Weltkrieg ein, gespickt mit Zitaten aus Louis Guilloux’ Roman Schwarzes Blut (S. 273 f) oder des Theologen Paul Tillich (S. 274), finden sich Ausführungen über die Geschichte des Atheismus seit Sokrates (S. 275 ff) oder Bemerkungen über die Bedeutung des philosophischen Gehaltes von Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (S. 295). Auch hier folgt man zuweilen interessiert den Querverweisen des Autors, ohne sich aber über deren Notwendigkeit immer im Klaren zu sein.

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Carola Dietze

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Geleitet von Fragen aus der Emigrations- und Remigrationsforschung betrachtet Dietze im Unterschied zu Schüßler und Dejung vornehmlich die zweite Lebenshälfte Plessners ab 1933. Wie auch Schüßler setzt sie bei der Gewichtung von Leben und Werk klare Prioritäten. Nachvollzüge bestimmter Texte werden nur dann vorgenommen, wenn sie dem Erkenntnisinteresse dienen und sind daher meist sehr kurz, wenn auch prägnant und verständlich gehalten. Ausführlichere Erwähnungen finden seine wichtigsten Arbeiten aus der Weimarer Zeit (Die Einheit der Sinne, Die Grenzen der Gemeinschaft, Macht und menschliche Natur, Die Stufen des Organischen und der Mensch), welche dazu dienen, Plessners intellektuelle Position in der Weimarer Republik und deren berufliche sowie gesellschaftliche Konsequenzen zu entwickeln. Nach 1933 liegt das Augenmerk Dietzes verstärkt auf Schriften, die dessen Sicht auf Deutschland und sein Exilland Holland verdeutlichen. Dazu gehört natürlich seine Studie Das Schicksal deutschen Geistes, vor allem aber auch seine verschiedenen Antrittsreden, weiterhin Aufsätze und Vorträge.

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Für eine historische Biographie, so reflektiert die Autorin über ihre Arbeit, sei eine möglichst dichte Überlieferung persönlicher Quellen notwendige Voraussetzung (S. 21). Entsprechend umfang- und detailreich stellen sich ihre Ausführungen zu Plessners Leben dar. Zusammenfassungen komplexer Sachverhalte (S. 356), Rückblicke (S. 312), Vorwegnahmen (S. 111), Überblicke (S. 34) oder kurz gehaltene, sachlich begründete Hintergrundinformationen strukturieren nicht nur den Text und verhindern Redundanzen, sondern beweisen auch, wie sicher sich die Verfasserin in der Fülle des Materials bewegt und wie genau sie dieses studiert und ausgewertet hat.

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Wissenschaftlicher Anspruch

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Kersten Schüßler

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Seine Dissertation stützt sich hauptsächlich auf Primär- und Sekundärwerke sowie einige wenige Archivalien, wobei neben den bekannten Arbeiten Plessners auch einige bisher weniger beachtete Aufsätze, Vorträge, Zeitungsartikel und Briefe einbezogen werden. Darunter finden sich auch manche zum Teil bis heute unveröffentlicht gebliebenen Texte. Auffallend bei seiner Erarbeitung der Primärwerke ist dabei, dass eine Auseinandersetzung mit entsprechender Sekundärliteratur manchmal zu kurz kommt. Zusammen mit seinen an sich lobenswerten Bemühungen, bei der Erstellung seiner Studie möglichst viel Material einzubeziehen, hat dies zur Folge, dass einige Interpretationen recht knapp geraten und die Tragweite der besprochenen Werke für das politische Selbstverständnis Plessners damit nicht immer ausreichend erfasst werden kann. So geht der Verfasser zum Beispiel nur verkürzt auf die Stufen ein, in der die körperlich-geistige Einheit des Menschen aus seiner biologischen Konstitution heraus erarbeitet und der Mensch in und durch seine exzentrische Positionierung nicht nur zum Wissenden um diese Konstitution gemacht, sondern auch zum würdevollen, das heißt dieser Konstitution gemäßen Leben angehalten wird. Der von Schüßler zu recht für das politische Verständnis als wichtig erachtete Verschränkungsgedanke wird in den Stufen von Grund auf entwickelt, was eine intensive Erörterung daher besonders wichtig gemacht hätte. Zudem unterschätzt er die Bedeutung der philosophischen Anthropologie, wenn er kritisiert, Plessner habe neben den politisch-anthropologischen Argumenten gegen eine ideologische Diktatur für die Verteidigung der Demokratie allenfalls soziologische Argumente (S.1 23). Abgesehen davon, dass man sich fragen kann, warum eigentlich die soziologischen Argumente weniger schlagkräftig sein sollen als die politisch-anthropologischen, verwundert es, dass gerade im Hinblick auf die Stufen und auch unter Einbeziehung der Grenzen der Gemeinschaft, politisch-anthropologische Argumente nicht ausreichen sollen. Denn was für ein Argument könnte wirkungsvoller sein als der Mensch selbst, dessen Konstitution jegliche Ideologie als vereinseitigend und damit menschenunwürdig bloßstellt?

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Trotz allem zeigt sich Schüßlers Darstellung durchaus problembewusst: So zeigt er zum Beispiel, wie Plessner – geleitet von der Verantwortung und den Möglichkeiten, die sich dem Menschen aufgrund seiner ortlosen, im nichts stehenden Position ergeben – den wirtschaftlichen und politischen Niedergang Deutschlands in Richtung Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht in dieser Deutlichkeit wahrnimmt, sondern noch 1932 »den Traum vom unergründlichen ›Land der Mitte‹« träumt […], »das im Zusammenwirken seiner wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Möglichkeiten in einer politisch offenen Form durch die gesellschaftliche Bewältigung der weltweiten Modernisierungskrise ein ›Geschichtszeichen‹ setzen könnte« (S. 123).

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Christoph Dejung

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Die bildhafte Sprache, mit der im ersten Kapitel der Verlauf des Rheins geschildert wird und Ausflüge in Geschichte und Theologie stattfinden, dazu dienend, das Flair von Plessners Geburtsstadt Wiesbaden zum Zeitpunkt seiner Geburt lebendig werden zu lassen, erwecken den Eindruck, dass diese Arbeit eher als Lesebuch denn als wissenschaftlich fundierte Studie über Leben und Werk zu verstehen ist. Bestätigt wird dieser Eindruck beim Betrachten des Anhangs. Neben einem kurzen Überblick über die im Text erwähnten Universitätsstädte, in denen der niederländische Exilant studierte, seine Lebensstationen, seine Lehrer und Weggefährten sowie den Stationen seiner universitären Karriere findet sich auch ein Glossar, das dazu dient, »einerseits die in der Lebenszeit Plessners geläufigsten Erklärungen [für die darin aufgelisteten Fachbegriffe] zu geben, andererseits den Plessner eigenen Wortgebrauch zu benennen« (S. 570). Woher diese Informationen stammen, wird dabei allerdings nicht geklärt. Ebenfalls vergeblich sucht man ein Literaturverzeichnis. Zwar gibt es eine Auflistung über die im Buch erwähnten Primärtexte, Hinweise auf die verwendete Sekundärliteratur muss sich der Leser aber mühselig aus den entsprechenden Fußnoten zusammenstellen. Sehr problematisch ist auch die insgesamt äußerst dürftige Quellenlage. Ein besonders signifikantes Beispiel hierfür ist Dejungs Untersuchung der Plessnerschen Archetypen in Kapitel 2, dem, wie bereits erwähnt, eigentlichen Novum dieser Biografie. Hier konstatiert Dejung, dass sich das Leben des Doktorensohns in vier literarischen beziehungsweise musikalischen Charakteren widerspiegele, nämlich im Prinzen Klaus Heinrich aus Thomas Manns Roman Königliche Hoheit, im Walther Stolzing aus Wagners Die Meistersinger von Nürnberg, Quinquin aus Strauss’ Der Rosenkavalier und im Hauptmann von Köpenick Carl Zuckmayers (S. 24). Wenn nun Dejung im Falle der Verbindung des Göttinger Ordinarius zu Thomas Manns Königliche Hoheit, die auf einer Analogie der Behinderungen von diesem – er hatte Schwierigkeiten mit seinem rechten Arm – und dem Prinz Klaus Heinrich basiert, konstatiert, dass ihm keine Reflexion Plessners auf diesen Roman bekannt sei (Anm. 69), muss sich der Verdacht aufdrängen, dass die 5‑seitigen Ausführungen allein die persönliche Sichtweise des Verfassers repräsentieren. Nicht anders ergeht es dem Leser bei Dejungs Ausführungen über die Verbindung zwischen Walther Stolzing und Plessner. Die darin enthaltenen Behauptungen bleiben ohne Nachweis und lassen das Erstaunen darüber wachsen, wie konstant der Autor seine Autorität als Biograf untergräbt. Als man weiterhin nach einigen interpretatorischen Ausführungen über Zuckmayer ohne jegliche Angabe von Gründen in einem Fußnotenvermerk zur Kenntnis nehmen muss: »So muss das Meisterwerk Zuckmayers verstanden werden« (Anm. 97), geht das Erstaunen des Lesers in verständnisloses Kopfschütteln über.

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Qualitativ ähnliche persönliche Einschätzungen, Vermutungen und leider auch so manches Pauschalurteil, so mancher Gemeinplatz ziehen sich durch das gesamte Buch. So erfährt man unter anderem, warum Plessners Gesuch, in den Militärdienst zu treten, abgelehnt wurde 5 , darf Dejungs Spekulationen folgen, die er bezüglich Plessners Publikation einiger medizinischer Aufsätze während seiner Habilitationszeit anstellte 6 , lernt, dass Köln nicht Berlin ist (S. 140) und die Neuerrichtung einer Wissenschaft im Fundament anfangen muss, denn darauf ist alles gebaut (S. 154).

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Carola Dietze

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Ein Blick auf Quellen und Literatur lohnt nicht nur bei Dejung, sondern auch bei Dietze, hier allerdings im positiven Sinn: Dank ihrer Sichtung von bisher unveröffentlichtem Archivmaterial, Texten und Korrespondenzen Plessners, aufgrund des Hinzuziehens von Aktenbeständen der Kultus- und Wissenschaftsministerien in Deutschland und den Niederlanden und von Hochschulverwaltungen der Universitäten Köln, Groningen, Hamburg und Göttingen sowie deren Fakultäts- und Senatsprotokollen und nicht zuletzt dank ihrer zahlreichen Interviews, mit Hilfe derer sie sich dem Wissenschaftler von seiten Bekannter, Studenten, enger Freunde und seiner Ehefrau nähert, liefert Dietze die bisher umfangreichste Materialsammlung zu Leben und Werk. Der ihrer Arbeit vorangestellte Forschungsüberblick, den weder Schüßler noch Dejung anzubieten haben, zeigt darüber hinaus, wie intensiv sich die Autorin auch mit der Sekundärliteratur zu Plessner beschäftigt hat. Die Detailtreue der Verfasserin, ihre Fähigkeit zur pointierten Darstellung und Auswertung des Materials führen zu einer kritischen, problembewussten und glaubhaften Studie von Plessners Grenzgängertum, auch was sein Verhältnis zu und sein Verständnis von den Einzelwissenschaften Soziologie, Philosophie und Politik anbelangt. Beispielsweise gelingt es der Verfasserin, Schüßlers These, der Göttinger Ordinarius habe auch am Ende der Weimarer Republik die Zeichen der Zeit nicht erkannt (s.o.), anhand eines Interviews mit seinem Schüler Rudolf von Thadden zu ergänzen und zu vertiefen, der berichtete, Plessners Wahl von Hindenburg 1932 beruhe auf deutschnationalen, wenn auch nicht nationalsozialistischen Motiven (S. 397).

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Sehr intensiv widmet sie sich weiterhin dem Bestreben Plessners, an den verschiedenen deutschen und holländischen Universitäten Fuß zu fassen. Der Leser erfährt die zahlreichen politischen, fakultätsinternen und persönlichen Gründe einzelner Personen, Plessner nicht oder doch auf die ersten drei Plätze zu wählen, ihn zu berufen oder seine Berufung abzulehnen. Damit präsentiert Dietze neben dem Personenportrait auch einen präzisen Ein- und Überblick in ein Stück deutscher und niederländischer Universitätsgeschichte.

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Höhepunkt des Buches aus Sicht der (R-)Emigrationsforschung ist die ca.100‑seitige Auseinandersetzung mit der These Hermann Lübbes über den gegenseitigen Umgang von Remigrant und »daheim gebliebenen« Universitätskollegen in Form ›nicht-symmetrischer Diskretion‹ (S. 383–481). Dabei geht es ihr insbesondere darum, die Beweggründe und Kontexte dieser ›Diskretion‹ neu abzustecken und damit Lübbes These zu relativieren, was ihr überzeugend gelingt.

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Fazit

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Kersten Schüßler

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Schüßlers ideengeschichtliche Studie liefert einen verständlichen, wenn auch teilweise etwas spröden Überblick über die Entwicklung der politischen Vorstellungen Plessners, die ihre Stärken in gut gelungenen Rückbezügen zwischen philosophischen und politischen Werken besitzt. Man hätte sie allerdings durch intensivere Betrachtung und Auseinandersetzung mit einigen Primärwerken sowie stärkeren Einbezug von biografischen Aspekten noch fundierter und problembewusster gestalten können.

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Christoph Dejung

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Dejungs assoziationsreiche und anschauliche Arbeit zu Ehren seines ehemaligen Professors vermittelt in vielen Fällen seine persönliche Sicht auf Leben und Werk Plessners, die sicherlich nicht falsch sein mag, aber für den Leser oftmals nicht nachprüfbar ist. Sie kann dazu dienen, sich einen ersten Eindruck von Plessner zu verschaffen, ist aber als Grundlage für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung nicht geeignet.

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Carola Dietze

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Die Autorin vermittelt durch die umfangreichen, vielfältigen und sehr gut aufgearbeiteten Materialien zu Plessners Leben und Werk nicht nur ein präzises und lebendiges Portrait des Wissenschaftlers, sondern auch neue Erkenntnisse im Bereich der (R-)Emigrationsforschung und neue Sichtweisen auf den Grenzgänger Plessner und ist daher für dieses Buch verdient mit dem Hedwig-Hintze-Preis des Verbandes der Historikerinnen und Historiker ausgezeichnet worden.

 
 

Anmerkungen

Helmuth Plessner: Die ersten zehn Jahre Soziologie in Göttingen. In: Salvatore Giammusso / Hans-Ulrich Lessing: Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge. München: Fink 2001, S. 325–333, hier S. 333.    zurück
»Grundlegung der Geisteswissenschaften durch Hermeneutik, Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie, Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte; und ein wesentliches Mittel (nicht das einzige), auf ihm weiterzukommen, ist die phänomenologische Deskription« (Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin: Walter de Gruyter 1965, S. 30).   zurück
Besonders: Die wissenschaftliche Idee, Vom abendländischen Kulturbegriff, Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang, Zur Geschichtsphilosophie der bildenden Kunst seit Renaissance und Reformation, Die Einheit der Sinne, Die Grenzen der Gemeinschaft, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Macht und menschliche Natur, Die verspätete Nation, Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie, Zur Lage der deutschen Philosophie, Der Krieg gegen den totalen Staat, Über das gegenwärtige Verhältnis von Krieg und Frieden.   zurück
Besondere Beachtung finden dabei die Schriften Die wissenschaftliche Idee. Ein Versuch über ihre Form, Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang, Untersuchungen zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft, Die Einheit der Sinne, Die Grenzen der Gemeinschaft, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der historischen Weltansicht, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Die verspätete Nation. Über die Verführbarkeit bürgerlichen Geistes.   zurück
»Weil alle, selbst der letzte körperlich behinderte Intellektuelle des Landes, vor Langemarck ihr Leben wegschmeißen wollten, konnten die Aushebungsoffiziere wählerisch sein.« (S. 104)   zurück
»Das kann bedeuten, daß er seinem Vater noch mehr zu verdanken hatte, indem ihm dieser wieder eine Tür geöffnet hatte; es kann ebenso heißen, daß er einfach anbot, was er konnte, oder annahm, wenn ihn irgend jemand anfragte. Gut möglich, daß er dem Vater zu gefallen versuchte, und leicht möglich, daß er ihm tatsächlich gefiel.« (S. 135)   zurück