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Die Anfänge der Novelle

  • Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau - Märe - Novelle. Tübingen: Max Niemeyer 2006. VII, 387 S. Kartoniert. EUR (D) 46,00.
    ISBN: 978-3-484-64029-0.
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Klaus Grubmüller, Altgermanist und Fabelforscher, ist unter anderem bekannt als Autor zahlreicher Beiträge zur mittelalterlichen Novellistik. Die vorliegende Untersuchung stellt einen erstmaligen Versuch dar, die europäische Novellistik des Mittelalters (und der frühen Neuzeit) in ihrer historischen Entfaltung darzustellen. Der historisch-komparatistische Zugang erlaubt es, die Beschränkung auf eine Volksliteratur aufzugeben und Zusammenhänge über Sprachgrenzen hinweg sichtbar zu machen.

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Gattung und Gattungsgeschichte

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Die deutsche Kurzerzählung, das ›Märe‹, ist seit seiner Definition durch Hanns Fischer (Studien zur deutschen Märendichtung, 1968) als Gattung in der Forschung umstritten. In der vorliegenden Untersuchung vertritt Grubmüller ein historisches Gattungsverständnis, das es erlaubt, die Gattungsfrage aus einer neuen Perspektive zu betrachten:

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Gattungen [nicht nur die mittelalterlichen] sind durch Traditionen zusammengebundene Textreihen, nicht klassifikatorisch erfaßbare Systeme. Die einzelnen Exemplare der Reihe beziehen sich in Auseinandersetzung und Variation aufeinander; deshalb ist die Ausnahme die Regel. (S. 33 f.)
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Aus diesem Gattungsverständnis begründet sich auch Grubmüllers Vorhaben: Da Gattungen »stets nur im Wandel beobachtet werden können«, hat Gattungspoetik »nur als Gattungsgeschichte Sinn« (S. 16).

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Gemäß seiner erklärten Absicht schreibt Grubmüller eine Gattungsgeschichte, die »von Werk zu Werk voranschreitet« (S. 11) und bei der »die literarische Verfasstheit des Textes« (S. 10) sowie seine Beziehungen zu anderen Texten im Mittelpunkt stehen. Im Zentrum der Darstellung steht das Märe. Weiter werden v.a. solche Texte und »Textreihen« betrachtet, die für die Geschichte des Märe von Bedeutung sind: im Französischen das Fabliau, im Italienischen die frühen Prosaerzählungen, v.a. aber Boccaccios Decameron; im Englischen Chaucers Canterbury Tales, und schließlich die von Boccaccios Vorbild beeinflussten italienischen und französischen Prosaerzählungen. Die mittelniederländische boerde und spanischen Kurzerzählungen werden (aus je verschiedenen Gründen; S. 19) nicht behandelt; weitere europäische Literaturen kommen gar nicht in Betracht. Etwas überraschend und ohne Begründung bleiben auch die lateinischen Erzählformen außerhalb der Darstellung, obgleich der Autor die Vorbildfunktion des Exemplums für die volkssprachlichen Erzählungen ausdrücklich betont (S. 19).

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Das Fabliau

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Am Anfang der Gattungsgeschichte steht das Fabliau. Die Entstehung des Fabliau als neuen Erzähltypus verbindet Grubmüller mit dem Oeuvre Jean Bodels (ca. 1170–1210). Die Voraussetzungen für den neuen Texttyp sieht er zum einen in der intellektuellen Witzkultur der lateinisch gebildeten Kleriker des 11. und 12. Jahrhunderts, zum anderen in der Rezeption der äsopischen Fabel – der knappen Erzählform, die »Einsicht durch Handlung« (S. 49), v.a. durch ihre Pointe, vermittelt. Das Fabliau wäre demnach eine Gattung, »die sich formal an die eben erst eingebürgerte Fabel anschließt, in ihrer Haltung aber die Freiheiten des klerikalen Witzes und kritische Distanz volkssprachlicher Satire aufzunehmen versteht« (S. 50).

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Im Anschluss an Joseph Bédiers ›unwissenschaftliche‹ Definition versteht Grubmüller die Fabliaux primär und vor allem als ›conte à rire‹ – ›Geschichten zum Lachen‹ (S. 58). Den »Kern« der Gattung bildet der »scherzhafte Schwank« (S. 60); die wichtigsten Themen sind »der Sieg des Verstandes über die Torheit, der Wettstreit von List und Gegenlist« (S. 51) sowie der »Tabubruch« – die Provokation durch das Aussprechen des Ungehörigen, v.a. aus dem sexuellen oder skatologischen Bereich (S. 60–67).

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Die Anfänge des Märe

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Eine zentrale These in Grubmüllers Darstellung lautet, dass das Märe im Deutschen unabhängig vom Fabliau entstanden sei (S. 106). Genau genommen könnte man sagen, dass er eine polygenetische Entstehung des Märe annimmt: einmal in Gestalt des »Stricker-Märes«, zum anderen als Bearbeitung des französischen Fabliau. Vermutlich seien beide Formen ungefähr zur gleichen Zeit (im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts; S. 79, vgl. S. 132 f.) unabhängig voneinander entstanden. Gleichwohl lässt Grubmüller keinen Zweifel daran, dass das Stricker-Märe für ihn den Anfang des Märes markiert. Das Märe als »geprägte, mit beschreibbaren Eigenschaften ausgestattete und typenbildende Form« (S. 79) erscheint zuerst »in der Sammlungsumgebung des ›Strickers‹« (der Name wird in diesem Zusammenhang als ›Typusbezeichnung‹ verwendet, S. 81).

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Das Stricker-Märe

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Grubmüller grenzt das Stricker-Märe sowohl genetisch als auch typologisch gegen das Fabliau ab. Genetisch vermag er Verbindungen zu einem einzigen Fabliau festzustellen: Le povre Clerc als verwandt mit dem Klugen Knecht (S. 104).

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Typologisch führt er vor, dass die Stricker-Mären »einen ganz anderen Zuschnitt« (S. 106) haben als die Fabliaux. Es handelt sich zwar in beiden Fällen um knappe, pointierte Erzählungen, aber anders als das Fabliau sei das Stricker-Märe nicht auf Amüsement ausgerichtet, sondern auf die lehrhafte Demonstration.

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Stricker-Mären [...] haben ihr besonderes, genau beschreibbares Profil: sie sind Erzählungen von modellhaft konstruierten Fällen, in denen mit Hilfe von Handlungspointen nach dem Schwankprinzip (Ordnungsverstoß und ›Revanche‹) vorgeführt wird, wie eine wohlgeordnete Welt funktioniert. (S. 90)
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Im Stricker-Märe führt daher der »Ordnungsverstoß« unvermeidlich zum Misserfolg und das richtige Verhalten zum Erfolg. Die »Wurzeln« dieses Erzähltyps sieht der Autor in den lateinischen »Formen lehrhaft illustrierenden Erzählens«: dem Exempel und der Fabel (S. 106 f.). Als Entstehungshintergrund für die neue Gattung vermutet er das Milieu der – im 13. Jahrhundert in Deutschland sehr verbreiteten – Laienpredigt und Lebenslehre (S. 110 f.).

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»So prägt der unterschiedliche Entstehungskontext für Fabliaux und Märe sehr unterschiedliche Profile aus, die auch die Grundlage der weiteren Geschichte bestimmen.« (S. 111)

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Märe – Bîspel – Rede: Die Gattungsfrage

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Im Kontext des Stricker-Märes geht der Autor erneut auf die Gattungsfrage ein – und beantwortet sie positiv. Das Stricker-Märe als Typ ließe sich genau beschreiben und gegen andere Formen der kleineren Reimpaardichtungen (im gleichen Überlieferungsverbund) abgrenzen: gegen die Rede, die »durch Erklärung, nicht durch Erzählung« Erkenntnis verschafft, sowie gegen das – ebenfalls vom Stricker neu geschaffene – Bîspel, das nicht durch die erzählte Handlung Einsicht vermittelt, sondern »beobachtbare Sachverhalte und Elemente der gottgeschaffenen Welt aus[legt]«, weswegen das Bîspel »notwendig zweiteilig« ist (S. 91–93).

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Die drei Grundtypen

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Wie bereits Fischer, unterscheidet auch Grubmüller drei Mären-Grundtypen:

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• Das exemplarische Märe (Kap. 5) führt er auf die Traditionslinie des Stricker-Typs zurück: charakteristisch für diesen Typ ist die »Zurichtung der Erzählung auf die Einsicht vermittelnde Handlungspointe, in der Regel auf den Schaden, den derjenige erleidet, der gegen die akzeptierten Regeln der Zusammenlebens verstößt« (S. 113). Zu dieser Traditionslinie zählt Grubmüller Erzählungen wie Helmbrecht, Das Auge, Der Schlegel, Die halbe Decke, aber auch Das bestrafte Mißtrauen, Die halbe Birne, Das Almosen, Die böse Adelheid, Die Treueprobe u.a.

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• Der Fabliau-Typ (Kap. 6) ist aus der produktiven Auseinandersetzung mit dem französischen Fabliau hervorgegangen. Von dem literarischen Austausch (vermutlich am Oberrhein; S. 133) zeugen »mehrere zweifellos miteinander verwandte Texte« (S. 128), Fabliaux und Mären, meist jedoch ohne dass man »wirkliche Vorlagenabhängigkeiten behaupten« könnte (S. 127). Zu solchen Texten zählen z.B. Der Sperber (vermutlich das erste ›deutsche‹ Fabliau, S. 132); Das Studentenabenteuer (Jean Bodels Gombert et les deux Clers), Sibotes Frauenzucht (La Dame escoillée), Der Herrgottschnitzer (Le Prestre crucefié), u.a. (vgl. S. 128 ff.). Auch die deutsche Ausformung des Fabliau charakterisiert der Autor in erster Linie als ›conte à rire‹ (S. 137 ff.). Dieser Typ wird im Deutschen auch unabhängig von französischen Vorlagen fortgeführt (S. 141–146).

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• Der dritte Grundtyp, das »demonstrative Märe« (Kap. 7) entspricht ungefähr dem »höfisch-galanten Märe« in Fischers Klassifikation. Zu diesem Typ gehören in Grubmüllers Darstellung nicht nur die Liebestod-Geschichten (Herzmäre, Schüler zu Paris, Pyramus und Thisbe, Frauentreue), sondern auch weitere Erzählungen, die »die Macht der Minne reflektieren« (S. 163) wie z.B. Aristoteles und Phyllis, Der Busant, Die Heidin, Der Gürtel. Die Minnemären enden häufig mit einem Bild der vollkommenen Liebe, die nicht zur Nachahmung, sondern zur Anschauung auffordern soll – deswegen bezeichnet der Autor sie als »demonstrativ« (S. 161). Im Vergleich zu den anderen beiden Grundtypen ist das »Minnemäre« kurzlebig – es konzentriert sich auf die Jahrzehnte zwischen ca. 1260 und etwa 1310, in denen es »offensichtlich eine rege Diskussion um die höfische Minne« (S. 157) gegeben hat.

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Witz und Lehre

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Durch die Darstellung von Fabliau und Märe zieht sich die Opposition zwischen »Amüsement« und »lehrhafter Demonstration« (S. 133). Doch wie verhalten sich diese zwei Erzählziele zueinander? Bisweilen entsteht beim Lesen der Eindruck, als müssten sie sich notwendigerweise gegenseitig ausschließen. Alle Mären des 13. und 14. Jahrhunderts werden (mit ganz wenigen Ausnahmen) jeweils im Rahmen der einen oder der anderen Tradition interpretiert. Da die scharfe Unterscheidung die These von der unabhängigen Entstehung des (Stricker-) Märe unterstützt, betont der Autor sehr of die ›Moralfreiheit‹ der Fabliaux (vgl. S. 68 f. u. S. 137 f.). Nur im Zusammenhang der ›lehrhaften‹ Fabliaux (La Housse partie, La Bourse pleine de Sens) stellt er die polemische Frage, ob denn »eine seriöse Moral die Komik einer solchen Geschichte außer Kraft« (S. 59) setze; an späterer Stelle bezeichnet er La Bourse als ein hervorragendes Beispiel dafür, »wie Komik für Lehre instrumentalisiert werden kann« (S. 149).

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Im Bereich des Märes sind solche Beispiele allerdings nicht selten. Bereits der Stricker benutzt mehrfach die Lächerlichmachung, um die Unangemessenheit einer Position bloßzustellen. Die Komik einer Geschichte ist an sich also kein Unterscheidungskriterium zwischen exemplarischem oder schwankhaftem Erzählen, sondern nur, ob die Komik für eine ›ernst gemeinte‹ Lehre dienstbar gemacht wird oder nicht.

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Aber auch das ist nicht immer klar. Wenn im Almosen »[d]er Geizige, der alle Nahrungsmittel von seiner Frau verschließt, [erleben muss,] wie sie der Pflicht, Almosen zu geben, dadurch nachkommt, daß sie einem Bettler ihre Minne gewährt, und zwar zweifach: an Stelle des Brotes und an Stelle des Fleisches« (S. 114) – dann wird hier worüber gelacht? Ist es der selbstverschuldete Schaden des Geizigen oder die besonders einfallsreiche Inszenierung des Ehebruchs? In vielen Mären macht sich der Witz neben der »lehrhaften Demonstration« selbstständig.

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Umgekehrt könnte man wiederum fragen, ob der frivole oder der freche Scherz jeglichen lehrhaften Ansatz ausschließt. Ritter Beringer, eine Fabliau-Bearbeitung (und von Grubmüller im Rahmen dieser Tradition behandelt) kritisiert durch ordinäre Provokation den Widerspruch zwischen Schein und Sein im ritterlichen Leben.

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Die Beispiele sind zahlreich. Ich hätte von der Gattungsgeschichte eine eingehendere Analyse dieses Verhältnisses erwartet.

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Heiteres Lachen vs. Bewältigung des Schrecklichen

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Eine weitere Opposition in der Darstellung betrifft die verschiedenen Funktionen des Lachens: das »heitere Lachen« und das »Unschädlichmachen des Bedrohlichen und Bösen durch Verlachen« (S. 193; vgl. S. 72–76). Diese Unterscheidung beruht einerseits auf Freud (Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten) und Ritter (Über das Lachen, 1974), die die integrierende und gemeinschaftsstiftende Funktion des Lachens betonen. Ritter versteht das Lachen als die einzige Möglichkeit, das in einer Kultur jeweils Ausgegrenzte und nicht Zugelassene positiv als Bestandteil der Lebenswelt zu erfassen (S. 69 f.; vgl. Ritter, S. 75 f.). Diese Möglichkeit des Lachens sieht Grubmüller (anders als Ritter) bei bestimmten Gegenständen überschritten: Um das in manchen Fabliaux anzutreffende Grausame, Obszöne und Abscheuliche ebenfalls als Gegenstand des Lachens zu begreifen, spricht er (im Anschluss an Ribard, Et si le Fabliaux n’étaient pas des Contes à rire, 1990) vom »Lachen zur Bewältigung des Schrecklichen«, setzt sich aber zugleich von Bachtin und seiner Theorie des »Karnevalslachens« ab (S. 74 f.).

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Die Differenzierung der Funktionen des Lachens ist an sich einleuchtend. Problematisch finde ich allerdings die Vorstellung, es gäbe so etwas wie die »Grenzen des heiteren Amüsements«, die das Fabliau »in einzelnen Exemplaren« überschreitet (S. 75 f.). Meines Erachtens handelt es sich eher um Provokationen verschiedenen Schweregrades, die im Fabliau sowie in späten Mären oft in ein und demselben Text nebeneinander stehen. Ganz besonders problematisch erscheint mir die Verknüpfung des Lachens im Fabliau mit einer Vorstellung von Heiterkeit. Der Witz im Fabliau (und seiner deutschen Fortsetzung) ist meist gemein, er gründet auf Übertölpelung, Ausnutzung, Verspottung oder bestenfalls auf dem Bruch von Redekonventionen. Der Spaß geschieht meist auf jemandes Kosten – heiter, bestimmt, aus der Perspektive der Lachenden, weniger so aus der Sicht der Verlachten.

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In diesem Zusammenhang erscheint mir der Vergleich mit der »Sprachgeste« (S. 75 f.) des Witzes sehr einleuchtend. Der Witz ist fiktional, »von jeglicher Realitätsverpflichtung entbunden«. »Grausamkeiten im Witz sind nicht justiziable Ordnungsverstöße, sondern Frechheiten, Obszönitäten sind es auch.« (S. 75) Die »konventionellen Lizenzen des Witzes« (S. 76) erlauben es somit dem Fabliau, das Böse, Grausame und Anstößige zum Gegenstand der Belustigung zu machen.

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Grenzüberschreitungen im Fabliau und Märe

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Die Unterscheidung zwischen den »heiteren Späßen« und den »düsteren Farben« (S. 140) spielt beim Märe eine noch größere Rolle als beim Fabliau. Der historische Überblick zeigt nämlich, dass in der ersten Rezeptionswelle des Fabliaus im 13. Jahrhundert bestimmte Themen und Redeformen nicht übernommen werden. Die Verzögerung in der Rezeption deutet der Autor als »fehlende Aufnahmebereitschaft für den Gestus der provokanten Rede im Deutschen« im 13. Jahrhundert und nimmt als Grund die »didaktisierende Dominante in der deutschen Literatur dieser Jahrzehnte« (S. 245) an, was vermutlich auch das Aufkommen des exemplarischen Märe begünstigt hatte.

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Wenn das Grausame und Obszöne in den ersten ca. hundert Jahren gemieden wird, so tritt es in den Mären des späten 14. und besonders des 15. Jahrhunderts verstärkt hervor. Grubmüller stellt hier ein massives Auftreten des Bedrohlichen in der Welt fest, das sowohl in der »Intensität in der Darstellung« (S. 246) als auch in der Anzahl der Texte über das Fabliau hinausgeht. Ganz anders als beim Fabliau versteht er diese »Grenzüberschreitungen« im Märe nicht im Rahmen der »üblichen Lizenzen des Witzes«, sondern als »Bearbeitungsversuche der Angst, die über das Lachen nicht mehr zum Ziele kommen« (S. 246). Dass für den Autor hier das Lachen verstummt, scheint eng damit zusammenzuhängen, dass er die Geschichten im Hinblick auf den »Ordnungsdiskurs als Verständigungsrahmen« (S. 247) für das Märe interpretiert. Der Unterschied zwischen den »Grenzüberschreitungen« im Fabliau und im Märe scheint also nicht so sehr in den Texten selbst zu liegen, als in dem vom Autor jeweils gewählten Interpretationsansatz –»Ordnungsdiskussion« oder »Amüsement«.

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Boccaccio und seine Rezeption

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Das Neue bei Boccaccios Decameron liegt nach Grubmüllers Auffassung nicht so sehr in einem neuen, ›novellistischen‹ Erzählen, das das alte exemplarische ablöst, sondern in der zyklischen Form sowie in der Auslösung des Erzählens vom mündlichen Vortrag und seiner Einbettung in eine (fiktive) Erzählsituation (S. 267), womit die Kurzerzählung in die Buchliteratur hineintritt (S. 291). Darüber hinaus bezeichnet er »den Gestus des realistischen Erzählens« als »das wirkungsmächtigste Erbe [...], das Boccaccio der abendländischen Novellistik hinterlassen hat« (S. 304).

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Im letzten Kapitel (Kap. 11) zeigt Grubmüller, wie das von Boccaccio etablierte Muster – einer Gesamtkomposition unterworfenen Sammlung von Prosaerzählungen – im Laufe der folgenden Jahrhunderte »zum Maßstab und Muster für Organisation und Präsentation der Kurzerzählung« (S. 291) in den europäischen Literaturen wird.

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Einzig die deutsche Literatur hält bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts am Märe fest (S. 313–330). Das Decameron – erst ab 1476 in Arigos Übersetzung zugänglich – bleibt als Werk wirkungslos; es werden nur einzelne Erzählungen rezipiert, die – aus dem Zusammenhang herausgelöst – häufig wiederum zu Mären umgearbeitet werden (z.B. Der Mönch als Liebesbote C; S. 316–321). Als bedeutendster Bearbeiter dieser Art wird Hans Sachs genannt, dessen Versschwänke sich ganz an den Erzähltypus des Märe anschließen» (S. 321), diesen aber auf die reine »textierte Strukturformel« (S. 329) reduzieren. Diese Reduktion markiert zugleich das Ende der Gattung (S. 330).

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Die in Sammlungen zusammengestellten Prosaerzählungen erscheinen im Deutschland erst im 16. Jahrhundert mit Jörg Wickrams Rollwagenbüchlein und den weiteren Geschichtssammlungen (S. 330–333).

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Fazit

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Alles Geschichtsschreiben ist subjektiv. So bezeichnet Grubmüller die Darstellung rückblickend als »[s]eine Geschichte der europäischen Novellistik des Mittelalters« (S. 335) ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Als Leserin fand ich das Werk äußerst lehrreich und anregend und war froh, es besprechen zu dürfen. Allen, die Interesse an der mittelalterlichen Kurzerzählung haben, möchte ich das Buch herzlich empfehlen.