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Zwischen Held und Otto Normalverbraucher:

Das Bild vom Menschen in biographischen Texten

  • Christian von Zimmermann: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830-1940). (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 41 [275]) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2006. VII, 555 S. Gebunden. EUR (D) 118,00.
    ISBN: 978-3-11-018863-9.
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Auch wenn die Biographie nie ganz vom Spielplan der akademischen Oper verschwunden war, so stand sie bis vor kurzem im deutschsprachigen Raum doch eher selten auf dem Programm. Vornehmlich schlüpften dann etablierte Ordinarien in die Rolle des Biographen. Hatte man sich (so der Eindruck) im Laufe seiner Karriere im ernsten Fach bewiesen, konnte man sich ohne Prestigeverlust der Abwechslung halber (und weil das große Publikum sicher war) auch einen Ausflug ins operettenhaft-biographische Milieu erlauben. Mit einer Biographie seine akademische Karriere starten zu wollen erschien demgegenüber kaum geeignet als Ausweis wissenschaftlicher Seriosität; die (seit jeher allerdings dramatisch zugespitzte) Rede vom biographischen Schreiben als akademischem Selbstmord machte die Runde.

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Biographie als wissenschaftliche Methode

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Diese Zeiten scheinen vorbei, zunehmend werden Qualifikationsschriften verfasst, die man mit Fug und Recht als Biographien bezeichnen könnte (auch wenn diese Bezeichnung meist nach Möglichkeit vermieden wird). Mit der darin zum Ausdruck kommenden Aufwertung des biographischen Arbeitens als wissenschaftlicher Methode in den Geisteswissenschaften geht die Tendenz einher, sich verstärkt auch auf analytischer Ebene mit biographischen Texten auseinander zu setzen. Inzwischen liegen verschiedene Sammelbände und Einzelstudien vor, in denen einerseits Einzelaspekte des biographischen Schreibens (Biographie und Geschlecht, Biographie und Religion) untersucht und andererseits Überblicke über disziplinäre Entwicklungen (historiographische Biographik) oder theoretische Zugänge geliefert werden.

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In diesem Umfeld positioniert der Berner Germanist Christian von Zimmermann, der bereits Sammelbände zur Frauenbiographik und zu fiktionalen Dichterbiographien (mit-)herausgegeben hat, 1 seine Habilitationsschrift zur biographischen Anthropologie. Ausgehend von der These, dass biographische Schreibweisen als strategische Äußerungen in soziokulturellen Kontexten zu verstehen seien, »die fremde Leben nicht einfach abbilden, sondern in diesen Kontexten funktional einsetzen« (S. 4), wird die anthropologische Dimension als Konstituente des Genres Biographie an sich gedeutet. Diese Beobachtung ist freilich keine neue Erkenntnis; dass Biographien die jeweils herrschenden Auffassungen vom »guten Leben« sowie die Individualitätskonzepte ihrer Zeit spiegeln, gegen den Strich bürsten und instrumentalisieren gehört zum Kernbestand biographietheoretischer Überlegungen. Doch eine intensive Untersuchung des Verhältnisses von Biographie und Anthropologie stand bislang aus. Im Zentrum der Studie von Zimmermanns steht dabei die Frage, wie biographische Texte anthropologische Problemstellungen verhandeln.

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Die Arbeit ist in fünf große Abschnitte gegliedert, wobei im ersten Abschnitt zum einen die theoretischen Grundannahmen der Arbeit erläutert werden und zum anderen der Versuch unternommen wird, einige allgemeine Aussagen über das Genre der Biographie an sich zu treffen sowie die Probleme zu beschreiben, die diese hybride Textsorte mit sich bringt. Dabei setzt von Zimmermann richtige Akzente, wenn er im Hinblick auf eine Definition der Biographik die Biographie von Lebenslauf, Autobiographie bzw. Charakteristik abgrenzt und die Quellenarbeit, das Verhältnis von Biographie und historischem Kontext, Biographie und Biograph sowie Biographie und Leser hervorhebt. Im Hinblick auf den letztgenannten Punkt interessiert von Zimmermann vor allem, für wen Biographien geschrieben wurden, an welche Adressaten sich die Biographie also richtet. Das ist zwar legitim, aber insofern bedauerlich, als die Frage nach den tatsächlichen Lesern (und nicht nur den intendierten) bis heute ein weitgehend unbeackertes Feld ist. Gerade bei den konkreten Lesern müsste man aber ansetzen, wenn man die Fragen nach der Beliebtheit des Genres und, damit einhergehend, den Funktionen von Biographien umfassend beantworten wollte: Was erwarten und versprechen sich die Leser einer Biographie? Darüber wird nach wie vor viel spekuliert und im Kontext biographischer Anthropologie hätte man sich (auch ohne exzessiv empirische Leserforschung betreiben zu müssen) einige Antworten zu diesen Fragen erhofft.

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Biographische Anthropologie

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Des Weiteren befasst sich von Zimmermann im ersten Abschnitt der Arbeit allgemein mit der Frage der biographischen Fiktion und beschreibt verschiedene »Fiktionalisierungsstrategien«, worunter er »sowohl eine rhetorische Strategie des Textes als auch bereits eine jeweils veränderliche Form der Invention und Disposition (bzw. Selektion und Kombination) des Stoffes« (S. 46) versteht. So liege einer Biographie, die den klassischen Anforderungen der Heldenerzählung folgt, die Strategie der »Heroisierung« zugrunde, einer psychoanalytisch arbeitenden Biographie die Strategie der »Psychologisierung«. Hier finden sich interessante Anregungen, doch hätte eine intensivere Auseinandersetzung mit den narratologischen Fiktionalitätsdiskussionen (etwa die Unterscheidung zwischen pragmatischem und ontologischem Status der Rede) einiges abkürzen können und die Passage systematisiert.

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Abgeschlossen wird der erste Abschnitt mit einigen einleitenden Bemerkungen zur biographischen Anthropologie, stellen Biographien, so von Zimmermann, doch

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[…] unter der Oberfläche des erzählten individuellen Lebenslaufes exemplarische Fallgeschichten dar, in denen auf der Basis von Individualitätskonzepten und Menschenbildern Bedürfnisse und Ziele menschlichen Handelns, Möglichkeiten und Grenzen des Menschen und seiner Fähigkeiten, Freiheiten und Abhängigkeiten gegenüber sozialen Ordnungssystemen, geschichtlichen Verläufen, sittlichen Normen und Norminstanzen etc. historisch-fiktional erprobt werden. (S. 47 f.)
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Von der Kurzbiographie
zur Personalhistoriographie

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Im zweiten Abschnitt der Studie zeichnet von Zimmermann die anthropologischen Diskussionen vom Anfang des 19. Jahrhunderts nach und räumt mit dem (von Friedrich Sengle in die Welt gesetzten) Vorurteil auf, dass während des Biedermeiers nur uninspirierte biographische Arbeiten entstanden seien; hierbei führt er als Kronzeugen etwa Gutzkow oder Varnhagen von Ense an. Freilich habe im Biedermeier eine Präferenz für die Kurzbiographie geherrscht, weil sich hier besonders eindrucksvoll spezifische Denkweise und individuelle Leistung herausstreichen ließen. Die Heroenerzählungen in Form der Personalhistoriographien eines Droysen oder Ranke, so streicht von Zimmermann heraus, entwickelten sich explizit gegen die biedermeierliche Biographik (vgl. S. 111). Während der Biographik ein anthropologisches Interesse zugrunde lag (die Suche nach der musterhaften Lebensführung) und sie sich den Persönlichkeiten aus der zweiten Reihe widmete, die sich eher im privaten Kreis mitteilten, nutzten die Personalhistoriographien das Genre eher, um allgemeine historische Prozesse zu beschreiben.

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Einhergehend mit der verstärkten Theoriebildung auf dem anthropologischen Feld, so macht von Zimmermann im dritten Kapitel deutlich, veränderte sich auch das Verhältnis von Lebensbeschreibung und Menschenbild, denn »die biographischen Darstellungen werden vor dem Hintergrund übergeordneter Annahmen einer Weltsicht oder Lebensauffassung von einem argumentativen Zentrum aus perspektiviert« (S. 188). Den Tendenzen zur Heroisierung und Idealisierung im Kontext biographischen Schreibens habe eine Strategie entgegen gestanden, die als »Vermenschlichung« bezeichnet werden könne: Zur Erklärung des Charakters einer besonderen Person seien dessen biologische und psychische Konstitution herangezogen worden, was ein Ausleuchten aller privaten Details eingeschlossen habe. In diesen Kontext gehörten auch die großen psychopathologischen Arbeiten von Möbius, Sadger, Lange-Eichbaum, Kretschmer oder Freud, in denen die einschlägigen Künstler-Genie-Wahnsinn-Debatten verhandelt worden seien.

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Moderne Biographik

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Die in den ersten Abschnitten herausgearbeiteten biographischen Strategien der Heroisierung einerseits und der Vermenschlichung andererseits bilden als entgegengesetzte Pole den Spannungsrahmen des vierten Abschnitts. Hier analysiert von Zimmermann die »moderne Biographik« und widmet sich eingehend den Arbeiten der Erfolgsbiographen Jakob Wassermann, Stefan Zweig und Emil Ludwig. Der Verfasser betont zwar, dass sich allein bei Ludwig und Zweig »eher biographisch-poetologische Differenzen als Gemeinsamkeiten« (S. 275) finden ließen, dennoch macht von Zimmermann in der modernen Biographik insgesamt eine Abkehr von der auf den ersten Blick Wahrheit garantierenden Faktenfülle aus, die durch die »Deutung ausgewählter Ereignisse und ihrer ›inneren‹ Zusammenhänge« (S. 279) ersetzt werde. Der Wahrheitsanspruch der modernen Biographien leite sich »aus den analytischen Fähigkeiten des Autors und aus der psychologischen Wahrscheinlichkeit der Figur her, nicht aus der Wiedergabe äußerer Ereignisse« (S. 279 f.). Statt eine unendliche Fülle an Material auszubreiten, bestehe die Aufgabe darin, so das Credo, durch geschickte Auswahl und erzählerische Form ein zutreffendes Bild des Biographierten zu entwerfen. Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre kam (vor allem aus soziologischer Richtung) zunehmend Kritik an der biographischen Mode auf. Die Biographik, so die These der bekanntesten Kritiker Georg Lukács, Leo Löwenthal oder Siegfried Kracauer, verteidige ein bürgerliches, individualistisches Geschichtsmodell, das längst obsolet sei. Kracauer selbst versuchte 1937 mit seinem Buch über Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit das Genre der Gesellschaftsbiographie zu etablieren, das sich aber nicht durchsetzte. Ob man allerdings Benjamins Arbeiten über Baudelaire als Bemühungen um eine »Neufassung der biographischen Literatur« (S. 420) interpretieren kann, wie von Zimmermann meint, bleibt dahin gestellt. Der Teil zur modernen Biographik endet mit einem Ausblick auf die Exil-Biographik.

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Im letzten Abschnitt untersucht von Zimmermann das je spezifische Verhältnis von Individuum und Nation in biographischen Texten vor dem Hintergrund der zunehmenden Ideologisierung in den 1920er und 1930er Jahren. Besonders intensiv beleuchtet der Verfasser hier neben Wilhelm Schäfers Roman über Zwingli auch die zahlreichen biographischen Romane Walter von Molos (etwa über Schiller, Luther oder List), der die Freiheiten der Gattung Roman nutze (indem er etwa Gespräche imaginiert und innere Monologe notiert), gleichzeitig aber den Anforderungen einer klassischen Biographie (Datenfülle, Berücksichtigung von Forschungsergebnissen) nicht ausweiche.

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Fazit

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Die Zeit zwischen 1830 und 1940, so lässt sich resümierend feststellen, war für das biographische Schreiben eine der fruchtbarsten Perioden in Deutschland. Von Zimmermanns Studie bietet eine überzeugende Zusammenschau der parallelen und gegenläufigen Tendenzen innerhalb des Genres in dieser Zeit. Leider (aber bei der Textmasse vermutlich unvermeidbar) kommt darüber der Blick auf die zeitgleichen Entwicklungen in anderen national-sprachlichen Kontexten zu kurz – der kurze Ausflug in die englische Biographik um 1920 (vgl. S. 276 ff.) zeigt, wie spannend solche Seitenblicke sein können. Doch über die eigentliche Analyse der herangezogenen Biographien hinaus kommt der Untersuchung ein weiteres (mindestens ebenso wichtiges) Verdienst zu, ist sie doch ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass die Analyse biographischer Texte nachhaltig zum Verständnis geistesgeschichtlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen beitragen kann.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Christian und Nina von Zimmermann (Hg.): Frauenbiographik. Lebensbeschreibungen und Porträts. Tübingen: Narr 2005, sowie Christian von Zimmermann (Hg.): Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionalbiographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970. Tübingen: Narr 2000.   zurück