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»die Sprache des Herzens und der Vertraulichkeit«

Freundschaftskult im 18. Jahrhundert

  • Klaus Manger / Ute Pott (Hg.): Rituale der Freundschaft. (Ereignis Weimar - Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen 7) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2007. 291 S. 7 s/w, 4 farb. Abb. Gebunden. EUR (D) 45,00.
    ISBN: 978-3-8253-5235-6.
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Der vom Jenaer Sonderforschungsbereich »Ereignis Weimar – Jena. Kultur um 1800« vorgelegte Band Rituale der Freundschaft geht zurück auf ein wissenschaftliches Kolloquium im Gleimhaus in Halberstadt, einem der ›Symbolorte‹ der Freundschaft, wie die Herausgeber betonen. In diesem Buch, soviel sei vorab gesagt, werden viele Facetten des Freundschaftskults im 18. Jahrhundert vorgestellt, wobei sich kultur- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte mit literarischen und biografischen Aspekten auf produktive Weise verbinden.

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Das Gleimhaus in Halberstadt

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Das »Archiv der Freundschaft« von Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) hat in letzter Zeit verstärkte Aufmerksamkeit erfahren, 1 urteilt Ute Pott, die Direktorin des Gleimhauses in Halberstadt. Gleims Büchersammlung, die auch als Leihbibliothek für seine Freunde zur Verfügung stand, »umfaßte bei seinem Tod – 1803 in Halberstadt – über 10.000 Bände und ist damit eine der größten bürgerlichen Privatbibliotheken des 18. Jahrhunderts« (S. 236). Gleim sammelte vor allem »zeitgenössische deutsche Literatur«, die neben den Klassikern prominent vertreten ist.

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Doch auch die anderen Sprachen sind vertreten. Außerdem die Wissenschaften, u.a. Geschichte, Naturwissenschaften und Medizin sowie Wiegendrucke und selbstverständlich Lexika und Nachschlagewerke. Der exakte Bestand der Bibliothek zu Gleims Tod ist heute schwer zu rekonstruieren. (S. 236 f.)
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Zu erkennen sind Bücher aus Gleims Besitz an den Widmungen der Freunde oder auch an seinem Exlibris. Eine besondere Rolle in Gleims Sammlung nehmen die Handschriften ein. Anders als das Archiv Goethes, das vor allem der eigenen Selbstvergewisserung diente, versteht sich Gleim als »Archivar seines Zeitalters« (S. 241). Noch sein Testament bestätigt seine Rolle eines Chronisten im Dienste der Freundschaft (vgl. S. 242).

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Auf die Vernachlässigung des Freundschaftstempels in Halberstadt im Kontext der Erforschung der Denkmalsgeschichte weist Doris Schumacher hin. Während Gleims Porträtsammlung vergleichsweise gut erforscht ist, werden seine in vielen Fällen erfolgreichen Bestrebungen, die Freunde mit einem Denkmal zu ehren, bisher nicht ausreichend gewürdigt. Aber gerade diese Denkmalskultur darf als besonders kreativ und zukunftsweisend gelten (vgl. S. 251). Mit der Denkmalsfrage beschäftigt sich auch Martin Disselkamp, der drei Beispiele »Freundschaftlicher Monumente« vorstellt: Winckelmann, Gleim und Herder.

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Rituale der Freundschaft

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In seinem programmatischen Beitrag erläutert Klaus Manger die »Rituale der Freundschaft« als »Sonderformen sozialer Kommunikation«, die nicht auf Dichtung und Literatur beschränkt ist. »Vielmehr sind, wie im gottesdienstlichen Brauchtum auch, in die rituellen Handlungen profanen Charakters prinzipiell alle Künste miteinbezogen. Deshalb ist, freilich irreversibel, der Freundschaftstempel auch ein Tempel der Musen.« (S. 28) In Gleims »Archiv der Freundschaft« finden sich neben Büchern und Briefen auch die Porträts der Freunde. Die »Geselligkeit der Seelen« (vgl. S. 28) bildet jedoch noch andere Rituale heraus, wie das album amicorum, sozusagen ein »kleine[r] Freundschaftstempel in Buchform« (S. 31) oder auch den Händedruck, vertraute Gespräche und den Freundschaftskuss, dem Dieter Martin einen äußerst aufschlussreichen Beitrag widmet. Er stellt heraus, »daß der Freundschaftskuß im 18. Jahrhundert kein – im heutigen Sinne – privates, sondern ein trotz aller Intimität öffentliches Zeichen ist« (S. 61). Der Freundschaftskuss ist demnach ein Zeichen geschwisterlicher Sympathie, »ein intimer und zugleich unerotischer Kuß« (S. 54).

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Auf die bedeutsame Differenz von Liebe und Freundschaft hatte bereits Manger hingewiesen: »Liebe zielt auf Vereinigung, Freundschaft auf Gemeinsamkeit, auch Geselligkeit. [...] Liebe läßt sich spüren. Freundschaft läßt sich zeigen.« (S. 36) Vor allem deshalb ist sie auf Ritualisierung angewiesen. Im 18. Jahrhundert bilden sich Freundschaftszirkel heraus, die über die aus dem 17. Jahrhundert bekannten Zweckbündnisse hinausgehen. »Reinste Freundschaft ist auf Tugend und Verstand gebaut und verlangt Ebenbürtigkeit.« (S. 37) Die unterschiedlichen Ausprägungen der Freundschaftsbünde lassen sich an den Briefwechseln ablesen. 2

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Freundschaftsbriefe – Brieffreundschaften

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So nennt Michael Maurer seinen Beitrag, in dem er 12 Thesen aufstellt, die belegen, dass Briefe geradezu Freundschaft bedeuten (vgl. S. 76). 3 Das Jahrhundert der Freundschaft ist bekanntlich auch ein »goldenes Zeitalter des Briefes« (S. 72). Die Individualisierung und die Dekorporierung der Gesellschaft im 18. Jahrhundert bilden, Maurer zufolge, wesentliche Voraussetzungen für Freundschaft, denn sie reagiert gleichsam auf die gesellschaftliche Differenzierung und hat sowohl religiöse als auch soziale Komponenten. Maurer charakterisiert Freundschaft als ein Generationsphänomen, das sich, anders als die Liebe, durch seine Vernunftbezogenheit auszeichnet (vgl. S. 74).

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Einen ganz anderen Aspekt bringt Peter Horst Neumann ins Spiel, der sich mit dem »Freundschaftsmotiv bei Jean Paul« auseinandersetzt und dabei eine Verwandtschaft zum Doppelgängermotiv herstellt. Neumann interpretiert zum einen die »Bruderschaft der Freunde in Jean Pauls Roman Siebenkäs« und zum anderen die »Freundschaft zweier Brüder in den Flegeljahren« (S. 222). Es sind nicht zuletzt diese unerwarteten Querverbindungen, die den Band zum Freundschaftskult im 18. Jahrhundert so anregend machen.

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Briefpartner und Freunde

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Zusammen mit Samuel Gotthold Lange und Johann Georg Sulzer hatte Gleim 1746 eine Sammlung Freundschaftlicher Briefe herausgegeben mit der Absicht, »die Sprache des Herzens und der Vertraulichkeit, an statt der Sprache des Zwangs und der Schmeichelei, unter den Correspondenten unsers Vaterlandes einzuführen« (vgl. S. 101). Diese Sammlung Freundschaftlicher Briefe hatte Vorbildfunktion. Auch der Briefwechsel zwischen Gleim und Nicolai orientiert sich daran, wie Rainer Falk ausführt (vgl. S. 105). Nicolai vertrat zwar einen moralischen Pragmatismus, gleichwohl lehnte er eine zweckhafte Freundschaft ab, als deren Vertreter Christian Adolf Klotz gilt. Aber auch Nicolais Verhältnis zu Gleim war nicht spannungsfrei, denn er »verwarf den als antiquiert begriffenen emphatischen Stil Gleims ebenso wie den als strategisch und heuchlerisch empfundenen Klotz‘.«(S. 113)

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Den Freundschaftsbund der Grazien-Dichter Wieland, Gleim und Johann Georg Jacobis untersucht Andrea Heinz. Auch diese Dichtergemeinschaft hatte eine öffentliche Funktion, wie ja Freundschaft im 18. Jahrhundert nie nur privat war. Die von Wieland seit 1773 herausgegebene Zeitschrift Der Teutsche Merkur kann anfangs als Blatt der Grazien-Dichter gelten, während sich die Situation später umkehrte, d.h. Freundschaft wurde nun beschworen, um Beiträge zu akquirieren. »Während die Freundschaft zwischen Wieland und Jacobi durch Wielands Rolle als Kunstrichter mehrfach gefährdet war, schlichen sich solche Dissonanzen zwischen Wieland und Gleim nur selten ein.« (S. 165) Im realen Umgang oft schwierig pflegte Wieland seine Freundschaften vor allen in Briefen. Immer wieder kam es zu Missstimmungen, so auch mit Wilhelm Heinse, dessen »Genuß-Ästhetik« (vgl. S. 93) er ablehnte. Entzündet hatte sich dieser Streit an Heinses Düsseldorfer Gemäldebriefen an Gleim, wie Barbara Rodt ausführt.

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Dass Freundschaft trotz der »politisch-weltanschaulichen Unterschiede« (vgl. S. 133 f.) tragfähig sein kann, zeigt Frank Baudach, der die Freundschaft zwischen Voß und Gleim untersucht. In ihren Briefen findet eine negative Ritualisierung statt, d.h. politische Themen werden ausgeklammert (vgl. S. 141). Ein solcher Kompromiss war moralisch begründet (vgl. S. 144), eine konstruktive Streitkultur wurde dadurch allerdings verhindert. Das Freundschaftsethos des 18. Jahrhunderts erfordert es offensichtlich, »über Trennendes zwischen Freunden – sei es nun Religion, Nation oder Meinung – hinwegzusehen und damit ein Ideal freier Kommunikation unter Gleichen zu verwirklichen« (S. 159). So resümiert Bernd Auerochs seinen Beitrag zur Freundschaft zwischen Gleim und Herder, der der Empfindsamkeit skeptisch gegenüberstand und sich sogar über die »halberstädtische[n] Liebesbriefchen« mokierte (vgl. S. 151). Das Konfliktpotential aus der Anfangsphase ihrer Freundschaft kam allerdings nicht zum Ausbruch, so Auerochs, und aus der literarischen wurde später eine Familienfreundschaft von großer Dauerhaftigkeit (vgl. S. 153).

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Eine besondere Bedeutung kommt der Freundschaft Gleims mit Anna Louisa Karsch (1722–1791) zu. Als literarisches Naturtalent gefeiert, war Karsch alles andere als eine schöne Seele (vgl. S. 117). Einerseits polemisierte sie gegen den von Gleim praktizierten Freundschaftskult, als Außenseiterin war sie andererseits aber auf Freundschaft angewiesen. »Denn Freundschaft konstituierte im 18. Jahrhundert den Autorbegriff, und Freundschaftskreise waren identitätsstabilisierend. Darüber hinaus erhoffte sich Karsch eine zeitlang von Gleim die Veröffentlichung ihrer Gedichte.« (S. 119) Ihr Denkmal steht im Hof des Gleimhauses in Halberstadt. Es ist »das erste bürgerliche Dichter-Standbild in Deutschland«. 4 In ihrem Beitrag weist Anne Kitsch die Ritualisierung der Freundschaft zwischen Karsch und Gleim durch die Interpretation von drei Gedichten der Dichterin nach. Die Freundschaft mit Gleim war, so Kitsch, vor allem »eine tätige und zuverlässige Beziehung« (S. 119).

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Produktive Freundschaft: Goethe und Schiller

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Eine Sonderstellung nimmt die Freundschaft von Goethe und Schiller im Spiegel ihres Briefwechsels ein, den Jutta Heinz untersucht.

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Man könnte diese Freundschaft als Liebesgeschichte lesen. [...] Schiller ist, sozusagen, der männliche Nachfolger von Frau von Stein nach der Rückkehr Goethes aus Italien: Er macht Goethe nach langen Jahren relativer poetischer Enthaltsamkeit nicht zum Mann, sondern wieder zum Dichter – und wird von Goethe als der Einzige, der ihn nunmehr versteht, gehätschelt, umworbene und dabei gleichzeitig auf Distanz gehalten. (S. 193)
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Im Weiteren stellt Heinz dann die »Polarität der Persönlichkeiten« dar, die »Stilisierung zum Dichter-Kollektiv« der zwei Geistesantipoden (vgl. S. 195), um dann den Briefwechsel als äußerst produktive »ästhetische Konfession« (S. 198) heraus zu arbeiten.

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Die Freundschaft dient hier dazu, die durch die Grenzen der Kommunizierbarkeit entstandenen Lücken zu füllen: Worüber man nicht reden kann, davon muß man schweigen – aber dieses Schweigen muß nicht zur Entfremdung führen, sondern kann durch ein habituell gewordenes Vertrauen, die ›Empfindung‹, überbrückt werden. (S. 202)
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Im letzten Teil ihres Beitrag schließlich gelingt es Jutta Heinz, die Weimarer Klassik als Resultat dieses Freundschaftsprojekts zu erweisen: »die Verbindung von praktischer Erzeugung theoretischer Reflexion von Kunst durch künstlerische Tätigkeit, [das] bildet die ›ästhetische Korrespondenz‹ von Goethe und Schiller von Tag zu Tag ab« (S. 204).

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Freundschaft und all das Andere

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Olaf Breidbach interpretiert Goethes Metamorphose der Pflanze aus naturwissenschaftlicher Sicht, wobei er die »umfassende Liebe« (S. 219) als vermittelnde Instanz erweist. Sein Beitrag trägt den Titel: »Freundschaft und all das Andere – Zu Freundschaft, Sympathie und Liebe in Goethes Naturlehre«. Um all das Andere geht es auch in den beiden Beiträgen, die den Band Rituale der Freundschaft einrahmen. Es handelt sich sozusagen um freundschaftliche Ergänzungen des Kolloquiums. Karl S. Guthke fragt nach dem Tod in der Anakreontik. Diesseitsfroh, scherzend, spielerisch und heiter – gibt es in dieser Stilrichtung überhaupt einen Platz für den Tod? In den meisten Studien zur Anakreontik bleibt dieser Aspekt ausgeklammert. Mit vielen literarischen Beispielen kann Guthke seine Frage nach »Freund Hein« überzeugend mit Ja beantworten.

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Theodore Ziolkowskis Überlegungen zur »Chronotopologie als Methode« beschließen den Band. Unter Chronotopologie versteht er »nichts mehr und nichts weniger als die Beschäftigung mit der literarischen Kultur eines bestimmten und räumlich begrenzten Orts zu einer bestimmten und begrenzten Zeit: zum Beispiel Jena im Jahr 1794/95 oder Berlin um 1810 oder Berlin/Jena im Jahr 1799.« (S. 264) In einem übertragenen Sinn kann diese Methode auch für den Freundschaftskult im 18. Jahrhundert zielführend sein. Das Netz der Freundschaften mit seinen unterschiedlichen Ausprägungen ist, zumindest im Fall der Briefe, von Ort und Zeit zwar erst einmal unabhängig. Ein symbolisches Zentrum findet es gleichwohl im Gleimhaus in Halberstadt, wo das Archiv die Freundschaften bewahrt und so lebendig hält.

 
 

Anmerkungen

Vgl. meine Rezension auf IASLonline: Freundesgabe: Aus dem Gleimhaus in Halberstadt. Zu: Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen. Hg. von Ute Pott. (Schriften des Gleimhauses Halberstadt 3) Göttingen: Wallstein 2004.   zurück
Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Hg. v. Wolfram Mauser u. Barbara Becker-Cantarino. Tübingen: Niemeyer 1991.   zurück
Vgl. Michael Maurer: Aspekte der Briefkultur. In: Jenaer Universitätsreden, Bd. 15: Philosophische Fakultät. Antrittsvorlesungen VI. Jena 2004, S. 117–136.   zurück
Das Jahrhundert der Freundschaft (Anm. 1), S. 46.   zurück