IASLonline

Die Eigenbewegtheit von Texten

Ein multitheoretisches Panorama mit besonderer Berücksichtigung der Zeit um 1800

  • Matthias Buschmeier / Till Dembeck (Hg.): Textbewegungen 1800 / 1900. (Stiftung für Romantikforschung 35) Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. 395 S. Broschiert. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 978-3-8260-3271-4.
[1] 

Was ist eine Textbewegung?

[2] 

Einerseits fixiert jeder Text Schreib- bzw. Redeweisen. Dennoch wird in der literaturwissenschaftlichen und philosophischen Rede über Texte und im Besonderen über als Kunstwerke begriffene Literatur immer wieder von der Dynamik, der Performanz, der Intensität oder der Energie von Texten gesprochen. Der von Matthias Buschmeier und Till Dembeck herausgegebene, in der roten Reihe der Münchener Stiftung für Romantikforschung erschienene Band »Textbewegungen 1800 / 1900« stellt die Frage, auf welche Weise Texte bewegt bzw. eigenbewegt sein können. Anders ausgedrückt, können Texte, die in der Schrift etwas fixieren, unabhängig vom Rezipienten bzw. vom Rezeptionsvorgang eine Eigenbewegung aufweisen?

[3] 

In einer kurzen Einleitung und achtzehn Beiträgen wird aus verschiedensten theoretischen Blickwinkeln ein multidisziplinäres Panorama an Möglichkeiten für die Eigenbewegtheit von Texten aus verschiedensten theoretischen Blickwinkeln präsentiert. Die Beiträge, die sich oft disziplinenübergreifend mit literaturtheoretischen, medientheoretischen und kulturwissenschaftlichen Fragen auseinandersetzen, stammen aus der Germanistik, Anglistik, Slawistik, Komparatistik, Kunstgeschichte und Philosophie. Die meisten der versammelten Beiträge sind auf der Jahrestagung »Fassungen textueller Eigenbewegtheit um 1800 / 1900« des Graduiertenkollegs »Klassizismus und Romantik im europäischen Kontext« im Juni 2005 an der Justus-Liebig-Universität Gießen vorgestellt worden.

[4] 

Brüche von linearen Strukturen
oder zuwiderlaufender Sinn?

[5] 

Zu Beginn der Einleitung (S. 9–19) stellen Buschmeier / Dembeck die Frage, ob die Bewegtheit von Texten ausschließlich der Effekt einer bestimmten Rezeptionshaltung ist, oder an den Texten selbst Strukturen aufzuzeigen sind, die diesen Effekt erzeugen. Nachdem sie beispielhaft an der Technik der Chronophotographie die Grundkonstellationen einer der Schrift inhärenten Spannung zwischen Bewegung und Fixierung verdeutlichen, wird anhand von Goethes Theorie von Systole und Diastole (»Einatmen und Ausatmen des lebendigen Wesens«, S. 14) exemplarisch für die Zeit um 1800 eine Theorie textueller Eigenbewegung bzw. eines eigenbewegten Kunstwerks vorgestellt.

[6] 

Die Herausgeber unterscheiden zwischen zwei Ansätzen, sich der Problemstellung textueller Eigenbewegtheit anzunähern: Einerseits sehen sie eher strukturalistische und medientheoretische Ansätze: Jeder Bruch mit der Linearität eines Textes erzeuge ein dynamisches Moment, das in Variationen und Wiederholungsstrukturen die Eigenbewegung des Textes prägen kann. Andererseits führen hermeneutische und semiologische Überlegungen zu der These, dass aus sich zuwiderlaufenden Sinnstrukturen eine Eigenbewegung des Textes entstehe (S. 17).

[7] 

»Textbewegungen 1800 / 1900« ist neben der Einleitung in vier Sektionen unterteilt: »Theorie«, »Historische Semantik«, »Um 1800« und »Um 1900«. Alle Sektionen werden durch kurze Vorworte der Herausgeber eingeleitet, in denen diese die der Sektion zugehörigen Beiträge inhaltlich zusammenfassen und auf die Thematik des Gesamtprojekts fokussieren.

[8] 

Theorie

[9] 

Erika Greber führt in ihrem Aufsatz »Textbewegung / Textwebung: Texturierungsmodelle im Fadenkreuz von Prosa und Poesie, Buchstabe und Zahl« (S. 24–48) an Beispielen von Wielands Oberon, Byrons Don Juan, Puškins Evgenij Onegin und dem Erzählmodell von Tausendundeiner Nacht textuelle Eigenbewegung auf der ›discours‹-Ebene vor. Im Zuge von texttheoretischen und strukturalistischen Ansätzen wird die Bewegung im Textgewebe bzw. in der Textur erkennbar. Abweichungen vom Normalen bzw. vom Strukturgesetz eines Textes führen zur Möglichkeit der Wahrnehmung von textueller Eigenbewegtheit. Diese Erkenntnis verläuft nach Greber parallel zu Chronophotographie als neuartiger Beobachtung von Bewegung, mit denen Buschmeier / Dembeck in der Einleitung medientheoretisch die Frage nach der Eigenbewegtheit der Texte begründen.

[10] 

Auch Till Dembeck sucht in »Anbilden / Umbilden – lesbar / schreibbar: Bewegte Texte bei Friedrich Schlegel, Roland Barthes u.a.« (S. 49–71) Textbewegung in Doppelfiguren, allen voran in der Unterscheidung ›lesbar / schreibbar‹ zu fassen: »Die einzelnen Elemente des poetischen Textes scheinen sich dann zwischen Selbstbestimmung und Selbstaufhabung hin- und herzubewegen, ihnen wohnt eine irreduzible Unruhe inne. Der Text gerät in Bewegung, er erscheint als in einer Oszillation begriffen« (S. 59). Diese Textbewegung im Kunstwerkbegriff Friedrich Schlegels wird dann auf Texttheorien des zwanzigsten Jahrhunderts – u.a. Lotman, Gadamer und Barthes – übertragen.

[11] 

Kunstwerk oder
»Alles ist Text(bewegung)«

[12] 

In Dembecks Ansatz bleibt merkwürdig unbestimmt, wie entscheidend es ist, ob ein bestimmter Text oder ein literarisches Kunstwerk diese Oszillation zwischen Selbstbestimmung und Selbstaufhebung erzeugt, oder ob eine solche textuelle Eigenbewegung grundsätzlich jeder Form von textueller Rede zu eigen ist.

[13] 

Für Guido Isekenmeier in seinem Artikel »Textuelle Performativität als Produktion von Sinn: Julia Kristevas Texttheorie und die Semiologie der Paragramme« (S. 72–89) ist das keine Frage. Hier geht es nicht um die Darstellung von Bewegung in Texten, sondern um die Bewegung von Texten als solches, was der Auffassung von Texten als ›bewegtem‹ Träger von Sinn entgegenläuft. Isekenmeier führt dieses am Beispiel von Kristevas Saussure-Lektüre vor, wobei sich exemplarisch an der Form des Anagramms zeigen lässt, »dass sich textuelle Performativität nicht in der linearen Dimension des Textes ereignet, sondern in seiner tabulatorischen Dimension, dem Text als Kombinationstafel« (S. 88). Damit lässt sich von textueller Performativität im Sinne einer ›Praxis‹ sprechen, die nicht einer grammatischen sondern einer paragrammatischen Ordnung folgt (S. 89).

[14] 

Paratextualität, die eine lineare Lektüre sprengt, ist auch für Remigius Bunias Aufsatz »Bewegliches Fragment: Den zweiten Teil von Musils Mann ohne Eigenschaften lesen« (S. 90–110) grundlegend, um Textbewegungen erschließen zu können. In einem medientheoretischen Ansatz werden die Möglichkeiten von nicht-linearen Lektürebewegungen aufgezeigt. Dabei sieht Bunia einerseits eine Gravur des Textes, die daraus besteht, »wie die Schriftzeichen miteinander verbunden sind und zu Bewegungen auffordern, wenn man die Spuren ihrer Einlassung liest« (S. 94), doch zugleich hängt die Textbewegung von ihrer Lektüre ab. Dieses führt Bunia überzeugend am zweiten Teil von Musils Mann ohne Eigenschaften im Dialog mit dem Prämodell der Bibel vor. Es entsteht eine komplexe schichtenartige Lektürebewegung zwischen Vollendetheit und Unvollendetheit des Textes, die nicht von einer Autor- oder Herausgeberintention abhängig ist, sondern in der Spannung zwischen Unerzählerischem und dem editorischen Versuch, dessen Komplexität in einem die Lesbarkeit garantierenden Lektüremodell gerecht zu werden, entsteht. 1

[15] 

Ein kunstgeschichtlicher Umweg

[16] 

Der letzte Beitrag der Theorie-Sektion stammt vom Kunsthistoriker Markus Dauss. Dessen Text »Figuren ikonischer Eigenbewegtheit: Schwingungen von Pollaiuolos Kampf zehn nackter Männer«(S. 111–139) wirkt einerseits deplaziert für einen Band mit dem Titel »Textbewegungen 1800 / 1900«, da er sich, wie Dauss ohne Umschweife zugibt (S. 111), weder mit Texten noch mit den beiden historischen Markierungen »Um 1800« und »Um 1900« beschäftigt. Der Beitrag stellt aber einen erfrischenden Kontrast zu den anderen Analysen dar, da Dauss in einer präzisen Bildanalyse vorführen kann, wie die Kunst der Renaissance – also lange vor den von Lessings Laokoon-Aufsatz bewirkten intermedialen Diskussionen um die Bewegtheit von Bild und Dichtung – eine Art eigenbewegter Schwingung zwischen Präsenz und energetischem Potenzial (S. 121) sowie zwischen Opfer und Täter (S. 123) in der Spannung von Körpern schafft. Mit Hilfe von Aby Warburgs Pathosformel argumentiert Dauss dann, dass diese bewegten Spannungen sich in modernen Videoinstallationen vom immanenten Kunstwerk in den Raum zwischen Medium und Betrachter verlagern (S. 138).

[17] 

Historische Semantik

[18] 

Der Einschnitt um 1800 macht heuristisch zur Herausarbeitung von Textbewegungen Sinn, da u.a. die Entwicklungen zum autonomen Kunstwerk, zur Selbstreferentialität von Dichtung und Ästhetik, wie auch zur Musikalisierung und Verflüssigung von Sprache, Textbewegungen innerhalb eines literarischen Textes geradezu herausfordern. 2

[19] 

Dirk Oschmann führt in seinem Beitrag »Bewegung als ästhetische Kategorie im späten 18. Jahrhundert« (S. 146–164) aus ideen- und begriffsgeschichtlicher Perspektive vor, wie ›Bewegung‹ – u.a. als Verzeitlichung und Verflüssigung – in anthropologischer, geschichtlicher und ästhetischer Bedeutung zu einem selbstständigen Begriff wird. Zum Beispiel wird der Bewegungsbegriff von Fichte als Ausdruck von Leben und damit als Analogon zur Freiheit gebraucht (S. 151). Es entsteht ein neues terminologisches Umfeld von einem universalisierten, entrhetorisierten ›movere‹, das sich in Begriffen wie Energie, Kraft, Dynamik, Geist, Geschwindigkeit, Freiheit und Leben zeigt.

[20] 

Bewegung des »Geistes«

[21] 

Mitherausgeber Matthias Buschmeier thematisiert in seinem Beitrag »Vom Wirken des Geistes im Werk: Kant und das bewegte Kunstwerk« (S. 167–183) die Spannung zwischen der Rede vom (eigen)bewegten Text und der These, dass Textbewegung vornehmlich das Ergebnis von entgegenlaufenden Bewusstseinsoperationen sei. Hierbei führt er die Funktion des Geistes und der Einbildungskraft in Kants kritischem Denken vor. Die Einbildungskraft ist spontan-produktiv und rezeptiv zugleich; diese Doppelorientierung erweist sich als grundsätzliches Wirkungsprinzip des transzendentalen Bewusstseins. Am Beispiel des Erhabenen zeigt Buschmeier die nicht zu lösende Spannung zwischen Bewegung und Fixierung. Erst die totalisierende Fixierung durch Vernunft ermöglicht bei Kant ›Bewegung‹.

[22] 

Hier zeigt sich wiederum einer der grundlegenden Fragen einer Theorie der Textbewegung. Buschmeier argumentiert, gestützt durch seine wahrnehmungspsychologische Kant-Lektüre, die die Spannung von Produktion und Rezeption aufzeigen kann, dass nur bestimmte Texte – bei Kant die Dichtung – eigenbewegt seien (S. 183). Damit gelingt es Buschmeier, die Schwächen strukturalistischer Analysen, die jede nicht-lineare Abweichung als Bewegung einstufen, ebenso zu vermeiden wie ein poststrukturalistisches ›Alles ist Text(bewegung)‹.

[23] 

Anja Oesterhelt zeigt in »Plastische und sprachliche Form in Bewegung: Konzepte des belebten Kunstwerks bei Herder, A. W. Schlegel und Brentano« (S. 184–203), wie grundlegend intermediale Fragen für die Diskussion des eigenbewegten Kunstwerks in der Romantik sind. Oesterhelt skizziert dabei die zeitgenössische Diskussion um die Plastik. »Bewegung als reine Bewegung des Geistes« (S. 195) setzt sich zunehmend von tatsächlicher Bewegung und der Materialität sinnlicher Wahrnehmung ab. Das eigenbewegte Kunstwerk vollzieht sich in den Statuenbelebungen in Brentanos Godwi durch die Rhythmisierung von Sprache. In der Hierarchie der Künste erweist sich letztlich das poetische Kunstwerk als höchste Ausdrucksform.

[24] 

Friedmar Apel ergänzt Oesterhelts intermediale Untersuchung, indem er in seinem kurzen wahrnehmungstheoretischen Essay »Man wird den ganzen Marmor in Bewegung sehen: Sehtheoretische Anmerkungen zu Goethes Über Laokoon (S. 204–212) daran erinnert, wie der ›Stil‹ des Textes als dessen Bewegung die Verbindung zwischen individueller Wahrnehmung und dem Allgemeingültigen der in sich selbst bewegten Natur schafft.

[25] 

Naturwissenschaftliche Prozesse

[26] 

Die Sektion zur historischen Semantik wird mit dem Aufsatz von Roswitha Burwick »›Verließ die Physick ganz um Trauerspiele zu machen‹: Arnims Vernetzung von Naturwissenschaft und Poesie« (S. 213–240) abgeschlossen. Burwick erklärt die Ästhetik von Arnims Roman Hollins Liebesleben durch eine Analyse seiner naturwissenschaftlichen Frühschriften. Insbesondere die Epigenese und Elektrizität spiegeln sich in Arnims Roman wider; sie garantieren ein tripolares Kräftefeld, das das statische bipolare Feld durch ein Element des Dritten dynamisiert. Texte reagieren in der Rezeption von Protagonisten und Lesern genauso wie physikalische und chemische Prozesse: »[D]er Leser wird analog der sich frei bewegenden Kraft eingesetzt und kann nur aus dem steten Austauschgeschäft zwischen Ich und Text die Vernetzung herstellen«, wenn der Leser die Arnimsche Ästhetik »durchdrungen« hat (S. 240).

[27] 

»Um 1800«

[28] 

Auch die dritte Sektion thematisiert die Zeit um 1800 und erweitert zugleich den Definitionsrahmen, was die Eigenbewegtheit von Texten sein kann, erheblich. Der erste Beitrag dieser Sektion von Janine Hauthal »Theatralität und Narrativität in Heinrich von Kleists Penthesilea (1808): Paradoxe Konstellationen im (innerästhetischen) Medienwechsel« (S. 244–265) ist der einzige Aufsatz, der sich mit einem Drama beschäftigt. Hauthal definiert Bewegung in Referenz auf Monika Fluderniks kognitiven Ansatz der »Natural Narratology« 3 sowie auf ästhetisch-rhetorische Konzepte des ›Vor-Augen-Stellens‹ als Rezipientenleistung. Der Rezipient setzt die in Teichoskopien, Botenberichten und Monologen erzählten Einzelbilder zu einer Gesamtbewegung zusammen. Hauthal erkennt damit an Kleists Drama eine Textbewegung zwischen dem durch den Aufführungscharakter der Gattung Drama ermöglichten Vollzug und einer epischen Narrativität, welche die Reflektion der Textbewegung ermöglicht.

[29] 

Zirkulationen von Texten

[30] 

In Andrew Pipers originellem Aufsatz »Korpus: Brentano, das Buch und die Mobilisierung eines literarischen und politischen Körpers« (S. 266–285), der methodologisch an diskurs- und medientheoretische Ansätze, u.a. an Albrecht Koschorkes Körperströme, 4 anknüpft, bleibt die Frage der Textbewegung rein metaphorisch. Statt um Eigenbewegtheit eines Textes geht es wörtlich genommen um die Bewegung des Textes bzw. Buches als eines physischen Objekts, um die Zirkulation der Texte als Ware um 1800. Dabei setzt Piper Friedrich Wilhelm Gubitz’ Wohltätigkeitsedition Gaben der Milde von 1816 mit Brentanos Novelle in Beziehung und führt vor, wie die Erzählung textuelle Mobilität und damit eine neue Rolle von Autorschaft erzeugt.

[31] 

Auch in Ronny Bläß’ Artikel »›The snake with it’s Tail in it’s Mouth.‹ Zirkularität in James Hoggs The Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner (1824)« (S. 286–301) wird die Textbewegung als Zirkulation von Texten definiert, allerdings nicht diskursanalytisch, sondern textimmanent, basierend auf der Darstellungstechnik des unzuverlässigen Erzählens von Herausgeber und Figuren: »Die Bewegung des Textes wird im Werk deutlich hervorgehoben. Es wurde geschrieben, gedruckt, verbrannt, vergraben, ausgegraben, erzählt und weitererzählt« (S. 300). Die Ereignisse des Textes bleiben unfixiert, wodurch sich im Rezeptionsakt die Textbewegung entfalten kann.

[32] 

Interaktion von Lyrik und Prosa

[33] 

Natalie Binczek wendet sich in ihrem Aufsatz »Kommunikative Vernetzungen: Gedicht und Erzählung in Joseph von Eichendorffs Ahnung und Gegenwart und Das Schloß Dürande«(S. 302–321) gegen die These, dass Gedichte in romantischer Prosa vornehmlich als lyrische Kondensation der Prosa fungieren. Indem sie die Interaktion der Textsorten ernstnimmt, kann Binczek die These von der »gerahmte[n] Flüchtigkeit« entfalten (S. 305). Im Widerspiel von Roman bzw. Novelle und Gedichten entsteht eine Unbestimmtheit der Kommunikation, welches zahlreiche rhetorische und narrative Substitutionsbewegungen der Texte ermöglicht.

[34] 

»Um 1900«

[35] 

Die vier Beiträge der den Band abschließenden vierten Sektion ›Um 1900‹ weisen erhebliche Unterschiede auf. Warum der einführende Aufsatz in einem Sammelband zu Textbewegungen veröffentlicht wird, erschließt sich dem Leser nicht. Lars Niehaus diskutiert in seinem Aufsatz »Figurativität, Physiologie und Religion: Nietzsches experimentalphilosophische Überlegungen zu einer diätetischen Religionskritik« (S. 325–341) Nietzsches perspektivisches Denken, ohne ernsthaft auf die Fragestellung textueller Bewegung einzugehen.

[36] 

Ralf Haekel in »›The solid world itself was dissolving and dwindling‹ Performativität in James Joyces The Dead«(S. 342–353) und Carolin Roder in »›Words shuffle and change‹: Orlando und die Performativität des Literarischen« (S. 374–392) zeigen hingegen an zwei Paradebeispielen der englischsprachigen Moderne, wie Literatur moderne Identitätsproblematiken inszeniert. 5 Haekel argumentiert, dass chiastische Textfiguren und Ambiguitäten den Text The Dead in Bewegung geraten lassen. Die Wiederholungen und Motivvariationen lassen eine Parallele zur Musik erkennen. Die Kategorien von Innen und Außen lösen sich in modernistischen Sprachexperimenten auf. Auch in Roders Interpretation von Virginia Woolfs Orlando wird Identität verflüssigt, wobei Roder an Gerhard Neumanns Überlegungen zur Performativität des Literarischen anschließt. 6 In Bewegungen von Wörtern spiegelt sich das Unbewusste wider. Hiermit fügt Roder die Darstellungsweise des Bewusstseinsstroms mit Kristevas gleitender Signifikantenkette zusammen. Das Oszillieren von Geschlechterrollen und wechselnde pasticheartige Aneignungen von Stilen und Gattungskonventionen überlagern sich und erzeugen ein textuelles Oszillieren auf verschiedenen Ebenen.

[37] 

Jana Schusters Artikel »›Tempel im Gehör‹: Zur Eigenbewegtheit des Klinggedichts am Beispiel des ersten der Sonette an Orpheus von Rainer Maria Rilke« (354–373) sieht die Textbewegung vornehmlich im Rhythmus und der Klangstruktur der »Sonette« begründet. Es entsteht ein Wechselspiel von generativer Dynamik und sichtbarer Gestalt, von Fixierung und Bewegung, wodurch in einem energetischen Raum eine Identität von Bewegung und Stillstand geschaffen wird. Die Rilkesche Zeit-Raum-Poetik führt zum Beispiel zur poetischen Dynamisierung, indem das Gedicht eine sprachliche Eigenbewegung vollzieht, die der im Text thematisierten ›Tanzfigur‹ entspricht.

[38] 

Warum »Um 1900«?

[39] 

Und dennoch wirken die in dieser Sektion versammelten Beiträge merkwürdig deplaziert, was einerseits daran liegt, dass es keine Auseinandersetzung mit der Zeitperiode um 1800 gibt, die aber in dem Abschnitt »Historische Semantik« sowie in den Beiträgen von Greber und Dembeck gerade als grundlegend herausgearbeitet worden ist. 7 Dieses ist umso überraschender, da doch das Gießener Graduiertenkolleg den Untertitel »Die ästhetische Erfindung der Moderne in Literatur, bildender Kunst, Musik und Alltagskultur« trägt und insbesondere aus dieser Thematik die Verknüpfung von Romantik und ›Klassischer Moderne‹ begründet werden könnte.

[40] 

Andererseits erläutern weder die Einleitung noch das kurze Vorwort zur Sektion, warum »Um 1900« eine zentrale Kategorie für die Diskussion textueller Eigenbewegtheit ist, obwohl diese Zeit sich bezüglich neuer textueller Verfahren für den Bewegungsbegriff deutlich anbietet. 8 Dieses wird zwar auch in Einzeluntersuchungen zu Sprachexperimenten der Zeit um 1900 – vor allem in den Beiträgen von Jana Schuster und Carolin Roder – deutlich. Bewegung bzw. oft die Eigenbewegtheit von Texten spielt eine erhebliche Rolle und die Materialisierung der Sprache, die neuen Sprachformen der Wirklichkeitswahrnehmung und das Interesse an der Darstellung des Bewusstseins fordern ›Bewegung‹ als Konzept in Texten geradezu heraus. Doch diese Beobachtungen werden nicht zusammen geführt, sodass die Beiträge zu ›Um 1900‹ in einem leeren Raum bleiben und der Band genauso Beiträge über den Nouveau Roman oder das Zirkulieren von Texten in der Renaissance hätte mit aufnehmen können.

[41] 

Inflation von Bewegungen?

[42] 

Was leistet der Band nun als theoretisches Kompendium für die Frage nach Textbewegung und textueller Eigenbewegtheit. Einerseits ist das hohe Niveau eines Großteils der Einzelbeiträge sehr zu loben. Auch ergibt sich für die Frage von Textbewegungen ein faszinierendes Arsenal an Möglichkeiten, wie der Bewegungsbegriff – manchmal mehr die Bewegungsmetapher – an unterschiedliche Texte mit unterschiedlichen theoretischen Prämissen herangetragen werden kann.

[43] 

Doch gleichzeitig verliert der Band, je weiter der Leser liest, seinen historischen und theoretischen Fokus. Es scheint eine Inflation von Bewegungsmetaphern zu geben. Hält man an dieser Stelle einmal inne und überlegt, welche literaturtheoretischen Richtungen der letzten 50 Jahre einen Bewegungsbegriff oder eine Bewegungsmetapher berücksichtigen, wird deutlich, dass ›Bewegung‹ in fast jeder theoretischen Perspektive von Bedeutung ist. Im Strukturalismus in der Überlagerung von Syntax und Paradigma bzw. von binären Strukturen im Allgemeinen, im Poststrukturalismus in der gleitenden Signifikantenkette, im weiten Text- bzw. Intertextualitätsbegriffs und im immer fortgeführten Lesen bzw. Kommentieren; in der Diskursanalyse bzw. im ›New Historicism‹ als Zirkulieren von Ideen und in der Rezeptionsästhetik als im Text angelegte Wirkungsstrukturen. In Performativitäts- und Medientheorien ebenso wie in intermedialen Ansätzen ist der Begriff der Bewegung per se in die Texte eingeschrieben.

[44] 

Rückgewendet auf die Beiträge lässt sich diese Vielfalt deutlich erkennen: Textbewegung wird erklärt aus strukturalistischer Perspektive in binären Unterscheidungen wie Poesie / Prosa (Greber, Dembeck, zum Teil auch Binczek und Schuster), aus poststrukturalistisch-intertextueller Perspektive (Isekenmeier, Roder), aus wahrnehmungspsychologischer Perspektive (Buschmeier, Oesterhelt, Apel), aus ideengeschichtlicher Perspektive (Oschmann), aus diskursanalytisch-medientheoretischer Perspektive (Pieper) sowie aus narratologischer Perspektive (Bläß, Haeckel, Hauthal). Der Begriff der Performativität wird aus verschiedensten Blickwinkeln zur Erläuterung von Textbewegungen herangezogen.

[45] 

Theoretisch ungeklärt bleibt, inwiefern ›Textbewegung‹ tatsächlich als theoretisches Konzept genutzt werden kann. Die Schwierigkeit, dass es aus eigentlich jeder theoretischen Perspektive zu begründen ist, lässt die Frage aufkommen, ob ›Textbewegung‹ in dieser ausgeweiteten Form nicht letztlich nur eine metaphorische Verallgemeinerung anderer Metaphern ist, die Bewegung bereits beinhalten, ob dieses jetzt das Zirkulieren von Texten oder die Flüchtigkeit von Kommunikation ist. Dann wäre ein engerer Textbegriff, wie ihn zum Beispiel Buschmeier in seinem Aufsatz vertritt, sinnvoller, um theoretisch-systematische Ergebnisse bezüglich der Eigenbewegtheit von Texten erzielen zu können.

[46] 

Historische Fragestellungen?

[47] 

Zudem kann man anmerken, dass eine stärkere Einheit des Bandes hätte erzielt werden können, wenn die historischen Fragestellungen klarer konturiert worden wären. Welche Phänomene von textueller Eigenbewegtheit gibt es um 1800 und warum? Die meisten Beiträge argumentieren nicht historisch, noch suchen sie den Vergleich mit anderen Beiträgen des Bandes. Dies führt dazu, dass immer theoretisch neue Blickwinkel produziert werden, aber der Leser nur bedingt ein systematisches Bild gewinnt, warum und wie jetzt gerade »um 1800« textuelle Eigenbewegtheit grundlegend wird.

[48] 

Eine Ausnahme macht die Sektion zur ›historischen Semantik‹, getragen von den Beiträgen von Oschmann und Buschmeier, in der tatsächlich ein Darstellungsfeld von unterschiedlichen Textbewegungen im späten achtzehnten Jahrhundert vorgeführt wird. Es ist zu bedauern, dass bereits in der dritten Sektion »Um 1800« die historisch-semantischen Beobachtungen nicht aufgenommen werden. Stattdessen werden Einzelfälle vorgeführt, die für sich genommen jeweils theoretisch überzeugen, aber an einem Projekt von textueller Eigenbewegtheit um 1800 nicht systematisch weiterarbeiten.

[49] 

Fazit

[50] 

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass man von einer Aufsatzsammlung – insbesondere wenn sie in der Mehrzahl von den jeweiligen Dissertations- und Habilitationsprojekten der Stipendiaten eines Graduiertenkollegs abhängig ist – nicht verlangen kann, das Phänomen eigenbewegter Texte theoretisch stärker zu vereinheitlichen. Die Vielfalt ist neben dem hohen Niveau der Beiträge letztlich die Stärke dieses Bandes und der an Textbewegungen interessierte Leser wird zahlreiche anregende Ideen – theoretischer und historischer Natur – aus der Lektüre von »Textbewegungen 1800 / 1900« gewinnen können.

 
 

Anmerkungen

Vgl. zur Theorie nicht-linearer Lektüren auch Jürgen Gunia / Iris Hermann (Hg.): Literatur als Blätterwerk. Perspektiven nichtlinearer Lektüre. St. Ingbert: Röhrig 2002; zu Musil im Besonderen siehe Jürgen Gunia: Die Sphäre des Ästhetischen bei Robert Musil. Untersuchungen zum Werk am Leitfaden der ›Membran‹. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000.   zurück
Insgesamt konzentriert sich der Band vorwiegend auf Prosabeiträge, mit der Ausnahme der Beiträge von Hauthal zum Drama, dem Beitrag von Schuster zu Rilkes Sonette an Orpheus und den Beiträgen von Greber und Binczek, die das Verhältnis von Poesie und Prosa thematisieren. Für Textbewegungen der Musikalisierung und Verflüssigung von Sprache in Spannung zu dem dieser Musikalisierung entgegenwirkenden Reflektionsbewusstsein des Subjekts siehe Stephan Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks. Das ›unmarkierte Zwischen‹ in Gedichten von Brentano, Eichendorff, Trakl und Rilke. München: Fink 2001.   zurück
Monika Fludernik: Towards a ›Natural‹ Narratology. London / New York: Routledge 1996.   zurück
Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München: Fink 1999.   zurück
Warum die beiden Beiträge, die eindeutig zusammenhängen, durch Jana Schusters Rilke-Aufsatz unterbrochen werden, bleibt unklar.   zurück
Gerhard Neumann (Hg.): Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft. Freiburg: Rombach 2000.   zurück
Vgl. zum Zusammenhang der beiden Zeiträume bezüglich Textbewegungen beispielsweise Stephan Jaeger (Anm. 2), S. 197 ff.   zurück
Vgl. zum Beispiel die Arbeiten von Moritz Baßler u.a.: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916. Tübingen: Niemeyer 1994.    zurück