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Sündenfall der Brecht-Rezeption

Eine Untersuchung des Lukullus-Komplexes als exemplarische Geschichte deutscher Kultur
im 20. Jahrhundert

  • Thorsten Preuß: Brechts »Lukullus« und seine Vertonung durch Paul Dessau und Roger Sessions. Werk und Ideologie. (Literatura 18) Würzburg: Ergon 2007. 532 S. EUR (D) 58,00.
    ISBN: 987-3-89913-539-8.
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Erst kürzlich hat Florian Henckel von Donnersmarcks vielfach preisgekrönter Spielfilm Das Leben der Anderen (BRD 2006) am Beispiel des fiktiven, historisch aber durchaus denkbaren Dramatikers Georg Dreyman einem internationalen Millionenpublikum die Verstrickungen von Theater und Politik in der DDR eindringlich vor Augen geführt. Dass Donnersmarck die Geschichte ins Theatermilieu verlegte, ist aufgrund der Symbolträchtigkeit des Theaters als einer in Diktaturen besonders exponierten und deshalb moralisch besonders gefährdeten Institution unmittelbar überzeugend: Anhand des zwischen seinen Rollen als Staatsdichter, Dissident und Liebender hin- und hergerissenen Dreyman und der Menschen in seinem Umfeld ließ sich von Schicksalen in der DDR exemplarisch erzählen.

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Gewissermaßen ein wissenschaftliches Parallelunternehmen zu diesem Film ist die zum selben Zeitpunkt in Erlangen entstandene (und ebenfalls mit einem Preis, nämlich dem Lilli Bechmann-Rahn-Preis ausgezeichnete) germanistische Dissertation von Thorsten Preuß. Mit dem Lukullus-Komplex im Werk Brechts und seiner Produktions- und Rezeptionsgeschichte widmet auch diese Arbeit sich einem beispielhaften Fall, der – dies sei vorweggenommen – nicht weniger interessant und aussagekräftig ist als der des fiktiven Dreyman, auch wenn er naturgemäß keine vergleichbaren Helden- und Liebesgeschichten zu bieten hat. Doch gibt es manch andere Parallele zwischen dem fiktiven und dem historischen Fall: So erinnert etwa die »regelrechte[ ] Achterbahnfahrt der Wertschätzung« (S. 457), der die Lukullus-Oper Brechts und Paul Dessaus in der DDR ausgesetzt war – und dies eben keineswegs aus ästhetischen Gründen –, durchaus an die berechnete Willkür, mit der im Film mit Dreyman umgegangen wird. Ein weiteres Bindeglied zwischen beiden Arbeiten ist Bertolt Brecht selbst: Fungiert er im Film als literarisch-humane Autorität (ein Band mit seinen Gedichten spielt eine wichtige Rolle und der Titel des Romans, den Dreyman am Ende schreibt, bezieht sich auf den Guten Menschen von Sezuan), so ist er in der Dissertation – neben Lukullus – die Hauptfigur. Insofern arbeitet dieses Buch also historisches Material auf, das zu dem Film in Beziehung zu setzen nahe liegend ist. Und da der Lukullus-Komplex weit über die zeitlichen und räumlichen Grenzen der DDR hinausführt, bietet es auch noch mehr als das: Ebenfalls in den Fokus geraten die Kontexte der Weimarer Republik, des »Dritten Reichs«, des dänischen, schwedischen und amerikanischen Exils, der Schweiz, West- und schließlich des wiedervereinigten Deutschlands. Mithin lässt diese Dissertation sich auch lesen als eine an einem prägnanten Beispiel erzählte Geschichte deutscher Kultur im 20. Jahrhundert.

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Gegenstand und Methode

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Der Lukullus-Komplex ist in der Tat komplex. Er umfasst die 1939 im dänischen Exil entstandene, zu Lebzeiten Brechts aber unveröffentlicht gebliebene Erzählung Die Trophäen des Lukullus, den im selben Jahr, aber nunmehr in Zusammenarbeit mit Margarete Steffin in Schweden für den dortigen Rundfunk geschriebenen Hörspieltext Das Verhör des Lukullus sowie zwei auf diesem basierende Opern von Roger Sessions (The Trial of Lucullus, UA Berkeley 1947) und Paul Dessau (Das Verhör des Lukullus beziehungsweise Die Verurteilung des Lukullus, UA Berlin 1951); von beinahe allen dieser Werke gibt es zudem mehrere, zum Teil stark voneinander abweichende Fassungen und Realisierungen. Ein Kuriosum ist etwa eine Aufführung des Hörspieltextes als Schattenspiel durch eine antifaschistische Theatertruppe im Dezember 1939 im Haus der jüdischen Gemeinde in Stockholm. In seinem Arbeitsjournal notierte Brecht damals, die Schauspieler hätten seinen Text »lustig« (zitiert nach S. 34) gefunden. Nur allzu gerne wüsste man mehr über diese Aufführung, die aufgrund ihrer Exzeptionalität möglicherweise viel über die Situation der deutschen Künstler im skandinavischen Exil verraten könnte.

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Preuß nun ist der erste, der sich nicht auf einzelne Werke oder Fassungen konzentriert, sondern tatsächlich den gesamten Komplex in den Blick nimmt. Es geht ihm dabei um eine ideologisch unvoreingenommene Analyse, Interpretation und auch Würdigung der jeweiligen Werke und ihrer verschiedenen Fassungen:

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War ein Gutteil der bisherigen »Lukullus«-Forschung im Spannungsfeld von Werk und Ideologie recht einseitig auf den Aspekt der Ideologie fokussiert und trug damit selbst zuweilen schon ideologische Züge, so legt die vorliegende Arbeit den Akzent auf die Rehabilitierung des Werks [...]. (S. 26)
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Ein solcher »Versuch einer vergleichenden und gleichberechtigten Darstellung von Hörspiel und Oper unter Berücksichtigung der zahlreichen Zwischenfassungen« (S. 27) hätte leicht zu einer unergiebigen und für den Leser unerquicklichen Fleißarbeit werden können, wäre der Lukullus-Komplex nicht so vielseitig und darum in vieler Hinsicht signifikant:

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Eine Untersuchung des »Lukullus«-Komplexes vermag [...] paradigmatisch auch über Brechts Arbeitsprozeß im allgemeinen Aufschluß zu geben, insbesondere über das Zusammenspiel von literaturinternen und literaturexternen Faktoren, von Material- und Wirkungsästhetik, von gattungspoetologischen und medienspezifischen, aber auch musikästhetischen Erwägungen, von komplementären oder gar konkurrierenden künstlerischen Konzepten der beteiligten Mitarbeiter, insbesondere des jeweiligen Komponisten, schließlich über die Bedeutung von zeitgeschichtlichen, gesellschaftlichen und politischen Einflüssen und den Umgang mit diesen Kontexten, bis hin zum Umgang mit der Zensur. (ebd.)
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Kurz: Die Untersuchung führt in das Zentrum von Brechts Schaffen. Und erfreulicherweise wird diese produktionsästhetische eben um eine – ohnehin kaum von ihr zu trennende – rezeptionsästhetische Perspektive ergänzt; in erster Linie durch sie gewinnt die Arbeit ihre kulturgeschichtliche Relevanz. Methodisch ist die Aufarbeitung eines derart heterogenen Materials natürlich eine nicht geringe Herausforderung. Doch Preuß zeigt sich ihr gewachsen, indem er darauf mit einem entschiedenen »Pluralismus der Methoden« (S. 29), das heißt vor allem einem konsequent transdisziplinären, literatur- und musikwissenschaftliche Fragestellungen verbindenden Ansatz reagiert. Gerade im Fall des Lukullus-Komplexes ist dies aber auch unerlässlich: Nur so kann man diesem genuin inter- und multimedialen Gegenstand gerecht werden.

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Von der Erzählung zum Hörspiel:
Die Trophäen des Lukullus und
Das Verhör des Lukullus

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Die Keimzelle des Lukullus-Komplexes ist das Romanfragment Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar aus dem Jahr 1938, in dem die Figur des Lukullus allerdings noch eine unbedeutende Nebenrolle spielt. In der kurze Zeit später entstandenen Erzählung Die Trophäen des Lukullus hat Brecht sie dann jedoch in den Vordergrund gerückt. Preuß’ Lektüre dieses von der Forschung vernachlässigten Textes ist insofern erhellend, als er ihn nicht nur werkimmanent analysiert, sondern ihn auch vor dem Hintergrund des traditionellen historiographischen Lucullus-Diskurses und einer anderen literarischen Adaption des Stoffes aus dem »Dritten Reich« interpretiert. Dabei kann er zeigen, dass die Darstellung des Lucullus in Hans Hömbergs Komödie Kirschen für Rom von 1940 – »ein[em] ausgesprochene[n] Kassenschlager« (S. 98) – und in der Geschichtsschreibung in zentralen Punkten übereinstimmen: »Der römische Feldherr Lucullus wird in diesem Diskurs als gebildeter Kulturmensch und glänzender Militärstratege dargestellt, der maßgeblich zum Sieg der Römer im Dritten Mithridatischen Krieg beigetragen, dessen Humanität gegenüber den Besiegten ihn aber letztlich um die Früchte gebracht habe« (S. 99). Demgegenüber zeichnet sich Brechts Erzählung durch eine differenzierte, ideologiekritische Deutung der Figur aus:

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Er [Brecht] stellt die Titelfigur widersprüchlich, gleichsam dialektisch, dar, stattet Lukullus nicht nur mit problematischen, sondern auch mit sympathischen Zügen aus, wie es dem von der Historiographie übermittelten Bild durchaus entspricht. Dem Leser wird keine Perspektive aufgezwungen; er soll durch eigenes Durchdenken der Problemlage zu einem ›vernünftigen Urteil‹ gelangen, soll sich vom Bild des gebrechlichen alten Mannes nicht täuschen lassen, sondern zu einer begründeten Reflexion über Ruhm, Macht und Größe angeleitet werden. […] Angesichts des drohenden, aber noch nicht ausgebrochenen Weltkrieges setzt Brecht noch auf die Kraft der Erkenntnis und die Veränderung des Denkens. (S. 123)
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Dies änderte sich jedoch mit dem deutschen Überfall auf Polen. Kurz darauf entstand der Hörspieltext Das Verhör des Lukullus, der nun nicht mehr als »Paradigma multiperspektivischen Erzählens« (S. 101) gelten kann, sondern als »Gegenpropaganda mit literarischen Mitteln« (S. 36) konzipiert und »von Beginn an auf möglichst breite Wirkung hin angelegt« (S. 80) war. Die geplante schwedische Ursendung scheiterte jedoch, wohl aufgrund politischer Bedenken des neutralen Schweden. Das Hörspiel wurde erst 1940 vom Schweizer Radio Beromünster gesendet.

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Vom Hörspiel zur Oper:
Roger Sessions’ The Trial of Lucullus

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Das erste Beispiel einer produktiven Rezeption des Hörspieltextes ist die Oper The Trial of Lucullus des amerikanischen Komponisten Roger Sessions, die 1947 in einer Inszenierung von Henry Schnitzler (dem Sohn Arthur Schnitzlers) und unter der musikalischen Leitung des Komponisten an der University of California in Berkeley uraufgeführt wurde. Dieses Stück ist jedoch so gut wie unbekannt geblieben: »Sowohl auf der Bühne als auch in der Forschung ist das Werk bis heute terra incognita« (S. 215). The Trial of Lucullus erlebte nur drei weitere Aufführungen, jeweils im akademischen Rahmen (1955 in Princeton, 1961 an der Northwestern University in Evanston und 1966 an der Juilliard School in New York); das Stück wurde also niemals in einem Opernhaus aufgeführt. Zumindest für die Forschung relevant aber ist diese Oper schon allein deshalb, weil sie als ein »herausragende[r] Fall der amerikanischen Brecht-Rezeption in den 40er Jahren« (S. 217) und darüber hinaus »als exzeptionelles Beispiel für die Wirkung der Exilliteratur in den Gastländern gelten könnte« (S. 27).

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Die Analyse des Trial of Lucullus, die Preuß allein anhand einer sich im Brecht-Archiv befindenden Kopie der handschriftlichen Partitur (die niemals gedruckt wurde) und eines privaten Mitschnitts der New Yorker Aufführung von 1966 anstellt, überzeugt durch ihre Genauigkeit sowie durch ihren Sach- und Kunstverstand; zudem ist sie in einer auch in den musikwissenschaftlichen Passagen flüssig zu lesenden Sprache geschrieben. Preuß kann für sich beanspruchen, der erste gewesen zu sein, der sich diesem Stück derart ausführlich gewidmet hat. Glücklicherweise hat ihn dies aber nicht dazu verleitet, das vergessene Werk nun mit dem Gestus des Entdeckers kritiklos zu präsentieren. Stattdessen kommt er zu einem differenzierten Urteil:

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Insgesamt scheint die produktive Rezeption von Brechts Werk und Ideologie im fremden kulturellen Kontext von einem Paradox gekennzeichnet: Ausgerechnet die Adaption der politischen Botschaft des Kommunisten Brecht gelang dem Amerikaner Sessions, während ihm die Poetik des Epischen Theaters fremd blieb und aufgrund fehlender Vermittlungsinstanzen wohl auch fremd bleiben mußte. [...] Damit erscheint »The Trial of Lucullus« durchaus symptomatisch für die Brecht-Rezeption in den USA der vierziger Jahre, wo der Exilant Brecht auch künstlerisch ein Fremder blieb. Diesen dramaturgischen Schwächen steht gleichwohl eine reizvolle Partitur von nicht zu verleugnendem musikalischen Anspruch gegenüber, deren kompositorische Qualitäten sich womöglich nicht beim ersten Hören, wohl aber spätestens in der Analyse deutlich erschließen. (S. 295 f.)
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Ob ein Opernhaus die Wiederaufführung dieses Stückes wagen wird?

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Noch einmal vom Hörspiel zur Oper:
Das Verhör des Lukullus und
Die Verurteilung des Lukullus

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Im Zentrum der Arbeit stehen Brechts und Dessaus Opernfassungen des Stoffes, die einen eigenen Komplex innerhalb des Komplexes bilden. Zunächst vom NWDR als Funkoper in Auftrag gegeben, wurde die erste Bühnenversion dieser zweiten Lukullus-Oper im März 1951 in der Berliner Staatsoper (noch unter dem Titel Das Verhör des Lukullus) uraufgeführt: Hermann Scherchen dirigierte und Wolf Völker führte Regie, die Ausstattung stammte von Caspar Neher. Diese Aufführung nun, zu der die DDR-Führung nur eine kleine Zahl von Zuhörern zugelassen hatte, geriet zum Skandal:

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[...] das Werk, das ursprünglich als literarische Waffe gegen eine bestimmte, nämlich die nationalsozialistische, Ideologie konzipiert worden war, [wird] selbst zur Zielscheibe einer anderen, nun der stalinistischen, Ideologie. [...] Das Stück gilt als ›formalistisch‹, wird verboten und kann erst, nachdem sich Brecht und Dessau zu Umarbeitungen entschlossen haben, im Oktober 1951 öffentlich aufgeführt werden. (S. 20)
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Preuß kann indes plausibel machen, dass »[d]ie Argumentation mit den Begrifflichkeiten des sozialistischen Realismus [...] kaum zu verschleiern [vermag], daß hier auf dem Feld der Kunst, unter dem Deckmantel einer vorgeblich ästhetische [sic] Debatte, eine machtpolitische Auseinandersetzung mit dem Zweck der Disziplinierung der künstlerischen Intelligenz geführt« (S. 81) wurde.

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Auch Preuß’ Analyse und Interpretation dieser Oper ist ergiebig: Er versteht sie als »Paradigma für die Opernästhetik des späten Brecht« (S. 464), das er »mit dem Stichwort des ›Kollektivs selbständiger Künste‹, jedoch unter Führung der Literatur« (ebd.) beschreibt. Besonders interessant sind die Passagen, in denen Preuß herausarbeitet, dass Dessau in seiner Musik »um eine zusätzliche semantische Ebene bemüht [ist], die in Spannung zur Textvorlage steht« (ebd.). Dessaus kompositorische Strategien sind dabei vielfältig: So distanziert sich an einer Stelle die Musik vom Text, indem sie die Erwartungen der Hörer unterläuft und auf diese Weise Lukullus als verlogen entlarvt; an anderen Stellen operiert Dessau mit traditioneller Tonmalerei und -symbolik, indem er etwa das Schwanken des Sarges auf der Bühne musikalisch illustriert oder mittels pentatonischer Motive eine fernöstliche Szenerie evoziert; ein anderes – heute freilich geschmacklos anmutendes – Beispiel ist die in das instrumentale Nachspiel der Oper inkorporierte Tonfolge es – e – d: eine Hommage an die SED. Bezeichnenderweise verlangte diese dennoch eine Umänderung des Schlusses. Dass die zuständigen Funktionäre diese versteckte Huldigung überhaupt bemerkt haben, darf aber bezweifelt werden.

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Die Verurteilung des Brechtbertus:
Parodien und Kontrafakturen als Dokumente
der Lukullus-Rezeption der 1950er Jahre

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Ein weiteres Kapitel der Rezeptionsgeschichte der Lukullus-Oper sind eine Reihe von Parodien und Kontrafakturen, die nach dem Skandal von 1951 vor allem in West-, aber auch in Ostdeutschland sowie in Österreich entstanden: Die Ballade vom ungehörten Verhör des Lucullus von Günter Neumann, Die Verurteilung des DSV von Walther Victor, Vorschlag an Bertolt Brecht zu einer vierten Fassung seines Stückes »Das Verhör des Lukullus« von Dolf Sternberger, eine anonyme Verurteilung der Roten Armee nach Bertolt Brecht, Lukullus hat sich verhört von Friedrich Torberg und Die Verurteilung des Brechtbertus von Robert Neumann. Auch diese historisch sehr ergiebigen Texte werden von Preuß zum ersten Mal ausführlich und im Zusammenhang untersucht. Dabei kann er zeigen, wie der Lukullus in mehreren Fällen – ein extremes Beispiel hierfür ist Torberg – »zur anti-kommunistischen Polemik instrumentalisiert[ ]« (S. 461) wurde. Eine gänzlich andere, differenziertere, aber dennoch »nicht unproblematische und möglicherweise auch mißverständliche Position, in der sich protestantisch-gnadentheologische Argumente mit einer sehr westdeutschen Sichtweise verbinden« (S. 417), entwickelte Sternberger. Die unveröffentlicht gebliebene satirische Kontrafaktur Victors hingegen ist »als Versuch zu werten, auf inoffiziellem Weg und mit Humor Einfluß auf Entscheidungsträger der DDR-Kulturpolitik zu gewinnen« (S. 419) – in eigener Sache. Dass diesem Versuch offenbar auch noch Erfolg beschieden war, gehört zu den Merkwürdigkeiten der an Merkwürdigkeiten überreichen Rezeptionsgeschichte des Lukullus.

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Kritik an der Brecht-Forschung

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Im Laufe seiner Untersuchung gelangt Preuß zu einigen Korrekturen der Brecht-Forschung, die er jedoch, so massiv sie teilweise sind, angenehm nüchtern und ohne die für akademische Qualifikationsschriften so charakteristischen polemischen Ausfälle formuliert. Sie betreffen zuallererst die »konträre west-östliche Rezeptionsgeschichte« (S. 20) der Oper Brechts und Dessaus, das heißt ihre völlig gegensätzliche Bewertung durch ost- und westdeutsche Wissenschaftler. Während man sie in Ostdeutschland nämlich seit der Leipziger Aufführung von 1957 – also nur sechs Jahre nach dem Verbot – plötzlich zum »Meisterwerk sozialistischen Gegenwartsschaffens« (zitiert nach S. 19) stilisierte, qualifizierte man sie in Westdeutschland »als gänzliche Verunstaltung des ursprünglichen Hörspiels« (zitiert nach S. 20) ab und warf Brecht vor, vor der SED zu Kreuze gekrochen zu sein:

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Nach Abschluß der Untersuchung drängt sich ein völlig anderes Bild auf: Problematisch erscheint nun nicht mehr die angebliche ideologische Fixierung des »Lukullus«, sondern im Gegenteil die ideologische Fixierung seiner Interpreten, die das Werk auf den Skandal reduzierten, folglich andere wesentliche Aspekte ausblendeten und damit Verkürzungen, Verfälschungen und Fehlurteilen den Weg bereiteten. Der Fall Lukullus wird so zum Sündenfall der Brecht-Rezeption, die durch eine bis heute andauernde Fokussierung ihres Interesses auf die »Lukullus«-Debatte von 1951 in der DDR geprägt ist. (S. 459)
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Damit dürfte es nun ein Ende haben. Preuß benennt darüber hinaus ein dringendes Desiderat der Brecht-Forschung: Er postuliert – und dies, wie seine Arbeit gezeigt hat, vollkommen zu Recht – Untersuchungen, die stärker die musikalischen Aspekte der Werke Brechts berücksichtigen, sowie, als deren notwendige Grundlage, eine Edition, »die auch musikalische Quellen einbezieht« (S. 464, Anm.). Denn: Es gibt »kaum ein Brecht-Stück, bei dem die Musik nicht ein essentieller Bestandteil wäre« (ebd.). Man kann nur hoffen, dass die Forschung diese Anregungen aufgreifen wird.

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Resümee

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Preuß’ Dissertation ist eine verdienstvolle Arbeit, um die keiner, der sich künftig mit dem Lukullus-Komplex beschäftigen will, herumkommen wird. Es ist dem Autor nicht nur gelungen, diesen Werkkomplex erstmals umfassend darzustellen und dabei teilweise tatsächlich auch zu rehabilitieren, gleichsam en passant hat er außerdem eine spannende Fallstudie zur deutschen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Kritikpunkte betreffen in erster Linie die Form der Darstellung, so zum Beispiel die etwas umständliche und zu Unübersichtlichkeit und Wiederholungen führende Gliederung der Arbeit. Auch der sprachliche Duktus verrät gelegentlich allzu deutlich, dass es sich bei diesem Buch um eine germanistische Dissertation handelt. Mit einer größeren Rücksichtnahme auf die möglicherweise ja nicht ausschließlich aus Fachkollegen bestehenden Leser hätte der Autor sich und seinem Buch einen Gefallen getan. Doch diese Einwände wiegen angesichts der Verdienste der Arbeit nicht schwer.

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Zum Schluss noch eine Bemerkung zu dem Vorwort des Buches, das der Theater-Regisseur Joachim Herz beigesteuert hat. Herz hat die Rezeptionsgeschichte der Lukullus-Oper in der DDR aus nächster Nähe miterlebt und bestätigt nun als Zeitzeuge die Authentizität der Darstellung Preuß’, außerdem empfiehlt er die Lektüre des Buches nachdrücklich (»Tolle lege!«). Obwohl es sich dabei um eine freundliche und auch keineswegs unglaubwürdige Geste handelt, bewirkt sie doch – wie fast immer in solchen Fällen – das Gegenteil: Eher als positiv eingestimmt wird man misstrauisch und fragt sich, wie dieses Vorwort wohl zustande gekommen sein mag. Wie auch immer: Nach der Lektüre weiß man, dass Herz durchaus Recht hat. Der Interessierte nehme und lese dieses Buch. Aber nötig hätte es einen solchen Geleitschutz nicht gehabt.