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Professionelles Informationsmanagement

Bibliotheken und Informationsgesellschaft in Deutschland

  • Engelbert Plassmann u.a.: Bibliotheken und Informationsgesellschaft in Deutschland. Eine Einführung. Wiesbaden: Harrassowitz 2006. XI, 333 S. 6 Abb. Gebunden. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 978-3-447-05230-6.
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Was hier unter neuem Titel, in neuer Ausstattung und mit einer neuen Konzeption auftritt, wird auf der Website des Verlags Harrassowitz als »4. Auflage von Ernestus / Busse: Das Bibliothekswesen der Bundesrepublik Deutschland« angekündigt. Es mag sein, dass die Absicht, »mit diesem Werk neue Wege zu gehen und neue Wege aufzuzeigen« (so in der Einleitung S. 5), die Verfasser bewogen hat, auf einen entsprechenden Hinweis zu verzichten. Andererseits ist die Vorgängerpublikation, der »Busse / Ernestus«, die immerhin drei deutschsprachige und zwei englischsprachige Auflagen erfahren hat, durchaus so etwas wie ein Klassiker geworden. 1 War die dritte Auflage als ein »Handbuch des deutschen Bibliothekswesens am Ende des 20. Jahrhunderts« gedacht, so beschreitet diese Neuerscheinung den Weg in das 21. und versucht im Strom rascher Veränderungen im Informationsbereich Basiswissen zu vermitteln, das Orientierung schafft und trotzdem Tagesaktualitäten transzendiert.

Ein neu justierter bibliotheks- und informationswissenschaftlichet Hintergrund

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Das Autorenteam bringt für das anvisierte Ziel optimale Voraussetzungen mit, nämlich einen neu justierten bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Hintergrund. Engelbert Plassmann und der neu hinzugestoßene Konrad Umlauf sind Professoren am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, Hermann Rösch lehrt am Institut für Informationswissenschaft der Fachhochschule Köln, an der auch Jürgen Seefeldt als Lehrbeauftragter tätig ist.

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Gleichgültig ob wir uns heute bereits mitten in der Informationsgesellschaft befinden oder sie sich erst am Horizont abzeichnet, ist nicht zu bestreiten, dass die Digitalisierung die Informationswelt gründlich verändert hat und weiter verändert. Auf der einen Seite stehen die Bibliotheken, denen gerne der Ruch des Vergangenen angeheftet wird, auf der anderen das Internet, von dem sich nicht wenige die Lösung aller Informationsprobleme erwarten. Für die Autoren dieses Buches heißt der Zauberschlüssel »professionelles Informationsmanagement«. Er könnte das Tor zu einer Informationszukunft aufschließen, in der überkommene, bewährte und entwicklungsfähige Techniken, wie sie in einem Jahrhunderte währenden Prozess erarbeitet und verfeinert worden sind, mit den Innovationen von heute zu einer neuen Informationskultur verschmelzen.

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Konsequenterweise ist daher das erste Kapitel mit »Bibliothek und Information« überschrieben. Es schafft die theoretische Grundlage durch begriffliche Bestimmungen und historische Einordnungen. Information und Wissen, der Informationsprozess, gesellschaftliche Evolution und telekommunikative Vernetzung seien als Schlagworte beispielhaft aufgeführt. Es ist erfreulich, dass sich die Autoren von einem ahistorischen Verständnis von Bibliothek distanzieren, das in den vergangenen Jahren fälschlich als Zeichen von Modernität gehandelt wurde. Sie beweisen, dass in Verbindung mit einer soziologischen Perspektive bei der Beschreibung der historischen Entwicklung bestehende Trends plausibel gemacht werden können. 2

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Auch das zweite Kapitel, das sich mit den strukturellen und technischen Entwicklungslinien auseinandersetzt, zeichnet sich noch durch einen hohen Theorieanteil aus. Es kategorisiert das Bibliothekssystem und beschreibt das ständige Fortschreiten EDV-basierter Technologien. Hier muss eine erste kritische Bemerkung angebracht werden. Ohne auf die seit bibliothekarischen Generationen geführte Diskussion über das Thema Bibliothekswissenschaft eingehen zu wollen, 3 kann man sich stellenweise nicht des Eindrucks erwehren, dass in Umkehrung des biblischen Zitats alter Wein in neue Schläuche gegossen wird: neue Termini wie »segmentär differenziertes« und »funktional differenziertes Bibliothekssystem« begründen noch keine neuen theoretischen Einsichten.

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Ab dem dritten Kapitel betritt der Leser den Boden der bibliothekarisch-informatorischen Realien: Bibliotheken in Deutschland, Netze und Kooperationen, 4 Normen und Standards, Dienstleistungen, Bibliotheksmanagement. Hier zeigen sich nicht nur die umfassenden Kenntnisse der Autoren über den »State of the Art«, sondern die Verfasser sind auch bestrebt, neue Erkenntnisse und Methoden interdisziplinär zu verwerten und deren Tragfähigkeit im bibliothekarisch-informatorischen Bereich zu prüfen. Exemplarisch soll dafür das siebte Kapitel »Bibliotheksmanagement« hervorgehoben werden.

Zwischen ›Wissen‹ und ›Können‹:
Berufsfelder

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In der Einleitung setzen sich die Autoren mit dem Problem auseinander, angesichts des schnellen Wandels nicht »die Vermittlung instrumentellen Könnens« (S. 1) in den Vordergrund zu rücken. Sie haben bei seiner Lösung einen brauchbaren Kompromiss gefunden, wenngleich sich weite Passagen in der Grauzone zwischen diesem »instrumentellen Können« und instrumentellem Wissen bewegen. Hier wäre etwa auf die Detailfreudigkeit des fünften Kapitels »Normen und Standards« hinzuweisen.

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Das achte Kapitel ist »Beruf, Ausbildung und Studium« gewidmet. Es bietet einen ebenso kenntnisreichen wie problemorientierten Überblick, der von der Professionalisierung der Informationsberufe bis zur Erörterung der in diesem Bereich besonders schwierigen Zukunftsprognosen reicht. Die Ausbildungsinstitutionen stehen vor der kaum lösbaren Aufgabe, einen Nachwuchs heranzubilden, der die (noch) existierenden Konventionen beherrscht, gleichzeitig aber auf eine noch ungewisse Informationszukunft vorbereitet sein will. Dankenswerterweise befassen sich die Autoren nicht nur mit den Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten für die bibliothekarischen und informatorischen Berufsfelder an den einschlägigen Hochschulen und Fakultäten, sondern erweitern das Blickfeld in eine bunter gewordene Berufs- und Ausbildungswelt. Den Abschluss machen die universitären Angebote und ein Ausblick auf die Forschung.

Aktualität und Lesbarkeit

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Wie schwierig es für ein Handbuch dieser Art ist, alle Daten und Fakten bis zum Erscheinungstermin aktuell zu halten, zeigt sich immer wieder, zum Beispiel bei der Vorstellung einzelner Ausbildungseinrichtungen, aber auch an anderen Stellen, etwa an der kurz davor wirksam gewordenen Umbenennung von »Die Deutsche Bibliothek« in »Deutsche Nationalbibliothek« oder im Fehlen eines Hinweises auf das geplante VD 18. Es wäre aber unangebracht, daraus einen Vorwurf an die Autoren abzuleiten.

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Die Verfasser sind bemüht, ihre Ausführungen so verständlich wie möglich zu halten. Der Text ist im Hinblick auf die komplexen Sachverhalte bemerkenswert lesbar. Die Textmengen sind übersichtlich gegliedert. Ein Übriges leisten die zahlreichen Karten und Tabellen. Bei letzteren zeigen sich die Probleme aller Schematisierungen, etwa die eindeutige Zuordnung von Begriffen und Kategorien (ein Beispiel ist Tabelle 8: dem Gesellschaftstyp »Primitive Agrarwirtschaft« werden in der Rubrik »Informationsmanagement« »Höflinge« zugeordnet – das schmerzt den Historiker). Den Abschluss des Bandes bilden ein Literaturverzeichnis mit immerhin 21 Seiten und ein Sach- und Personenregister.

Fazit

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Stellt sich noch die Frage »cui bono?« Die Autoren haben als Zielgruppe vor allem die Studierenden der bibliothekarisch-informatorischen Studiengänge vor Augen, aber auch alle jene, die im Bibliotheks- und Informationswesen tätig sind und – diese Formulierung ist besonders gelungen – »bei der Vorbereitung von Innovationen ganzheitlich denken und planen wollen« (S. XI). Sie nehmen für sich in Anspruch, dass sich ihre Einführung »von den bisher bewährten Werken deutlich« (S. XI) unterscheiden soll. Sie haben diesen Anspruch weitgehend eingelöst. Nichtsdestoweniger soll noch ein Abgleich mit anderen, neueren Einführungen versucht werden. Rupert Hackers weit verbreitetes Bibliothekarisches Grundwissen, seit 1972 in zahlreichen Auflagen aktualisiert, stellt in der Tat das eingangs zitierte »instrumentelle Können« in den Vordergrund, wenngleich es selbstverständlich den einen oder anderen Berührungspunkt gibt. Bei Die moderne Bibliothek von 2004 ist die Schnittmenge größer, zumal mit Engelbert Plassmann ein Autor hier wie dort vertreten ist. 5

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Ein Fazit mit einem Seitenblick auf die Selbstaussagen in dieser neuen Publikation: Geschickt aufbereitete Information, ideen- und faktenreich als Buch kohärent dargeboten, kann (noch) durch kein Internet ersetzt werden, wenn es darum geht, sie sich als Wissen anzuverwandeln.

 
 

Anmerkungen

Gisela von Busse / Horst Ernestus / Engelbert Plassmann / Jürgen Seefeldt: Das Bibliothekswesen der Bundesrepublik Deutschland: Ein Handbuch. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Wiesbaden: Harrassowitz 1999. – Horst Ernestus / Engelbert Plassmann: Libraries in the Federal Republic of Germany. Second fully revised and enlarged edition of the work by Gisela von Busse and Horst Ernestus, translated by John S Andrews. Wiesbaden: Harrassowitz 1983.   zurück
Allerdings enthalten die über das Buch verstreuten Rekurse auf die Geschichte zum Teil Aussagen, die zumindest diskussionsbedürftig sind.   zurück
Vergleiche dazu: Petra Hauke (Hg.): Bibliothekswissenschaft – quo vadis? Eine Disziplin zwischen Tradition und Visionen. Programme, Modelle, Forschungsaufgaben. München: Saur 2005.   zurück
Im Abschnitt »Grundlagen der Vernetzung und Kooperation« wäre zu ergänzen, dass entsprechende Überlegungen und Vorschläge im öffentlichen Bibliothekswesen bereits früher als dargestellt vorgetragen worden sind. 1966 sind die Grundlagen für die bibliothekarische Regionalplanung (Wiesbaden: Harrassowitz) erschienen, 1969 der vom Deutschen Büchereiverband ausgearbeitete sogenannte 1. Bibliotheksplan und 1964 das erste KGSt-Gutachten Öffentliche Bücherei.   zurück
Rupert Hacker: Bibliothekarisches Grundwissen. 7., neu bearb. Aufl. München: Saur 2000. – Rudolf Frankenberger / Klaus Haller (Hg.): Die moderne Bibliothek. Ein Kompendium der Bibliotheksverwaltung. München: Saur 2004.   zurück