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Stadtzerstörung zwischen Verdrängung, Verklärung und Aufarbeitung

  • Andreas Böhn / Christine Mielke (Hg.): Die zerstörte Stadt. Mediale Repräsentationen urbaner Räume von Troja bis SimCity. (Kultur- und Medientheorie) Bielefeld: transcript 2007. 392 S. Paperback. EUR (D) 32,80.
    ISBN: 978-3-89942-614-4.
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Städte sind Orte gesteigerter Verdichtung, in ihnen konzentrieren sich Menschen und die Einrichtungen ihrer Versorgung, wirtschaftliche wie kulturelle Angebote, politische wie soziale Prozesse. Zugleich bieten sie Orientierungs- und Ankerpunkte für kollektive und individuelle Identitätsbildung. Und weil dies so ist, entfalten Stadtzerstörungen oft eine besondere Wirkkraft sowohl im Hinblick auf die praktische Lebensführung als auch für die mentale Befindlichkeit von Zeitzeugen und Nachwelt. In den letzten Jahren haben verschiedene wissenschaftliche Disziplinen sich daher eingehender mit der Zerstörung von Städten befasst. 1

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Ein von Andreas Böhn und Christine Mielke herausgegebener Sammelband wendet sich nun ebenfalls diesem Problemfeld zu. Hervorgegangen ist er aus der Arbeit des Karlsruher Forschungsverbundes Zentrum/Grenze/Peripherie. Zerstörte Städte und Grenzgebiete als Orte der medialen Rekonstruktion europäischer Identität nach 1945. Fünfzehn Autorinnen und Autoren blicken hier auf unterschiedliche Facetten der medialen Repräsentation zerstörter urbaner Räume. Vor allem Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaftler sind es, die hier ein breites Spektrum von Ausdrucksformen untersuchen: Dichtung und epische Literatur, Film, Zeitungen und Magazine, Bilddokumentationen, Computerspiele, bildende Kunst und Musik kommen zur Sprache. Den Schwerpunkt des Bandes bilden Aufsätze, die sich der medialen Auseinandersetzung mit den Stadtzerstörungen des Zweiten Weltkrieges widmen.

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In der Einleitung formulieren die Herausgeber eine ganze Reihe von Leitfragen. So soll nach einer von den genutzten Medien abhängigen und damit spezifischen Ästhetik, nach Schwerpunkten und variierenden Intentionen gesucht werden. Auch soll geklärt werden, ob mediale Neuerungen lediglich alte Traditionen adaptieren oder eigenständige Formen und Inhalte generieren. Sodann möchte man auch Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Medien aufdecken.

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Nicht jeder Beitrag sieht sich diesem Fragenkatalog gleichermaßen eng verpflichtet. Maria Virginia Cardis Beitrag etwa geht zwar von medienanalytischen Befunden aus, mündet aber alsbald in einem nachdrücklichen Plädoyer, Ruinen als ethische Instrumente zur Zähmung destruktiver Wesenszüge des Menschen, mithin zur Zivilisierung von Gesellschaften zu nutzen. Auch untersuchen die Autoren nicht nur verschiedene Medien, was im Interesse des Projektes liegt. So ist ausdrücklich zu loben, dass mehrere Beiträge über den Grundkanon der Medienanalyse, bestehend aus Literatur, Fotografie und Film, hinausgehen: Stefan Werning untersucht die Stadtzerstörung im Computerspiel, Sebastian Baden in den bildkünstlerischen Arbeiten Christoph Draegers und Christine Baur Paul Dessaus Vertonung von Picassos Guernica. Doch folgen die Aufsätze des Buches meist ganz unterschiedlichen inhaltlichen Akzentsetzungen, Begriffsverständnissen und Theorieangeboten, wodurch das Erkenntnisfeld zwar geweitet wird, es zugleich aber auch zu einer erheblichen Dispersion der Ergebnisse kommt. Da die Einleitung knapp ausfällt und ein zusammenführender Schlussbeitrag fehlt, bleibt es dem Leser überlassen, die Resultate einzusammeln, zu synthetisieren und in den aktuellen Stand der Forschung einzuordnen. Die Weite des Bogens mag folgender Überblick aufzeigen.

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Einigen Autoren geht es um die mentale Bewältigung des Zerstörungserlebnisses. So arbeitet Götz Großklaus heraus, dass die Literatur der Nachkriegszeit von drei konkurrierenden Wegen, mit der jüngsten Vergangenheit umzugehen, geprägt war: Neben jenen, die sich um eine aktive und kritische Auseinandersetzung mit paränetischer Zielsetzung bemühten, finden sich solche, die eher nach einem raschen Vergessen und einer möglichst bruchlosen Anknüpfung an den Zustand vor der Katastrophe strebten; eine dritte Gruppe habe hingegen ihre Gegenwart als »Nullpunkt« zu deuten und sich zugleich der Katastrophe und ihrer gesamten Vorgeschichte zu entledigen gesucht (S. 113). Nach Großklaus haben sich schließlich jene durchgesetzt, die auf Verdrängung der Katastrophenerfahrung zielten. Allerdings trennt der Beitrag zuweilen analytisch nicht immer hinreichend scharf zwischen den unterschiedlichen thematischen Akzenten der von ihm untersuchten Texte. Diese berühren nämlich keineswegs alle gleichermaßen das eigentliche Thema des Sammelbandes im Kern: Literatur über die Zerstörung von Städten wird ohne nähere Differenzierung neben solche gestellt, die eher auf die Verarbeitung von KZ-Erfahrungen, das Kriegserleben im Allgemeinen oder die Debatten um persönliche Schuld und Widerstand abheben. Dominik Schrey kann jedoch die im literarischen Bereich von Großklaus aufgedeckte, lange in Deutschland vorherrschende Verdrängung auch anhand der zurückhaltenden Rezeption von Rosselinis Film Germania Anno Zero bestätigen. Die Tendenz ist offenkundig Medien übergreifend zu beobachten.

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Um die kollektive Konstruktion von Erinnerung geht es in dem ebenso ausführlichen wie instruktiven Beitrag von Christine Mielke, die hierzu literarische Texte und Bilddokumentationen zur Städtebombardierung im Zweiten Weltkrieg vergleicht. Anschaulich gelingt es ihr, in beiden Medien starke Tendenzen der Personifizierung und Anthropomorphisierung im herangezogenen Quellenmaterial freizulegen. Ein markanter Unterschied lässt sich jedoch darin erkennen, dass literarische Beiträge sich bei der Beschreibung der Stadtzerstörung einer sexuellen Metaphorik bedienen, die der bildlichen Annährung fehlt. Mit Recht betont Mielke den enormen Bedeutungszuwachs und den dominanten Einfluss der Bilder für die Konstruktion kollektiver Erinnerung in der Nachkriegszeit. Fotos von Trümmerlandschaften und von besonders bekannten Ruinen werden zum Speicher und Symbol menschlicher Schreckenserfahrung.

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Durch die Betrachtung von Zeitungen und Zeitschriften der unmittelbaren Nachkriegsjahre kommt Claudia Pinkas zu komplementären Resultaten. Sie weist nach, dass diese Medien – obgleich zunächst einen Anspruch auf sachliche Information und bloße Dokumentation formulierend – ebenfalls zu einer ausgesprochen ästhetisierenden Bild- und Textsprache im Umgang mit zerstörten Städten finden, die deutend und sinnstiftend auf den Prozess der Identitätsbildung einer sich formierenden Nachkriegsgesellschaft einwirkten. Auch filmische Auseinandersetzungen zeigen den Zug zur Ästhetisierung der Zerstörung. Wie Silke Arnold-De Simine zeigt, greifen Trümmerfilme dabei die ältere Ruinenikonographie auf. Zwar stellt die Zerstörung der Städte im Zweiten Weltkrieg einen Bruch in der kulturellen Traditionslinie und Identitätskonstruktion dar, doch über die Anknüpfung an ältere Darstellungs- und Deutungsmuster wird auch Kontinuität hergestellt und das Bemühen um Heilung sichtbar.

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Die Konstruktion von Kontinuität im Erleben des Bruches ist auch das zentrale Thema des überaus gelungenen Beitrages von Jakub Kazecki, der Stefan Chwins Buch Tod in Danzig untersucht. Es gelingt hier, anhand eines literarischen Werkes den Wandel Danzigs zu Gdańsk als kognitiven Prozess vorzuführen, in dem das Alte mit dem Neuen verbunden und so Kontinuität hergestellt wird, wo eigentlich durch Kriegszerstörung, Flucht und Vertreibung sowie den Übergang von deutscher zu polnischer Kultur Diskontinuität vorliegt. Kazecki nutzt dabei überaus fruchtbar Marianne Hirschs Konzept der postmemory, durch die sich eine nachgeborene Generation eine nicht unmittelbar selbst erlebte Vergangenheit aneignet.

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Kay Kirchmanns Beitrag setzt sich mit der Modernisierungseuphorien zerstörenden Wirkung der Luftaufnahmen von Trümmerlandschaften auseinander. Nach seiner Deutung verhieß die Verbindung von Flugzeug und Film mit der Bewegung durch die Luft und die Weitung des Blickes zunächst eine Überwindung menschlicher Begrenztheit. Doch in der fotografischen Abbildung der Trümmerlandschaften im Zweiten Weltkrieg zerstörter Städte gewinnt der Betrachter keinen Überblick, sondern verliert sich orientierungslos in der Ödnis und wird auf ein subjektives Erleben von Verstörung zurückgeworfen, eine »Re-Anthropomorphisierung des Sehens«, wie Kirchmann meint (S. 282, 285).

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Eher über die Imagination verschwundener Menschen und eliminierter städtischer Teilräume als über mediale Repräsentationen zerstörter Städte selbst handeln die Beiträge von Andreas Böhn, der Karthago im Monumentalfilm zum Gegenstand wählt, und Izabela Skórzyńska, die dem Verschwinden von Juden aus dem städtischen Leben Lublins nachgeht. Sie zeigt, wie über die Inszenierung von Mysterienspielen und interaktiven Ausstellungsprojekten Erinnerung an die im Zweiten Weltkrieg ausgelöschten jüdischen Bewohner und ihre Lebensräume konstruiert wird.

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Nur wenige Beiträge schlagen eine Brücke zu älteren Epochen und deren mediale Repräsentation zerstörter Städte. So bleibt die Frühe Neuzeit ausgeblendet. Die Antike wird nur mittelbar berührt, zum einen im bereits erwähnten Beitrag von Andreas Böhn, zum anderen von Simone Finkele, die sich für die Verarbeitung der Zerstörung Trojas in der Dichtung Konrads von Würzburg interessiert, also sich mit der Antikenrezeption im Mittelalter befasst. Burkhardt Krause wendet sich dem Mittelalter umfassender zu, indem er verschiedene Textgruppen der mittelalterlichen Überlieferung in Hinblick auf die Thematisierung von Stadtzerstörungen sichtet. Eine stringentere Argumentationsführung und Thesenfindung hätte diesem Beitrag allerdings gut getan.

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Kaum einmal verlassen die Beiträge des Bandes europäische Kontexte. Die Herausgeber weisen in ihrer Einleitung darauf hin, dass eine repräsentative Streuung der Texte weder erreicht noch überhaupt angestrebt worden sei. Dies wird man ihnen durchaus zugestehen können. Gleichwohl scheinen die Verstärkung diachroner Zugriffe und eine Forcierung Epochen und Kulturräume vergleichender Studien lohnenswert. Hierzu anzuregen und Wege zu weisen, ist gewiss ein wesentliches Verdienst des vorliegenden Sammelbandes. Doch wichtiger noch ist wohl, dass er erstmals umfassend unterschiedliche mediale Repräsentationen zerstörter Städte nicht nur aufzeigt, sondern zugleich differierende Strategien des Umgangs mit Stadtzerstörungen im Spannungsfeld von Verdrängung, Verklärung und Aufarbeitung in ihrer intensiven medialen Abhängigkeit ausleuchtet. Da mag man Nachsicht üben können, wenn sich nicht alle Beiträge gleichermaßen ausgereift und eng an den einleitenden Fragestellungen orientiert präsentieren und die Herausgeber sich einer eigenen Bilanzierung und Synthese der Resultate des von ihnen initiierten Bandes enthielten.

 
 

Anmerkungen

Die Fülle von Einzelbeiträgen etwa aus der Soziologie, Psychologie oder den Geschichtswissenschaften kann hier nicht abgebildet werden, doch zwei Sammelwerke seien als Brückenschlag zu weiterer Literatur genannt: Andreas Ranft / Stephan Selzer (Hrsg.): Städte aus Trümmern. Katastrophenbewältigung zwischen Antike und Moderne, Göttingen 2004; Martin Körner (Hrsg.): Stadtzerstörung und Wiederaufbau. Destruction and Reconstruction of Towns, 3 Bde., Bern 1999–2000.   zurück