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Über Glossen, Griffel, Tinten und Federn

  • Andreas Nievergelt: Die Glossierung der Handschrift Clm 18547b. Ein Beitrag zur Funktionalität der mittelalterlichen Griffelglossierung. (Germanistische Bibliothek 28) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2007. 968 S. 34 Abb. Gebunden. EUR (D) 88,00.
    ISBN: 978-3-8253-5281-3.
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Mönche des frühen Mittelalters verfielen gelegentlich auf die Idee, in ihre Bücher – grundsätzlich von Hand geschrieben und ebenso grundsätzlich in lateinischer Sprache – Wörter, Wortteile oder auch Wortgruppen in ihrer althochdeutschen Muttersprache einzukritzeln, und zwar dort, wo eben Platz war. Vor allem die Zeilenzwischenräume wurden dazu genutzt, denn auf diese Weise konnten die althochdeutschen Wörter über den zugrundeliegenden lateinischen zu stehen kommen. Manchmal wurden aber auch Ober-, Unter- und Seitenränder von Blättern mit solchem Beiwerk beschrieben. Zusätze dieser Art bezeichnet man als »Glossen«. Vielfach sind sie in der althochdeutschen Volkssprache gehalten, häufig erklären aber auch lateinische Synonyme Begriffe des Primärtextes.

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Für die sprachhistorische Forschung sind solche Einträge von besonderem Wert, denn die wirkliche Textüberlieferung des Althochdeutschen, zumal der früheren Zeit, also des 8. und des beginnenden 9. Jahrhunderts hält sich bekanntlich in sehr engen Grenzen. Besonderes philologisches Interesse kommt auch der Glossenüberlieferung des 10. Jahrhunderts zu, denn aus diesem Zeitraum sind so gut wie keine fortlaufenden althochdeutschen Texte erhalten, sondern allenfalls Abschriften im 9. Jahrhundert entstandener Werke. Glossen sind daher die einzigen Zeugnisse für dieses sprachgeschichtlich gesehen dunkle Jahrhundert. Und selbst wenn man die Zeugnisse des 9. Jahrhunderts und die spätalthochdeutschen Texte, die nach der Jahrtausendwende entstanden sind, hinzunimmt, bleibt es ein Faktum, dass der überwiegende Teil des schriftlich überlieferten althochdeutschen Wortschatzes nicht etwa in Dichtungen, auch nicht in frommen oder gelehrten Traktaten dokumentiert ist, sondern in sporadischen Einträgen der beschriebenen Art im Zeilendickicht lateinischer Codices. In unmittelbarer Nachbarschaft finden sich häufig auch gleichartige lateinische Worterklärungen. Auch das sind »Glossen«.

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Üblicherweise bediente man sich beim Eintrag solcher althochdeutschen oder auch lateinischen Glossen der normalen Schreibutensilien Tinte und Feder. Nicht selten kam es jedoch vor, dass man – aus welchen Gründen auch immer – dazu einen spitzen Griffel verwendete und das Wort nur einritzte. Die Ermittlung und Deutung solcher »Griffelglossen« stellt den Forscher vor Aufgaben ganz besonderer Art. Ehe er sich als Philologe betätigt, muss er sich als Detektiv und Spurensicherer bewähren, benötigt unter Umständen technische Hilfsmittel, vor allem aber gutes Licht und ein geschultes Auge – mittelalterliche Bedingungen also! Das voluminöse Buch von Andreas Nievergelt (968 Seiten, Register und qualitativ gute Abbildungen inklusive) rückt auch Dimensionen und (Fehl-)Einschätzungen zurecht. Denn Griffelglossen sind nicht etwa ein kurioses Randphänomen, sondern sie machen einen beachtlichen Teil des Glossenmaterials aus. Die Verwendung des Griffels ist nämlich nicht etwa als Notlösung zu deuten, sondern sie ermöglichte es, gewissermaßen die primäre Textebene (also den glossierten lateinischen Grundtext) und die sekundäre Ebene (die Glossen als erklärende Zusätze) formal-optisch voneinander abzuheben.

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Bislang waren aus dem Codex Latinus Monacensis (kurz Clm) 18547b, einer Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek in München, die in jenem »dunklen« 10. Jahrhundert entstanden ist, ganze fünf Griffelglossen bekannt. Die akribische Revision durch Andreas Nievergelt erbrachte einen Zuwachs von 466 weiteren derartigen Einträgen. Hinzu kommen über hundert lateinische Griffelglossen. Freilich sind längst nicht alle von Menschenhand verursachten Kratzer im Pergament eindeutig les- und philologisch auswertbar. Vieles bleibt ungedeutet.

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Der Codex enthält darüber hinaus auch zahlreiche Federglossen. Diese sind naturgemäß leichter zu finden und zu lesen als die tinten- und somit farblosen Griffelglossen. Das Meiste war bereits bekannt. Aber auch hier machte Nievergelt einige Neufunde.

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Als ob das Versteckspiel mit den Griffelglossen nicht schon genügte, wurden insbesondere Federglossen in Geheimschrift angebracht. Dabei handelt es sich aber um relativ simple Vokalsubstitutionen nach dem Muster »ersetze alle Vokale durch ihren Alphabetnachbarn, also a durch b, e durch f, usw.«. Häufiger als sonst in Handschriften wird in Clm 18547b ein Vokal durch den übernächsten Alphabetnachbarn ersetzt, also a durch c usw. Die Kombination von Griffeltechnik und Geheimschrift ist selten. Für beide Versteckvarianten, so befremdlich sie auf den ersten Blick sind, konnte Nievergelt eine Beobachtung machen, die einer Erklärung doch nahe kommt: sie sind aufs Ganze gesehen den volkssprachlichen Einträgen vorbehalten. Anders gesagt: lateinische Zusätze sind – von Ausnahmen abgesehen – tendenziell mit Tinte und in »Klarschrift« angebracht. In einer Reihe von Fällen wurden Griffelglossen mit Feder und Tinte wiederholt, was den Schluss nahe legt, dass die Ritzungen als eine Art Vorskizzierung zu verstehen sind. Aufgrund paläographischer Kriterien konnte Nievergelt sicherstellen, dass die Glossierung in wesentlichen Teilen etwa zeitgleich mit der Niederschrift des lateinischen Grundtextes erfolgte. Textschreiber und Glossatoren waren z.T. identisch. Das wiederum spricht dafür, dass die Zusätze bereits im Konzept vorgesehen waren. Teilweise müssen die Glossen aus Vorlagehandschriften übernommen worden sein. Denn anders können Sprachstände, die deutlich früher anzusetzen sind als die Handschrift selbst, nicht erklärt werden.

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Was wurde von wem geschrieben und glossiert?

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Wenn man die gesamte althochdeutsche Überlieferung überblickt, so zeigt sich, dass mit Abstand das meistglossierte Buch die Bibel ist. Das ist in Clm 18547b aber gerade nicht der Fall. Hier sind unter anderem verschiedene Texte des Sulpicius Severus zur St. Martins-Thematik glossiert, ebenso Auszüge aus der Historia Francorum des Gregor von Tours. Der Codex enthält noch zwei etwas jüngere, ursprünglich zugehörige und auch glossenfreie angebundene Teile. Die Zusammenfügung dürfte bereits im 12. Jahrhundert erfolgt sein.

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An der Herstellung des ersten (glossendurchsetzten) Teils waren 18 Schreiber beteiligt. Zwei davon waren geübt, andere ganz offenkundig Anfänger. Manche Zeile scheint nur zu Übungszwecken von ungelenken (Schüler-)Händen eingetragen zu sein. So ergibt sich als Nebeneffekt sogar noch ein Einblick in den frühmittelalterlichen Schul- und Skriptoriumsbetrieb.

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Der Glossenbestand des Clm 18547b

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Haupt- und Kernstück der Monographie ist die Edition des gesamten Glossenmaterials. Sie umfasst 460 Seiten (S. 165–625). Darin wurden sowohl Feder- als auch Griffelglossen, und zwar althochdeutsche wie lateinische, ediert. Dieses nicht-selektive Verfahren ist Voraussetzung für eine tragfähige Funktionsbestimmung der Glossen. In der Forschungsgeschichte hat man sich bis in die jüngere Zeit üblicherweise auf Teile konzentriert: Wer sich für Griffelglossen interessierte, edierte eben nur diese, auch wenn daneben Federglossen vorhanden waren. Wer an althochdeutschen Glossen generell interessiert war, ignorierte geflissentlich die lateinischen, selbst wenn diese den Großteil des Bestandes ausmachten und zum Verständnis der Funktion der volkssprachlichen Einträge bedeutsam sind. Meistens – so in der monumentalen fünfbändigen Ausgabe von Elias von Steinmeyer und Eduard Sievers – wurden nur die tatsächlichen oder vermuteten lateinischen Lemmata angegeben, auf die sich die althochdeutschen Glossen beziehen. Seit längerem weiß man aber, dass vielfach erst die lateinischen Kontexte Aufschluss über Bedeutung und Funktion einer volkssprachlichen Glossierung geben. Dem trägt Nievergelts Edition uneingeschränkt Rechnung.

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Nievergelt kann mehrere Glossenschichten unterscheiden, die sich allerdings nicht sprachlich, sondern primär durch den Erhaltungszustand und charakteristische Schreibformen von einander abheben. Kurios mutet in diesem Zusammenhang eine Äußerung an wie »Besonders deutliche Glossen sprechen dafür, dass […] auch mit guter Erhaltung zu rechnen ist« (S. 147). Teilweise sind Federglossen-, Griffelglossen- und Texthände identisch. Der Satz »Die Glossen sind in der ganzen Gruppe stark federglossenbezogen« (S. 151) meint wohl, dass in einem bestimmten Bereich Federglossen sehr häufig sind.

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Edition, Ertrag – und die Frage: was ist ein »Neufund«?

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Jede Glossierung erhält einen eigenen mit Numerus currens versehenen Eintrag. Die einzelnen Artikel haben im Maximalfall folgende Ebenen: 1. Stellenangabe (Folio- und Zeilenangabe), 2. lateinisches Textsegment, 3. dessen Übersetzung, 4./5. Lemma, Glosse und philologische Diskussion, 6. gegebenenfalls Abbildung, 7. paläographischer Kommentar, 8. grammatischer und lexikographischer Kommentar.

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Einen Artikel haben auch solche Glossenfälle bekommen, bei denen kein Buchstabe lesbar ist, sondern lediglich die vage Vermutung besteht, dass sich irgendwelche Buchstaben an der Stelle befanden oder auch nur befunden haben könnten. Dergleichen als »Neufunde« zu deklarieren, ist dann doch etwas hoch gegriffen, denn was hat man schon »gefunden«, wenn man nichts oder nur Kratzer im Pergament sieht? Der Begriff »Neufund« ist freilich auch insofern noch zu relativieren, als, wie bereits erwähnt, zahlreiche Griffelglossen nebenstehend auch als Federglosse realisiert (s.o.) und als solche bereits gesehen, gelesen und ediert sind (in der fünfbändigen Glossenedition von Steinmeyer und Sievers und/oder in der Monographie von Ulrike Thies, Die volkssprachige Glossierung der Vita Martini des Sulpicius Severus, Göttingen 1994). Vieles ist somit geläufiges und bereits wohlbekanntes althochdeutsches Vokabular. Neufunde aus dem großen Bestand der Griffelglossen, die erstens zweifelsfrei lesbar, zweitens nicht schon aus den beistehenden Federglossen bekannt sind und die darüber hinaus unsere Kenntnisse des althochdeutschen Wortschatzes bereichern, kommen kaum vor. Solche seltenen Fälle zählt Nievergelt S. 734 auf. Für manches bringt die Edition auch Erst- oder Frühbelege, so z.B. hugilīh, das ansonsten erst im 11. Jahrhundert belegt ist. Auch solche Fälle sind für die Lexikographie des Althochdeutschen von einem gewissen Interesse. Zehn bislang übersehene Federglossen konnten nachgetragen, manches bisher nicht Entzifferte gelesen werden.

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Anhangsweise werden S. 762 bis 777 Griffelglossen aus Handschriften anderer Bibliotheken und S. 780 bis 792 aus weiteren Tegernseer Handschriften der so genannten Gozpert-Gruppe in gleicher Weise ediert und kommentiert wie die des Clm. 18547b. Es wäre für die Forschung zweckmäßig gewesen, in einem Untertitel darauf hinzuweisen.

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Unklare Erklärungen

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Ein rätselhaftes Phänomen sind die geheimschriftlich kodierten Glossen. Hier stellt sich sogleich die Frage: Warum verunklarte man ausgerechnet erklärende Zusätze? Es scheint widersinnig. Nievergelt referiert einige mehr oder weniger ansprechende Theorien, von denen die Annahme gelehrter Spielerei oder der Zwang zum bewussten Lesen (wobei allerdings das Dechiffrieren einen mnemotechnischen Nutzen haben müsste) am meisten für sich haben. Die Chiffrierung als solche ist kein Spezifikum der untersuchten Tegernseer Handschrift, sondern ein überraschend weit verbreitetes Phänomen, wie die Liste von 128 (!) bekannten Handschriften (S. 649–657) zeigt. Weitere Funde nicht ausgeschlossen. – Was die Sprache betrifft, kann Nievergelt einige Details und Berichtigungen zu der Darstellung von Ulrike Thies (s.o.) hinzufügen.

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Insgesamt hat Andreas Nievergelt eine in ihrer Gewissenhaftigkeit und auch im Volumen beeindruckende Monographie vorgelegt. Allein die Entzifferung und Deutung nötigen zu Respekt. Die Funktionalität der merkwürdigen Glossen wird nun wesentlich klarer, als man sie bisher gesehen hat. Sein Endbefund »befreit die Griffelglossierung und die Glossenkryptographie vom Image der glossographischen Geheimniskrämerei und verweist sie in die für die Buchproduktion zentralen Bereiche der Schrift- und Textgestaltung« (S. 794). Diverse Anhänge ergänzen die Darstellung: eine nochmalige tabellarische Edition aller Glossen des ersten Teils von Clm. 18547b, ein Sach-, Personen- und Ortsregister, ein Handschriftenverzeichnis sowie althochdeutsche und lateinische Wortregister. Zwölf qualitativ gute Tafeln (über die Abbildungen im Text hinaus) geben immerhin einen Eindruck von der geleisteten Detektivarbeit. Die Monographie reiht sich würdig in die von Rolf Bergmann und Claudine Moulin herausgegebene »Germanistische Bibliothek« ein