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Der Dichter im Gefängnis der Worte

  • Hugo von Hofmannsthal: Ballette, Pantomimen, Filmszenarien. Hg. von Gisela Bärbel Schmid und Klaus-Dieter Krabiel. (Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe XXVII) Frankfurt/M.: S. Fischer 2006. 936 S. Leinen. EUR (D) 278,00.
    ISBN: 978-3-10-731527-7.
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Der Stellenwert der Ballette, Pantomimen
und Filmszenarien im Werkkontext

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Schon seinen Zeitgenossen gab das Phänomen Hugo von Hofmannsthal in so mancher Hinsicht Rätsel auf. Da war einerseits das junge Literaturgenie mit seiner sagenhaften literarischen Bildung, das selbst erfahrene Leser wie Hermann Bahr verblüffte und mit seiner Sprachmagie Generationen von Dichtern bezauberte. Aber da war auch noch etwas anderes: eine seltsame – für Außenstehende fast unbegreifliche – Unsicherheit im Umgang mit dem eigenen Material, eine manchmal nahezu unüberwindbare Skepsis gegenüber den Worten, die – versteinert zu leblosen Begriffen – den Weg ins Himmelreich der Poesie versperrten. Als einer der wortgewaltigsten seiner Generation war es ausgerechnet Hofmannsthal, der immer wieder auf die Grenzen der Sprache verwies und Wege suchte, das Unaussprechliche, das mit Worten nicht Darstellbare in seinen Werken auf unterschiedlichste Weise zu umschreiben.

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In klarer Opposition zum radikalen, aber auch naiven Realitätskonzept des Naturalismus und anknüpfend an die Wortmagie eines symbolistischen Denkens in Bildern waren Träume, aber auch Augenblicke ganz alltäglicher Beobachtung – wie wir ihnen in seinem so genannten Chandos-Brief (1902) begegnen – eine zentrale Inspirationsquelle für Hofmannsthals Dichtungen. Im Umfeld der österreichisch-ungarischen Monarchie, einem multinationalen, vielsprachigen Staatenverband, in dem Verständigung häufig nonverbal funktionierte und Sprachen wie (Vor-)Schriften oft weniger Bedeutung hatten als die sichtbaren Zeichen der Macht, war Hofmannsthal einem Kommunikationsmodell verpflichtet, bei dem die Oberfläche, das Wie, nicht selten wichtiger war als das Was, die klar definierte Eindeutigkeit abstrakter Begriffe und Inhalte.

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Seine immer wieder gesuchte Auseinandersetzung mit dem Unaussprechlichen kokettiert aber nicht nur mit der Vorstellung nationaler Privilegiertheit. Der gesuchte Bezug zu analogen Denk- und Ausdrucksweisen, denen Hofmannsthal sich in einem konstruktiven, nicht dekonstruierenden Sinne verpflichtet fühlt, findet den stärksten Ausdruck in seinen unermüdlichen Bemühungen um die lebendige Kunst des Theaters. Auf die Affinität zwischen der zeremoniellen Repräsentation der k. u. k. Monarchie und dem in seiner Vorstellung des Österreichertums fest verankerten Sinn für das Theater hat Hofmannsthal selbst vor allem nach dem Ersten Weltkrieg immer wieder verwiesen. Vom Theater und der (katholischen) Schaulust führt ihn der Weg nicht nur zu den Balletten und Pantomimen, die um 1900 eine erstaunliche Renaissance erleben, sondern auch zum Film, lassen sich doch die Theaterformen der Moderne im Allgemeinen und die Ballette oder Pantomimen der Zeit im Besonderen ohne Einbeziehung des medienkulturhistorischen Kontextes nicht begreifen.

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Wie sich mit den Texten der hier vorgelegten Ballette, Pantomimen und Filmszenarien belegen lässt, spielen die sprachlosen Formen des Theaters bei Hofmannsthal schon früh eine zentrale Rolle. Gleichzeitig hat man es – wie sich aus den Selbstkommentaren und Briefen Hofmannsthals erschließt – beim Großteil der Texte mit zwei ganz widersprüchlichen Tendenzen zu tun. Einerseits betont Hofmannsthal immer wieder die Faszination für das Sinnliche, das Performative, aus dem heraus er auch das eigene Verständnis eines sinnlich-mimetischen Wortgebrauchs entwickelt. »Selbstbiografisch: meine Rettung war die sinnliche Wirklichkeit der Worte« (S. 149), notiert er 1906/07 in einem Ballettentwurf von Der Kaiser und die Hexe. Andererseits bekennt er immer wieder, dass ausgerechnet die Ballette, Pantomimen und Filmszenarien immer auch zwei zentralen Zwecken dienen, die sie für ihn selbst und seine Rezipienten gleichzeitig als Kunstwerke relativieren bzw. entwerten: dem Wirken in die Breite und dem Geldverdienen. Dem Dilemma zwischen der tiefen ästhetischen Überzeugung und dem gleichzeitig unverhohlenen Wunsch, nicht nur künstlerisch, sondern auch gesellschaftlich und finanziell Erfolg zu haben, schulden die Ballette, Pantomimen und Filmszenarien ihre spannungsgeladene, typisch moderne Existenz.

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Zu den editorischen Vorgaben des Bandes und
zum medienkulturhistorischen Kontext

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Das Dilemma, dem wir in Hofmannsthals eigener Einstellung zu den vorliegenden Textsorten begegnen, spiegelt sich in deren Edition deutlich wider. Gisela Bärbel Schmid und Klaus-Dieter Krabiel haben sich mit vorbildlicher philologischer Akribie und Genauigkeit an die Editionsprinzipien der kritischen Hofmannsthal-Ausgabe gehalten. 1 Demgemäß beschränkt sich der vorliegende Band weitgehend auf die Erfassung der textlichen Grundlagen und dokumentiert erstmals in kritischer Form den literarischen Anteil Hofmannsthals an den hier versammelten Projekten.

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Das Ergebnis ist in platonischem Sinne ein Schattenriss von Hofmannsthals Bemühungen um die eigentlich wortlosen Künste der Ballette, Pantomimen und Filmszenarien. Entfaltet werden – dem Konzept einer literaturwissenschaftlichen Gesamtausgabe entsprechend – die literarischen Spuren von Künsten, die ihren eigentlichen Sitz auf der Bühne oder auf der Leinwand haben. Vom Faszinosum der tatsächlichen Aufführung erfahren wir nur wenig und nur über den Umweg der Schrift.

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Dass die Texte von ihrem eigentlichen vitalen Element, der performativen Umsetzung, nur eine vage Vorstellung zu geben vermögen, hat die Kritiker schon zu Hofmannsthals Lebzeiten ebenso irritiert, wie die teilweise offen zutage tretenden literarischen Mängel dieser Textsorten. »[A]ls Schöpfer aber hat er vor der Pantomime versagt, weil es ihm an konkreter Phantasie, an Mut zur Sachlichkeit fehlt. Wer eine Pantomime schreibt, muß Bühnenanweisungen schreiben, nicht metaphysische Stammeleien« 2 , hatte bereits Herbert Jhering über Hofmannsthals Pantomimentext zum Fremden Mädchen (1910/11) geurteilt. Nachdem Hofmannsthal den gleichen Text auch als Grundlage für das Textbuch zum gleichnamigen Film nutzte, geriet er 1913 auch ins Visier von Kinokritikern wie Julius Hart: »Von den schlechten Erläuterungstexten, die unseren Kinodramen zugegeben werden, war der Text zu diesem Film einer der allerschlechtesten, in einem wahrhaft, musterhaften Kolportageromandeutsch geschrieben« 3 . Am drastischsten jedoch äußerte sich Karl Kraus:

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Lese, wer nach den Libretti des Herrn v. Hofmannsthal noch nötig hat, eine Jugendliebe zu begraben, die Inhaltsangabe des Kinodramas ›Das fremde Mädchen‹. Wenn der Dichter Paul Wilhelm sich entschließen wollte, seinen zähen Idealismus den Ansprüchen des Lebens zu opfern und seine Kunst in den Dienst des Kinos zu stellen, ein größerer Dreck könnte schwerlich das Ergebnis sein. Dichter, die so etwas können, waren natürlich nie welche, sondern nur ein Lichtspiel der Zeit. 4
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Wer sich von den literarischen Genres der Ballette, Pantomimen und Filmszenarien einen minuziösen Einblick in die Choreographie oder die szenische Umsetzung der Handlung erwartet, wird heute wie damals enttäuscht. Auf die tatsächliche Realisierung der Szenarien wird sowohl in Hofmannsthals Texten als auch in den Erläuterungen nur in Ansätzen Bezug genommen. Streng genommen verbietet es Hofmannsthal die antinaturalistische Überzeugung, der seine Poetik Zeit seines Lebens verpflichtet bleibt, detaillierte Szenarien und Handlungsabläufe unmittelbar auszuformulieren.

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»Noch am 9. Dezember 1912« – so erfahren wir aus den Zeugnissen zur Josephslegende – hatte Hofmannsthal im Schreiben an Strauss »die Herstellung eines Textbuches aus künstlerischen Gründen absolut« ausgeschlossen: »es gibt keinen Text eines Balletts, das Ballett, das eines Textes bedürfe, wäre verfehlt und die Publikation eines solchen Textbuches würde mir mit Recht sehr übelgenommen werden« (S. 402; Hervorhebung im Original). Dass Hofmannsthal sich keine zwei Jahre später dazu durchringt, ein »ganz normale[s] Textbuch« (ebd.) zu autorisieren, gehört zu seinen alltäglichen Übungen als Theaterpraktiker, der sich den Konventionen des Geschäfts schließlich doch nicht verwehrt. Das Textkorpus, das so zustande kommt, hat nicht selten den Stellenwert einer Verlegenheitslösung, 5 die das eigentliche künstlerische Erlebnis, die konkrete Umsetzung, nur ungenügend wiedergibt.

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Den medialen Beschränkungen einer klassischen philologischen Gesamtausgabe entsprechend, deren Konzept in den 1960er Jahren entwickelt wurde, bleiben die außerliteralen, konkreten Erscheinungsformen der Ballette, Pantomimen und Filmszenarien weitgehend im Dunkeln. Die dadurch entstehenden Leerstellen gehen nicht auf das Konto der Herausgeber Schmid und Krabiel. Sie resultieren vielmehr aus der relativen Unbeweglichkeit eines jahrzehntelangen Editionsprojekts, das immerhin innovativ genug war, auch diese in der traditionellen Literaturwissenschaft nicht ganz unumstrittenen Textsorten in einem eigenen Band zu würdigen. Die performativen und medialen Aspekte, die in den letzten Jahren auch in den Theater- und Literaturwissenschaften zu zentralen Forschungsgebieten avancierten, kommen allerdings – gemessen an heutigen Erwartungen und editorischen Möglichkeiten – notgedrungen zu kurz. Eine Dokumentation der zum Teil sogar recht erfolgreichen Umsetzungen durch Standbilder oder andere zeitgemäße mediale Materialergänzungen ist im Konzept der kritischen Ausgabe nicht vorgesehen, stellt aber gerade im Kontext des vorliegenden Bandes und angesichts seines stolzen Preises von 278,- Euro ein deutliches Defizit dar.

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Dem bibliophilen Geist Hofmannsthals entsprechend verwirklicht die Edition dafür seine Vorstellung vom »idealen Buch«, das ohne Bebilderung oder Buchschmuck auskommt und nur durch eine schlichte, klar leserliche Antiqua-Schrift besticht. Der zweiten funktionalen Prämisse von Hofmannsthals Buchkonzept, wie er es selbst im Zusammenhang mit dem Verlag der Bremer Presse in den 1920er Jahren umzusetzen versuchte, der Ermöglichung moderater Preise, die den Wirkungskreis des Autors nicht allzu sehr beschränken, wird die Preispolitik des Fischer-Verlages allerdings nicht gerecht.

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Der Inhalt, Teil 1: Ballette – Pantomimen

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Inhaltlich ist der Band in drei Teile gegliedert. Der erste Teil enthält die Ballette und Pantomimen, die zu Lebzeiten Hofmannsthals veröffentlicht wurden und bereits in der zehnbändigen Werkausgabe des Fischer-Verlages enthalten waren. Hier begegnet man altbekannten Texten wie Der Triumph der Zeit (1900/01), Der Schüler (1901), Amor und Psyche (1910/11), Das fremde Mädchen (1910/11), Josephslegende (1912/14), Die Biene (1914/17), Prima Ballerina (1917), Die grüne Flöte (1916/1923) samt Vorspiel (1916) sowie Achilles auf Skyros (1914/1925).

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Einen besonders breiten Raum nimmt die Josephslegende mit ihren Varianten und ihrer komplizierten Entstehungsgeschichte ein. Deutlich werden daran einmal mehr der Widerwillen und die geringe Sorgfalt, mit der Hofmannsthal in vielen Fällen an die Verschriftlichung der Pantomimen, Ballette und Filmszenarien geht. Getragen von der Überzeugung, dass man Ballette generell nicht verschriftlichen könne, überlässt Hofmannsthal die textliche Gestaltung weitgehend Harry Graf Kessler, der im Fall der Josephslegende gemeinsam mit Nijinsky und Diaghilew auch den Hauptanteil an der bühnengerechten Umsetzung bzw. – wie Hofmannsthal es später nennt – die »Durchführung der Detailerfindung« (S. 404) übernimmt.

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Der Inhalt, Teil 2: Aus dem Nachlass

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Der zweite Teil erschließt eine Unzahl meist kürzerer Fragmente und Entwürfe aus dem Nachlass, von denen nur wenige über das Anfangsstadium vereinzelter Notizen hinausgekommen sind. Hier findet man neben bekannten Stoffen und Thematiken, die Hofmannsthal in anderer Form zur Vollendung gebracht hat [wie Der Kaiser und die Hexe (1906/07) oder Die Furien (1912), einer Variation des Elektra-Themas], eine ganze Reihe von mythologischen, märchenhaften, aber auch alltäglichen Stoffen. Nur selten geht das Erhaltene über eine Seite im Umfang hinaus, in manchen Fällen – wie bei den Notizen zu Apokalypse Hohelied (1893/94) oder Kinderballett (1895/96?) beschränkt sich das Textkorpus auf die bloße Absichtserklärung, ein Ballett machen zu wollen. Ausnahmen stellen die bereits bekannten Ballettskizzen zum Taugenichts (1912) nach Eichendorffschen Motiven sowie die Notizen zur Pantomime Der dunkle Bruder (1912/14/28) dar, ein Stoff, der Hofmannsthal über viele Jahre immer wieder beschäftigt hat und zu dem der vorliegende Band als Nachtrag zu Band XXIX (Erzählungen 2) neun Notizen zu einer geplanten Märchenfassung aus dem Jahr 1914 enthält.

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Charakteristisch für Hofmannsthals Ambivalenz gegenüber den Balletten und Pantomimen ist die abenteuerliche Editionsgeschichte eines Textes, den Konrad Heumann erst kürzlich »als Anlage zu einem undatierten Schreiben Hofmannsthals an Henrica Glaser« (S. 670) in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien wiederentdeckt hat. Das zauberhafte Telephon (um 1893?), ein Text, der aus heutiger Sicht aufgrund seiner avantgardistischen, spielerischen Qualitäten im Umgang mit Inhalt, Form und Umsetzung besonders modern erscheint, wurde von seinem Autor einer namentlichen Veröffentlichung nicht für würdig erachtet.

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Die unkonventionelle Pantomime in Reimen beschäftigt sich inhaltlich mit der utopischen Funktionalität eines Telephons, mit dem man sich per Draht nicht nur sprechen, sondern auch berühren und küssen kann. Umgesetzt sollte die »Pantomime in sechs Bildern« (S. 130), die in einem ebenfalls gereimten Epilog als »Momentaufnahmen bunt und kraus / Und laut auch – wie das Leben« (S. 133) charakterisiert werden, durch zwei nebeneinander liegende Zimmer, die im Stil einer Doppelprojektion durch Verwendung eines Vorhangs rasch hintereinander verhüllt und enthüllt werden sollten. Empfindet der heutige Leser dies als amüsant und geradezu prophetisch (man denke nur an aktuelle technische Entwicklungen in den Bereichen der Mobiltelephonie und der Multimediaprojektion oder an die abgedrehten Cybersexphantasien des digitalen Zeitalters), so wird der Text von Hofmannsthal selbst als »sehr anspruchslose[s] Gerippe« (S. 672) abgetan. Im Falle der »Verwendung« bittet der Autor sogar »um gütige Namensverschweigung« (S. 130).

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Der Inhalt, Teil 3: Filmszenarien

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Der dritte Teil des Bandes enthält die Filmszenarien zu Das fremde Mädchen (1911/13), Daniel Defoe (1922/26), zum Rosenkavalier-Film (1923/26) sowie zum Film für Lillian Gish (1928). Der Vollständigkeit halber hätte man diesen Teil auch um den kurzen Entwurf zum Lucidor-Film ergänzen können, der bereits in Band XXVI (Operndichtungen 4. Arabella, Lucidor, Der Fiaker als Graf) der Sämtlichen Werke enthalten ist. Während bei Balletten und Pantomimen, zwei heute in Vergessenheit geratenen, aber an sich klassischen Textsorten der Literatur, die zur Zeit Hugo von Hofmannsthals vorübergehend wieder hoch im Kurs standen, literarische Überlegungen immer noch überwiegen, steht bei Hofmannsthals Filmprojekten die Hoffnung auf finanziellen Gewinn eindeutig höher im Kurs als das literarische Renommee. Die Herausgeber des Bandes übernehmen dieses implizite Werturteil, indem sie die medienspezifischen Kontexte der Filmszenarien durch die weitgehende Bagatellisierung möglicher konkreter medien- und kulturhistorischer Bezugspunkte und das gänzliche Fehlen visueller Dokumente (Filmstills, Abbildungen von Programmheften etc.) ausblenden.

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Aus dem Blickwinkel einer Filmphilologie, die sich nicht nur für die Originaltexte des behandelten Autors, sondern auch für die (wenn auch zuweilen trivialen) Gebrauchstexte der eigentlichen Umsetzung interessiert, ist es so gesehen vor allem schade, dass schwer zugängliche Materialien (wie zum Beispiel die diversen fremdsprachigen Texthefte zu Hofmannsthals Fremdem Mädchen, aus denen sich ein genauerer Eindruck über den realisierten Film gewinnen ließe) in der Überlieferung nur aufgeführt, nicht aber ausbuchstabiert werden. Ein ähnliches Defizit ergibt sich in Hinblick auf das tatsächlich realisierte Drehbuch zum Rosenkavalier-Film, von dem in den Zeugnissen nur ein kurzer Ausschnitt gegeben wird, oder hinsichtlich der unterschiedlichen Drehbuchfassungen Max Reinhardts zum Film für Lillian Gish. Auch wenn das Fehlen dieser Textquellen dadurch verständlich wird, dass die Texte nicht aus Hofmannsthals eigener Hand stammen (ein Makel, der allerdings wohl auch weite Teile der Josephslegende betrifft), so verringert es doch den filmphilologischen Gebrauchswert der Ausgabe und eröffnet ein weites Betätigungsfeld für notwendige Ergänzungen.

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Der Dichter im Gefängnis der Worte – Ein Fazit

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Die immer wiederkehrende Vorstellung, die Hofmannsthal mit seinen Balletten, Pantomimen und Filmszenarien verbindet, ist die einer poetischen Vision, die ihren eigentlichen Ausdruck nicht in den literarischen Medien der Sprache oder der Schrift findet, sondern in einer magischen Welt der Bilder und der Vorstellung. Das dazugehörige poetische Bild hat Hofmannsthal selbst in seinem einzigen, vollständig zu Ende formulierten Filmskript zu Leben und Werk Daniel Defoes (1922/26) entworfen:

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Die Haftzeit in Newgate war lang, fast zwei Jahre, aber es war keine ganz leere Zeit für Daniel De Foë. Er musste für die Seinen sorgen und Brot schaffen, daran änderte kein Kerker etwas; so konnte man in dem grossen Corridor in Newgate […] zwischen den Dirnen und Diebinnen und Hehlern und Falschmünzern Daniel sehen, wie er in einer Ecke auf einem Schemel sass und Bogen für Bogen seine Zeitung schrieb, die erste ›Rundschau‹, die er begründet hatte […]. Aber auch wenn man ihn um vier Uhr nachmittags in seine Zelle zurückführte war Daniel nicht allein, denn da gab es Nachbarzellen auf dem gleichen Gang und allerlei Gestalten, die da von oben oder von seitwärts durch Gitter und Spalten zu communicieren trachteten mit dem Pamphletisten, der für jeden einen aufmerksamen Blick hatte und sich jedes Namen und Beinamen merkte und sich jede Lebensgeschichte erzählen liess – und nachts, wenn zum Schein alles schlief, da liessen doch die dicken Mauern allerlei durch, Wehlaute und freche Lieder, und für einen, der die Sinne und Einbildungskraft von Daniel hatte, wurden dann die alten mannsdicken Mauern durchsichtig und er sah den Mörder und den Fälscher, den Meineidigen und den Verbrecher aus Leichtsinn, die da auf ihren Strohsäcken lagen oder ihren Kopf gegen die Wand schlugen oder ihre Hände zu Gott aufreckten oder mit versteckten Würfeln spielten, und so waren ihm die Kerkermauern von Newgate wie einem andern die Bühne eines Theaters auf dem Shakespeare oder Molière gespielt wird. (S. 194.)
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Es ist der im Gefängnis in Newgate hinter dicken Mauern sitzende Dichter mit seiner Einbildungskraft, der nicht nur die Schranken der Realität durchbricht, sondern auch die Fesseln der Sprache. Das Fazit, das sich aus der vorliegenden Edition der Ballette, Pantomimen und Filmszenarien Hugo von Hofmannsthals ziehen lässt, ist inhaltlich wie konzeptionell widersprüchlich. Inhaltlich ruft der Band noch einmal die Begeisterung Hofmannsthals und seiner Zeitgenossen für die mimischen Künste in Erinnerung: Der Jugend- und Körperkult des Jugendstils, Hofmannsthals Faszination für Tänzerinnen und Tänzer wie Grete Wiesenthal, Ruth St. Denis oder Vaclav Nijinsky oder die nicht ganz reibungslose Entwicklung des Stummfilms von einer technischen Attraktion zur anerkannten Kunstform, an der Hofmannsthal gemeinsam mit seinen Weggefährten Arthur Schnitzler, Felix Salten oder Felix Dörmann beteiligt ist, bilden den medienkulturhistorischen Hintergrund der Texte. Gleichzeitig wird anhand der Zeugnisse noch einmal deutlich, mit welchem inneren Zweispalt Hofmannsthal selbst seiner literarischen Arbeit an den Balletten, Pantomimen und Filmszenarien immer wieder gegenüberstand.

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Die Herausgeber der kritischen Ausgabe scheinen diesen Widerspruch absorbiert zu haben, indem sie einerseits durch den vorliegenden Band die Bedeutung würdigen, die den Balletten, Pantomimen und Filmszenarien ohne Zweifel im Werkkontext Hofmannsthals zukommt, diese Bedeutung andererseits durch die Ausblendung des konkreten Aufführungszusammenhangs und die Konzentration auf die hofmannsthalschen Textgrundlagen auf ein literarisches Maß zurechtstutzen.

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Als Edition, die – entsprechend den restriktiven Vorgaben der Hofmannsthal-Ausgabe – sowohl in Hinblick auf die Textvarianten als auch hinsichtlich der Erläuterungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, erfüllt der vorliegende Band seinen Zweck mit Bravour. Was die textlichen Grundlagen von Hofmannsthals Beteiligung an den Balletten, Pantomimen und Filmszenarien angeht, wird erstmals weitestgehend Klarheit geschaffen. Zukünftigen Arbeiten über Hofmannsthals Engagement bei Theater und Film ist damit ein unverzichtbarer Leitfaden zur Beurteilung seines literarischen Leistungsvermögens an die Hand gegeben.

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Aufzufüllende Leerstellen ergeben sich vor allem in Bezug auf die darauf aufbauenden Formen der Realisierung, ohne deren Berücksichtigung man Balletten, Pantomimen und Filmszenarien schon aus Sicht Hofmannsthals nicht gerecht zu werden vermag. Welche konkreten Impulse der Autor als Katalysator, Inspirationsquelle, Ideenlieferant oder gar Theatermacher im Einzelnen zu geben vermochte, bleibt durch die philologische Selbstbeschränkung leider zuweilen etwas unklar. Hier eröffnet sich der zeitgenössischen Hofmannsthal-Philologie in wichtigen Detailfragen mit dem Ausblick auf medienkulturhistorische Zusammenhänge auch in den nächsten Jahren noch ein breites Betätigungsfeld.

 
 

Anmerkungen

»Die Editionsprinzipien der Ausgabe sehen die Wiedergabe aller von Hofmannsthal veröffentlichten und nachgelassenen Werke, Fragmente und Notierungen vor. Geboten werden die Werke in der beim Abschluß des genetischen Prozesses erreichten Gestalt. Der kritische Apparat stellt die Entstehungsgeschichte der Texte dar, erfaßt sämtliche Überlieferungsträger, gibt die Notizen und Entwürfe wieder und verzeichnet die Varianz. Er bietet Zeugnisse der Entstehung aus Briefen, Tagebüchern und anderen Aufzeichnungen Hofmannsthals und seiner Zeitgenossen. Die Texterläuterungen bringen neben Wort- und Sachkommentaren vor allem Zitat- und Quellennachweise sowie Hinweise auf Anspielungen und Parallelstellen im Werk Hofmannsthals.« Siehe: http://www.goethehaus-frankfurt.de/hofmannsthal/redaktion.html [Stand: 03.08.2007].   zurück
Herbert Jhering: Grete Wiesenthal. [Aus: Die Schaubühne, 7. Jg. (1912), S. 274.] In: Leonhard M. Fiedler / Martin Lang (Hg.): Grete Wiesenthal. Die Schönheit der Sprache des Körpers im Tanz. Salzburg, Wien: Residenz 1985, S. 105.   zurück
Julius Hart: Kunst und Kino. [Aus: Der Tag, Nr. 257 (1. November 1913).] In: Fritz Güttinger (Hg.): Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm. Textsammlung. Frankfurt/M.: Deutsches Filmmuseum 1984, S. 287–292, hier S. 290.   zurück
Karl Kraus: Ein Verlorener. In: Die Fackel, 15. Jg., Nr. 391/392 (21. Januar 1914), S. 18 f., hier S. 19.   zurück
Eine Ausnahme stellt diesbezüglich der frühe, symbolträchtige Text zum Ballett Der Triumph der Zeit (1900/01) dar, der seinen Reiz in erster Linie aber aus der literarischen Strategie des »verbergenden Enthüllens« und nicht aus der banalen Klarheit naturalistischer Beschreibung entfaltet.   zurück