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Friedrich Perthes, Literaturunternehmer

  • Dirk Moldenhauer: Geschichte als Ware. Der Verleger Friedrich Christoph Perthes (1772-1843) als Wegbereiter der modernen Geschichtsschreibung. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe 22) Köln, Weimar: Böhlau 2008. XII, 694 S. 1 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 79,90.
    ISBN: 978-3-412-12706-0.
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Kaum zu glauben: Das Leben des berühmten Verlegers und hochverehrten Ahnherren einer modernen Branchenpolitik des Buchhandels hat nach über 150 Jahren zum ersten Mal eine Gesamtdarstellung gefunden, die wissenschaftlichen Maßstäben und höheren Lektüreansprüchen gerecht wird. Seit der dreibändigen Nachlasserschließung durch den Sohn Clemens 1 ist Friedrich Perthes als bedeutender Buchhändler und Verleger in Hamburg und Gotha, als aktiver Teilnehmer am politischen Leben seiner Zeit, als Initiator und Ideengeber der Leipziger Buchhandelsorganisation und schließlich als Korrespondenzpartner konservativer Eliten in der bewegten Zeit zwischen 1806 und 1830 nur noch partiell wahrgenommen worden – so oft er auch herbei zitiert wurde, wenn es um die kulturelle Legitimierung seiner Berufsgruppe ging. Die Historische Kommission des Börsenvereins hatte sich noch vor dem Jubiläum von 1972 bemüht, diesem Mangel durch ein Forschungsprojekt abzuhelfen, konnte die Lücke aber auch nicht schließen. Nun ist es einem jungen Historiker und Verlagsfachmann vorbehalten geblieben, sich der Aufgabe allein zu stellen. Dass seine Arbeit vor allem die Vermittlung von Geschichtsschreibung als Thema nennt, ist dabei eher als Arbeitshypothese, denn als Einschränkung zu verstehen.

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Die Aufgabe war angesichts eines beharrlich durch die Zeiten geretteten voluminösen Nachlasses an Korrespondenzen, Geschäftspapieren und Tagebuch-Aufzeichnungen (der mit dem von Cotta vergleichbar ist) einerseits verlockend, andererseits aber auch einschüchternd. Dass sie im Rahmen einer Doktorarbeit – wenn auch mit einem Zeitaufwand von sieben Jahren und von vier Institutionen gefördert – gelöst werden konnte, lässt über den Wandel von Dissertationen zu wissenschaftlichen Großprojekten nachdenken.

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Organisation des Materials

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Schon Clemens Perthes verwies auf den kaum zu bewältigenden Umfang des nachgelassenen Materials – allein mehr als 20.000 Briefe aus eingehender Korrespondenz lagen ihm nach dem Tod des Vaters vor. Er riet daher »Frauen und manchen anderen«, den herangezogenen politischen Briefwechsel lieber zu überschlagen (Vorrede von 1855 zu Band 3). Dirk Moldenhauer hat im Durchgang des Hamburger und des Gothaer Nachlasses und durch rund 50 weitere Archive mehrere tausend Perthes-Briefe sowie »Tausende Tagebuchseiten, Konzepte, Notizen« aufgefunden, die Briefe und Briefentwürfe in Exzerpten und Regesten ausgezogen und in einer Datenbank gespeichert. 2 Die sinnvolle Ordnung und Verwendung einer solchen Materialfülle bedarf natürlich sorgfältiger Überlegung. In der Einleitung des Buches (Kapitel I, S. 1–58) entwickelt der Autor daher ein Gliederungsschema, das sowohl das private und geschäftliche Wirken von Perthes im Rahmen seiner zeitgeschichtlichen Umstände, wie auch sein geistiges, religiöses und politisches Selbstverständnis mit der eigentlichen Buchhandelsgeschichte verknüpft.

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Im Kapitel II wird zunächst die prägende Jugendzeit zwischen 1772 und 1796 dargestellt. Danach folgen drei historiographische Epochenkapitel (III: 1796–1813, IV: 1814–1826, V: 1827–1843), die in fünf jeweils gleichlautenden Abschnitten systematisch gegliedert sind: ›Bürgerliche Existenz‹, Wahrnehmung der Rahmenbedingungen, Historische Sinnbildung, Verlegerisches Handeln und Öffentliches Handeln für die Gemeinschaft, wobei die Grenzen nicht immer präzise verlaufen. So entsteht eine durchaus spannende Form der Geschichtserzählung, die ihre materiellen Grundlagen in die vielen Fußnoten verweist. Diese können dann allerdings schnell vier Fünftel einer Seite einnehmen.

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Kapitel VI fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen. Danach folgt eine Verlagsstatistik 1797–1843 als Anhang. Sie besteht, da durchgehende Bilanzunterlagen fehlen, aus dem Versuch einer Hochrechnung der Produktionsmengen (Titel / Bände und Druckbogen) nach Verlagsgebieten, sowie der addierten Produktionskosten und Umsatzzahlen pro Jahr auf der Grundlage bekannter Kennziffern (Diagramme 1–3, S. 620–622). Das Verfahren ermöglicht einen Einblick in »das Schicksal einer Firma im Zeitverlauf« (W. D .v. Lucius), mit steilen Zuwächsen ab 1830. Eine Verlagsbibliographie (S. 623–640) führt alle Verlagswerke der Perthes’schen Firmen alphabetisch auf und ist durch Bestandsrecherche gegen die Aufnahme nur angekündigter, aber nicht erschienener Titel gesichert.

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Den Abschluss bilden Quellen- und Literaturverzeichnisse, darunter eine Bibliographie der Publikationen von Friedrich Perthes selbst, sowie Personen- und Ortsregister. Da gedruckte Quellen, familiengeschichtliche Literatur und sonstige Sekundärliteratur getrennt erscheinen, ist der Zugriff auf einzelne Buchtitel umständlich.

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Literarische Geschäfte

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Durch das ganze Buch hindurch ist das Bestreben des Autors erkennbar, Verlagsarbeit als eine Abfolge unternehmerischer Entscheidungen darzustellen, die ihrerseits von einer Vielzahl persönlicher, ökonomischer, politischer und, in diesem Fall besonders wichtig: religions- und wissenschaftsgeschichtlicher Umstände und Prozesse bedingt sind. Dieser Blick auf Wechselbeziehungen lässt die klassische Vorstellung von einer autonomen, personenzentrierten Entwicklung des Buchwesens weit hinter sich. Die Darstellung ist bis ins Detail durch Quellen belegt, und damit wiederum frei von kulturhistorischen Spekulationen. Die Napoleonischen Kriege, die »Hanseatischen Angelegenheiten«, die Julirevolution von 1830 und der Vormärz bilden den festen Rahmen der erlebten Geschichte. Das alles verdankt der Autor vor allem der extremen Korrespondenzfreudigkeit aller handelnden Personen zu dieser Zeit, einer Gewohnheit, die nicht nur geschäftliche Mitteilungen aller Art, sondern auch Meinungen, Urteile, Befindlichkeiten und die »Einzelheiten unseres Lebensganges« für die Nachwelt aufbewahrt hat. Perthes selbst schreibt über seinen Briefwechsel: »...er ist die Seele meines Geschäfts, ist überdem meine einzige gesellschaftliche Unterhaltung die mich mit Zeit und Welt in Zusammenhang hält.« (S. 37, Anm. 162)

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Kleine, buch- wie wissenschaftsgeschichtliche Monographien für sich sind die eingestreuten Produktions- und Publikationsgeschichten einzelner Verlagswerke. Ein glänzendes Beispiel bietet die Buchreihe Geschichte der europäischen Staaten (S. 370–417), das »historiographische Großunternehmen«, das es bis 1920, also weit über Perthes’ Lebenszeit hinaus, als Allgemeine Staatengeschichte auf 40 mehrbändige Staatengeschichten und deutsche Landesgeschichten brachte. Dirk Moldenhauer kann anhand der erhaltenen Konzepte, Akten und Korrespondenzen die Absichten des Verlegers, die Stationen der Planung und die Auswahl der Redaktion und der Bearbeiter bis ins Detail beschreiben, ebenso die Konkurrenzlage, die Angebotspolitik (mit zweimaliger Subskription auf die Lieferungen), die Erscheinungsweise, Preisgestaltung und Ausstattung, die intensive Pressearbeit und schließlich die Absatzentwicklung. Die Sortimentserfahrungen von Perthes spiegeln sich in den Details seiner Vermarktungsarbeit wieder. Für die strategische Begabung des Verlegers sprechen zudem zwei Faktoren: Zum einen geht der beträchtliche Druckauftrag an Brockhaus, der damit nicht nur als mögliche verlegerische Konkurrenz ausscheidet, sondern als »Mitgenießer des Fettes, was von der Europäischen Staatengeschichte abträufelt«, (S. 407, Anm. 619) zum Partner wird und in eigenen Publikationen für die Reihe wirbt. Zum anderen gewinnt Perthes staatliche Bibliotheken und Universitäten für den Bezug der Geschichte der europäischen Staaten und nutzt seine Beziehungen zu vielen Regierungen, allen voran der preußischen, um amtliche Förderung zu erreichen. Die Bedeutung der Historiographie als »Kommunikationskanal« für den entstehenden Nationalstaat wird hier sehr anschaulich.

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Friedrich Perthes als Literaturunternehmer – das führt zurück auf die wiederkehrende Einführung der Periodenkapitel unter dem Stichwort ›Bürgerliche Existenz‹. Darunter versteht der Autor die Verbindung von geschäftlicher und privater Lebensgestaltung, also von Firmenentwicklung, Vermögenslage und Einkommen mit Vereinsmitgliedschaften und Freundschaften, gesellschaftlichen Konflikten und Belohnungen, Wohn- und Familienverhältnissen, und er stützt sich dabei auf die neuere Literatur zur Bürgertumsforschung. Perthes erweist sich als Prototyp eines geschäftlich aktiven und erfolgreichen, zugleich christlich gestimmten und konservativ eingestellten Bürgertums, das durch Bildung und Tüchtigkeit zunehmenden Einfluss auf das öffentliche Leben der Nation gewinnt. Das gilt nicht zuletzt für den Literatur- und Wissenschaftsbetrieb, und hier liegt die politische Bedeutung einer Steuerungsfunktion des korporierten Buchhandels, die zu beanspruchen Friedrich Perthes nicht müde wurde.

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Der deutsche Buchhandel als Bedingung

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Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseyns einer deutschen Literatur. Die Betonung im Titel von Friedrich Perthes’ vielzitierter Programmschrift, die 1816 anonym und zudem noch unvollständig erschien, liegt zweimal auf »deutsch« und kennzeichnet damit sein primär nationales Motiv, nämlich die »Einheit der deutschen Literatur« (S. 345–348). 3 Die Veröffentlichung, vorsorglich mit einflussreichen Personen des öffentlichen Lebens abgestimmt (vgl. S. 347), kann als Fortsetzung der »Lobbyarbeit« deutscher Buchhändler auf dem Wiener Kongress von 1814 gelten. Mit der Gründung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler als effektiver und zentraler Standesorganisation im Jahre 1825 erhielt die Programmschrift aus Hamburg dann reale Bedeutung.

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Friedrich Perthes ist nie Vorsteher des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler gewesen und war trotzdem an dessen Gründung sowie an der Entwicklung des zentralen Börsenblatts für den Deutschen Buchhandel maßgebend beteiligt. Er verlangte schon 1840 die Einrichtung einer Unterrichts-Anstalt für Lehrlinge des Buchhandels in Leipzig, die dreizehn Jahre später erfolgte. Für ihn gab es keinen Zweifel, dass der organisierte Buchhandel nicht nur das unerlässliche Vermittlungsinstrument zwischen Literaturproduktion und -rezeption darstelle, sondern dass er über den Buchpreis die gesellschaftlichen Kosten von Literatur und Wissenschaft ausgleiche, und daher gesetzlichen Schutz, zum Beispiel gegen Nachdruck, zu fordern habe. Insgesamt komme ihm bei der Vielzahl der deutschsprachigen Territorien und der externen Situation Österreichs eine übergreifende Funktion als »nationale Anstalt« zu (S. 168).

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Dirk Moldenhauer erkennt, wie vor ihm schon Reinhard Wittmann, sehr wohl die Probleme einer solchen Ideologiebildung bei Perthes. So beziehen dessen Pläne für eine Buchhändlerlehranstalt staatliche Prüfungsinstanzen ein, »da ihnen von Wichtigkeit [ist], daß der Buchhandel in den Händen gewissenhafter u tüchtiger Männer sey« (S. 516). Der Autor nennt das Erziehung zu »staatskonformem Verhalten« und berührt damit das heikle Thema der internen Zensur, das in Perthes’ Schrift Über den Beruf und Stand des deutschen Buchhändlers (1833) zu der Forderung führt, dass der Buchhändler »alle Schriften zurückweise, […] worin durch Verdrehungen und lügenhafte Berichte Gesetze und Verwaltung angegriffen, Personen verletzt werden« (S. 518). Perthes selbst hatte 1827 in der Versammlung des jungen Börsenvereins zur öffentlichen Vernichtung einer anstößigen Schrift von Christian August Fischer alias Althing aufgerufen. Er vollzog damit nicht nur die Konsequenz aus einer staatstragenden Konzeption des Buchhandels, sondern folgte auch seiner eigenen intransigenten Haltung gegenüber allen Formen der sozialen, politischen oder religiösen Abweichung. Die Revolutionen von 1789 und 1830 waren ihm eine traumatische Erfahrung, und »der Götze dieser Zeit, die Öffentlichkeit« (S. 416) erscheint ihm als feuerspeiendes Ungeheuer. Für einen Verleger ist das eine erstaunliche Formulierung. Sie erklärt aber die heftige Ablehnung, die Perthes einem erwerbsorientierten Schriftstellerstand und einem am allgemeinen Publikum interessierten, spekulativen und marktorientierten Buchhandel entgegenbrachte.

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Mit dieser Arbeit liegt ein historisches Werk von hohem, auch aktuellem Erkenntniswert vor. Es wird klar, wie der Geschäftserfolg der Perthes’schen Firmen, von bescheidenen Anfängen ausgehend, den Entscheidungshorizont des Verlegers erweiterte, wie umfangreiche Unternehmungen, wie die Geschichte der Europäischen Staaten, aus den Überschüssen der Hamburger Buchhandlung finanziert werden konnten und ihrerseits die Geschäftsentwicklung beschleunigten, und wie die Spezialisierung des Verlagsprogramms auf Theologie und Geschichtswissenschaft dasselbe bewirkte. Es wird weiterhin klar, wie die persönliche Entwicklung von Friedrich Perthes seine Vorstellungen von einer Organisation des Buchhandels als »nationalem Institut« beeinflusste, und es wird schließlich klar, dass der enge Kontakt mit dem Wissenschaftsbetrieb, und vor allem mit der Geschichtswissenschaft, das Berufsprestige des Verlegers förderte. Die antiliberalen und antimodernen Züge von Perthes’ Verbandspolitik sind allerdings nicht zu übersehen. Der korporierte Buchhandel wird darin zum Bollwerk gegen eine heraufziehende Moderne.

 
 

Anmerkungen

Clemens Theodor Perthes: Friedrich Perthes Leben nach dessen schriftlichen und mündlichen Mittheilungen aufgezeichnet von Clemens Theodor Perthes. 3 Bde. Gotha: Perthes 1848–1858 (und danach).

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siehe dazu URL: http://friedrich-perthes.blogspot.com (10.02.2008).   zurück
Dem repräsentativen Band Der deutsche Buchhandel aus dem Haus Bertelsmann (Gütersloh 1961) ist die Schrift im Anhang als Faksimile beigebunden. Das Vorwort der Herausgeber Helmut Hiller und Wolfgang Strauss macht sich die Losung des Titels ganz zueigen – »heute und in Zukunft«.   zurück