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Wozu und zu welchem Ende?

Zwei neue Einführungen ins Feld der Kulturwissenschaften

  • Sabina Becker: Literatur- und Kulturwissenschaften. Ihre Methoden und Theorien. (rororo - rowohlts enzyklopädie) Reinbek: Rowohlt 2007. 224 S. Kartoniert. EUR (D) 12,90.
    ISBN: 978-3-499-55686-9.
  • Silvia Serena Tschopp / Wolfgang E.J. Weber: Grundfragen der Kulturgeschichte. (Kontroversen um die Geschichte) Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007. VIII, 152 S. Kartoniert. EUR (D) 16,90.
    ISBN: 978-3-534-17429-4.
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Von Lehrbüchern und Leitfäden oder:
Einführungsliteratur in den Kulturwissenschaften

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An Einführungsliteratur in die Theorien, Methoden und Themenfelder geistes- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen mangelt es wahrlich nicht. Der Markt bietet ein sich ständig verbreiterndes Sortiment an Handbüchern, Sammelbänden und disziplinspezifischen Leitfäden. Im Zuge der Einrichtung unzähliger kulturwissenschaftlicher Studiengänge und öffentlichkeitswirksamer Debatten scheint es mittlerweile zum guten Ton zu gehören, sich mittels einer ›Einführung‹ im interdisziplinären Wissenschaftsfeld zu positionieren. Nach einer Phase, in der im Medium der ›Einführung‹ vorrangig die sich neu konstituierenden disziplinären Verhältnisse im Zeichen von Inter- und Transdisziplinarität sowie deren theoretische und methodische Referenzrahmen erkundet und bestimmt worden sind, stellt sich den Autorinnen und Autoren einführender Studienbüchern gegenwärtig die Herausforderung, didaktisch sinnvoll auf die Bedürfnisse von Studierenden der Bachelor- und Masterstudiengänge zu reagieren, die mittlerweile flächendeckend den Lehrbetrieb an deutschen Universitäten bestimmen. Die damit implizierte ›Verschulung‹ der universitären Lehre wurde in den letzten Jahren ausführlich und mit guten Argumenten kritisiert. Gleichwohl ist mit der Neuorganisation der geistes- und kulturwissenschaftlichen Ausbildung die Verpflichtung verbunden, Studienliteratur zu produzieren, die sich wieder konkreter mit dem »Wozu« und »Zu welchem Ende« von Lehre und Forschung beschäftigt. Diese Perspektive auf die Vermittlung der fächerspezifischen Inhalte und Kompetenzen birgt zugleich die Möglichkeit, Profil bildende Impulse freizusetzen, die den mittlerweile zerfaserten Fächern – auch unter interdisziplinärer Maßgabe – wieder schärfere Konturen verleihen könnten. Wenn im Folgenden Sabina Beckers Darstellung zu den Methoden und Theorien der Literaturwissenschaften zusammen mit den Grundfragen der Kulturgeschichte von Silvia Serena Tschopp und Wolfgang E.J. Weber vorgestellt werden soll, so ist freilich zu berücksichtigen, dass hierbei nicht unerhebliche Differenzen bezüglich des Gegenstandsbereichs und der Adressatengruppe beachtet werden müssen. Und doch scheint eine gemeinsame Besprechung legitim, da beide Publikationen erstens für sich in Anspruch nehmen, im weitesten Sinne an den Debatten der Kulturwissenschaften mitzuwirken und zweitens dezidiert mit einer auf die Anforderungen des gegenwärtigen Studienbetriebs reagierenden Konzeption werben.

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Wider den Reduktionismus –
Die Rückkehr des homo culturalis

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In den vergangenen Jahren konnte die Wissenschaftliche Buchgesellschaft wiederholt Beispiele gelungener Studienliteratur präsentieren. 1 Ähnlich erfolgreich dürfte der nun vorliegende Band Grundfragen der Kulturgeschichte aus der Reihe »Kontroversen um die Geschichte« abschneiden. Die Augsburger Kulturhistoriker Silvia Serena Tschopp und Wolfgang Weber bieten auf 121 Textseiten einen erwartungsgemäß knappen, aber dennoch sehr informativen und lesbaren Abriss des aktuellen Standes der Kulturgeschichte in Deutschland, deren institutionellen Standort Tschopp in nachdrücklicher Abgrenzung zur Kulturwissenschaft fasst als »sich spezifischen disziplinären Zusammenhängen verdankende Diskursformation innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften« (S. 24). Der Band weist eine programmatische Dreiteilung auf und beginnt mit Wolfgang Webers Profilskizze der Kulturgeschichte, in der er knapp die Entwicklung der Kulturhistorie über deren Vorgeschichte in Humanismus und Barock bis in die Gegenwart nachzeichnet, die Teilgebiete kulturhistorischer Forschung benennt und aktuelle Themenfelder konturiert. Die thematische Breite, die Phänomene der Identität und Alterität, Generation, Gedächtnis und Erinnerung etc. einschließt, und die produktive Auseinandersetzung mit den theoretischen Impulsen, die etwa von der Ethnologie und Kulturanthropologie ausgingen, bedeuten zugleich den Rückgewinn des verlorengegangenen »vollständigen Menschenbildes« (S. 21), dessen Verteidigung gegen reduktionistische Tendenzen, wie sie momentan im Zuge der biologischen Anthropologie auch verstärkt auf die geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächer ausgreift, Weber als wichtigste Leistung der neuen Kulturgeschichte hervorhebt.

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In einem zweiten Schritt knüpft Silvia Serena Tschopp an Webers Überblickskapitel an, wobei sie vor allem die Kontroversen und Konflikte in den Blick nimmt, die die Konstitution der Kulturgeschichte in den vergangenen Jahrzehnten begleiteten. Entsprechend des nicht trennscharf zu fassenden disziplinären Profils der Kulturgeschichte, vermittelt Tschopp die Entwicklung der übergreifenden historischen Forschung mit den spezifischen Kristallisationsmomenten kulturhistorischer Fragestellungen und Themenfelder und arbeitet so Entwicklungsstränge heraus, ohne über Brüche und Diskontinuitäten hinwegzutäuschen. Die zwei folgenden Teilkapitel zu Kulturbegriffen und -theorien sowie zu den Gegenständen und Methoden der Kulturgeschichte, die vor allem die Pluralität des methodischen Zugriffs und einen »konsensualen Kulturbegriff« (S. 49) hervorheben, stellen ein komprimiertes Referat aktueller und älterer – gleichwohl relevanter und »klassischer« – Positionen dar. Im letzten – und stärksten – Teilkapitel werden die methodischen Angebote der Kulturgeschichte zu den Gegenständen ›Text‹, ›Bild‹ und ›Performanz‹ konkreter in Beziehung gesetzt.

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Abgerundet werden die Grundfragen mit einer übersichtlichen Bibliographie, die durch Verweise mit dem Text verbunden ist. Dadurch ist nicht nur ein schnelles Auffinden der Forschungsliteratur gewährleistet. Indem die Bibliographie sowohl wichtige Monographien und Sammelbände als auch Zeitschriftenaufsätze beinhaltet, erhalten Studienanfänger einen wichtigen Einblick in die Formen akademischer Kommunikation. Dies ist jedoch nur einer von weiteren didaktischen Vorzügen der Grundfragen. Der klar strukturierte Aufbau und die sinnvollen Marginalien ermöglichen schnelle Orientierung und einen kompakten Zugriff. Die Diktion des Bandes dürfte gerade Studieneinsteigern den Zugang zu den doch recht komplexen theoretischen Zusammenhängen erleichtern. Und doch bleibt mit Blick auf die Frage nach dem »Wozu« und »Zu welchem Ende« ein kritischer Rest, denn so nachvollziehbar die Argumentation, so verständlich die Darstellung auch ist; durch die Fokussierung auf die methodischen und theoretischen Kontroversen bleibt die Einsicht in die kulturhistorische Praxis vage. Der weitgehende Verzicht auf die exemplarische Auseinandersetzung mit Fallstudien oder Beispielanalysen lassen das anwendungspraktische Potential der referierten Theorien nur bedingt hervortreten. 2 So mangelt es der Darstellung trotz des positiven Gesamteindrucks an der gewissen Verbindlichkeit, die man sich in Zeiten der universalen Pluralität von einführender Studienliteratur wünscht.

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Produktive Schnittmengen

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Enger als die Autoren der Grundfragen steckt Sabina Becker den Gegenstand ihrer einführenden Darstellung ab. Lässt der Titel ihres Bandes Literatur- und Kulturwissenschaften. Ihre Methoden und Theorien bezüglich des Gegenstandes noch eine weitgehend integrative Perspektive erwarten, wird gleich zu Beginn der Lektüre deutlich, dass »der Gegenstand der vorliegenden Darstellung […] die Methoden und Theorien der Literaturwissenschaft« (S. 7) sind. Dass die Referenz auf den Diskussionszusammenhang »Kulturwissenschaften« nicht ausschließlich etikettierend gesetzt ist, verdeutlicht die Autorin, indem sie sich in ihrer Beschreibung auf die »produktive Schnittmenge« (S. 7) zwischen importierten Theorien und literaturwissenschaftlicher Analyse konzentriert. Im Zentrum des hauptsächlich auf die germanistische Literaturwissenschaft zielenden Interesses stehen nicht die Theorien über Literatur – hier grenzt Becker ihr Anliegen nachdrücklich von normativen Ansätzen und Theoremen der philosophischen Ästhetik ab –, sondern solche Positionen, die einen produktiven und theoriegeleiteten Zugriff auf literarische Texte gewährleisten. Die chronologische Organisation des Bandes versteht die Autorin zugleich als einen Beitrag zur Methodengeschichte der Literaturwissenschaft. In ihrer Darstellung, die von hermeneutischen Modellen über strukturalistische Spielarten bis zu den Gender Studies reicht, spricht Becker alle wichtigen gleichwohl konventionalisierten Theoriefelder an. Die Wege, die die Autorin beschreitet, sind freilich schon recht ausgetreten. Etliche zuvor erschienende Beiträge bieten und leisten in diesem Zusammenhang recht Ähnliches. Dem Band dies als Schwäche anzulasten, wäre jedoch kaum gerechtfertigt, soll doch vor allem die Frage nach der adressatengerechten Aufbereitung im Vordergrund stehen. Hierbei hat Becker Positives in die Waagschale zu werfen. Eine kompakte Gestaltung und verständliche Diktion, eine Bibliographie, die die zitierte Literatur versammelt sowie ein übersichtliches Register empfehlen den Band als Studienlektüre. Die Teilkapitel sind ausgewogen verfasst und können sowohl separat als auch zusammenhängend studiert werden. Durch Querverweise werden die Zusammenhänge und Voraussetzungen der vorgestellten Positionen deutlich und die exemplarischen Interpretationsansätze heben das Potential einzelner Methoden hervor, markieren aber auch Grenzen. Sabina Becker vermittelt das Bild einer theoriegeleiteten Literaturwissenschaft, die sich für die immanenten ästhetischen, strukturellen und sprachlichen Qualitäten von Literatur ebenso interessiert wie für den literarischen Text als kontextualisierungsbedürftiges Kulturphänomen. Ob dies genügt, um sich von der vielfältigen Konkurrenz abzusetzen, bleibt jedoch fraglich. Dieses Büchlein erlaubt darüber hinaus aber noch eine weitere Beobachtung, die vor allem preisbewusste Studierende interessieren dürfte: In dem im Jahr 2006 im Reclam Verlag veröffentlichten Grundkurs Literaturwissenschaft findet sich auf komprimierten 65 Seiten ein verblüffend kongruentes Kapitel »Literaturwissenschaftliche Methoden und Theorien« 3 derselben Autorin. Ebenso brauchbar, aber zum halben Preis!

 
 

Anmerkungen

Vgl. z.B. die bei der WBG bereits in der dritten Auflage erschienenden Bände: Markus Fauser: Einführung in die Kulturwissenschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006; Achim Geisenhanslüke: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zur Medienwissenschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006.   zurück
Vgl. exemplarisch für eine praxisorientierte Einführung in die Kulturgeschichte: Achim Landwehr / Stefanie Stockhorst: Einführung in die Europäische Kulturgeschichte. Paderborn: UTB 2004.    zurück
Sabina Becker: Literaturwissenschaftliche Methoden und Theorien. In: Sabina Becker / Christin Hummel / Gabriele Sander (Hg.): Grundkurs Literaturwissenschaft. Stuttgart: Reclam 2006, S. 219–287.   zurück