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Dichtung ohne Worte?

Der Verzicht auf das Wort bei Jirí Kolár

  • Astrid Winter: Metamorphosen des Wortes. Der Medienwechsel im Schaffen Jirí Kolárs. Göttingen: Wallstein 2006. 832 S. 226 z.T. farb. Abb. Gebunden. EUR (D) 96,00.
    ISBN: 978-3-89244-972-0.
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Bisher kannte man Jiří Kolář (1914–2002) meist entweder als Vertreter der konkreten und visuellen Poesie oder als Collage-Künstler. Werden seine frühen Typoskriptgedichte vor allem in seiner tschechischen Heimat geschätzt, so sind im Westen fast nur die späten bildkünstlerischen Werke bekannt. Dem etwa 1959 beginnenden Medienwechsel vom dichterischen Wort zur bildenden Kunst entsprechend zerfällt auch die Beschäftigung mit seinem Œuvre gewöhnlich in eine literaturwissenschaftliche und eine kunstwissenschaftliche Herangehensweise.

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Die Literatur- und Kunstwissenschaftlerin Astrid Winter tritt nun an, diesen Graben zu schließen und das Gesamtwerk Kolářs unter einer gemeinsamen Fragestellung zu erfassen. Ihre These lautet, dass der Medienwechsel so radikal gar nicht war, sondern eher als eine allmählich und konsequent vollzogene »diachrone Wandlung eines individuellen Gattungsgefüges« (S. 203, Fußnote 40) zu verstehen ist. Ausgangspunkt ist die Behauptung Kolářs, »noch als Künstler ein Dichter geblieben zu sein« (S. 17). Dieses Postulat einer poetischen Kontinuität mutet paradox an angesichts eines absolut divergenten Œuvres, welches sich immer mehr vom dichterischen Wort entfernte und zum Schluss fast nur noch nonverbale Medien nutzte, wurde von der Kritik bisher aber häufig ungeprüft kolportiert. Winter nun will es zunächst auf seine Berechtigung hin überprüfen und dabei zugleich die Frage diskutieren, ob man von einer »Priorität der Dichtung außerhalb der Wortkunst« (S. 44) überhaupt sprechen kann. Der Titel der Dissertation, in dem die Autorin bewusst kein Fragezeichen hinter die Formulierung »Metamorphosen des Wortes« setzt, nimmt das Ergebnis der Analyse vorweg. Dennoch ist es spannend zu lesen, wie Winter den Medienwechsel nachzeichnet und auf konstante Grundprinzipien hin überprüft, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, trotz aller Material-, Medien- und Methodenvielfalt von einem einheitlichen und entschieden dichterischen Gesamtwerk zu sprechen.

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Tschechischer Kontext

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Im ersten, recht umfangreichen Kapitel ordnet sie den individuellen Schaffensprozess Kolářs in den historischen Kontext ein. En passant liefert Winter eine umfassende und zugleich sich nicht im Detail verlierende historische Darstellung der tschechischen experimentellen Poesie nach 1945. Der Anspruch der Arbeit, im Hinblick auf die wenigen deutschsprachigen Arbeiten zu diesem Thema auch einen entschiedenen »Beitrag zu einer Bibliographie der tschechischen experimentellen Poesie« (S. 41) leisten zu wollen, wird dabei auf überzeugende Weise eingelöst.

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Berücksichtigung finden hier zum einen die angespannte kulturpolitische Situation in der ČSSR und die sich herausbildenden künstlerischen Netzwerke und Freiräume im halböffentlichen Bereich, zum anderen die Rolle Kolářs als Inspirator und moralische Leit- und Integrationsfigur, schließlich aber auch ein informativer Querschnitt durch Biographien, Credos und Œuvres der anderen wichtigen Protagonisten der tschechischen Poesie (Bohumila Grögerová, Josef Hiršal, Ladislav Novák). Sie alle vereinte »die Vision einer nicht funktionalisierbaren Literatur« (S. 159). Auch wenn mitunter etwas verkürzt dieser gesellschaftskritische Hintergrund als ausschließliche Besonderheit der tschechischen Poesie bezeichnet wird 1 (parallele Ausgangsbedingungen mit ähnlichen Auswirkungen auf die Literatur finden sich schließlich auch in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks), so wird doch schlüssig aufgezeigt, dass zum einen die Experimente Kolářs »nicht als etwas Singuläres zu begreifen [sind], sondern als eine historische Tendenz« (S. 71), und dass sich zum anderen seine »Entscheidung, das Wort der Dichtung zu verlassen«, nicht zuletzt auch aus »der moralischen Verpflichtung des Dichters [ergibt], unbeirrt gerade mit seinem Werk gegen jede Einschränkung menschlicher und künstlerischer Freiheit einzustehen« (S. 679).

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Dezidiert wird in diesem Kapitel aber auch der häufig unterbelichtete Beitrag der tschechischen Poesie im internationalen Zusammenhang herausgestellt. Winter weist hier zu Recht auf ein Forschungsdefizit hin – eine wirkungsgeschichtliche Analyse könnte weit über die Bohemistik und Slavistik hinaus ertragreich sein. Das von Winter skizzierte Netzwerk zwischen den Tschechen und der Welt ist beeindruckend ob seiner Größe, aber auch ob der Möglichkeit seiner Existenz unter den damaligen politischen Rahmenbedingungen überhaupt. Darüber hinaus beschreibt Winter den Austausch endlich einmal nicht aus der westlichen Sicht, sondern weist im Gegenteil darauf hin, für welche Irritationen auf tschechischer Seite es sorgte, wenn die Übereinstimmungen in künstlerischer Hinsicht begleitet waren von einer absoluten Verkennung der politischen Situation. 2

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Gattungsvielfalt

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Nach dieser Einbettung der individuellen Poetik Kolářs in den historischen Kontext folgt eine Analyse der einzelnen Etappen von der verbalen zur visuellen Poesie, in der das Text-, Bild- und Objektmaterial am o.g. Postulat des Künstlers systematisch überprüft wird. Dabei konzentriert sich Winter auf die Zeit des Übergangs vom Wort zum Bild, d.h. von den ersten visuellen Typoskriptgedichten 1959 bis zur letzten Sammlung verbaler Poesie im Jahr 1967.

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Der Weg zur ›Dichtung ohne Worte‹ wird begleitet von unglaublich vielfältigen Experimenten und Gattungsneuerfindungen Kolářs. Auch wenn sich etliche dieser Experimente als Sackgassen erwiesen und nicht weiterentwickelt wurden, weil sie sich z.B. im Einfall selbst schon erschöpften, sind sie doch alle erwähnenswert und analysebedürftig, postuliert Winter, denn die Experimentierfreudigkeit und -vielfalt in alle nur denkbaren Wahrnehmungsbereiche hinein lassen »auf eine existentielle Notwendigkeit des Suchens schließen« (S. 17). Darüber hinaus geben sie Auskunft über die Zielrichtungen der Suche und über den geistigen Reifungsprozess:

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Jedes Detail einer neuartigen Gattung oder Methode fungiert darin als jeweils anders akzentuierte Lösung formaler Probleme und weist gleichzeitig über sich hinaus, wird bedeutungsvoll durch die Rolle, die ihm bei der Herausbildung einer zunehmend universaler werdenden Dichtungsauffassung [Kolářs] zukommt. (S. 163 f.)
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Damit verbunden ist jedoch, dass »dem in ihnen [den Kunstwerken, A.G.] verwirklichten Konzept eine werkgeschichtlich gesehen größere Bedeutung zukommt als dem Gehalt des Einzelwerks oder der Aussage der verwendeten Dinge« (S. 566). Dies führt häufig zu einer bewusst »summarische[n] Behandlung der verschiedenen Spielarten« (ebd.), bei der viele Kunstwerke relativ kurz vorgestellt werden, während man sich mitunter ein längeres Verweilen bei einzelnen Werken und ausführlichere, an Winters brillante Analysen der Herstellungstechnik 3 und Werkstruktur anknüpfende Beispielinterpretationen gewünscht hätte.

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Geht man aber nun mit Winter davon aus, dass die »Gattungsbildung in der Dynamik des Medienwechsels eine treibende Kraft« (S. 191) darstellt, so steht die Arbeit damit vor der gewaltigen Herausforderung, dieses immense und disparate Korpus an Texten und Objekten fassen und kategorisieren zu müssen und dabei trotz allem eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber dem Begriffs- und Beschreibungsinventar des Künstlers zu bewahren. Die Gattungsproblematik bildet daher zu Recht einen Schwerpunkt vorliegender Arbeit – ihr ist ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem Ansätze der literarischen Hermeneutik (Jauß’ Konzept der literarischen Evolution), des tschechischen Strukturalismus (Vodička) und der Stuttgarter Schule um Max Bense auf ihre Anwendbarkeit hin geprüft werden. Letztlich werden drei Werkklassen herausgearbeitet, die über einen zunehmenden Grad an Desemantisierung, Ikonisierung und Konzeptualisierung den Weg hin zu einer ›Dichtung ohne Worte‹ aufzeigen.

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Von der Typogrammpoesie über
die destatische hin zur evidenten Poesie

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Typogrammpoesie

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Unter die Kategorie der Typogrammpoesie fallen die frühen Flächentexte, Wortgruppen-, Wort- und Buchstabenkonstellationen, die hier in einem bemerkenswerten Übersetzungskraftakt endlich auch Nichtbohemisten zugänglich gemacht werden. Zugleich nutzt Winter die Gelegenheit, um mit einem Missverhältnis in der Darstellung des dichterischen Werks Kolářs aufzuräumen. Bilden internationale Anthologien visueller und konkreter Poesie häufig nur jene frühen Texte ab, die mit der klassischen mimetischen Umrissfiguration oder dem Piktogramm arbeiten, so belegt Winter, dass solche Beispiele nur einen verschwindend geringen Anteil am Gesamtœuvre Kolářs haben. Damit kann Winter zugleich beweisen, dass Kolářs Intention eben »nicht selbstzweckhaft auf oberflächliche Wirkungen« gerichtet war, »als er sich der optischen Qualitäten des Textes zu bedienen begann« (S. 262, vgl. auch S. 336), wie es der visuellen Poesie oft vorgeworfen wird. Vor allem aber wird in diesem umfangreichen Kapitel an unzähligen Beispielen in höchst differenzierter und souveräner Darstellung unter Zuhilfenahme v.a. linguistischer und semiotischer Termini aufgezeigt, wie die visuelle Komponente der Texte immer mehr an Bedeutung gewinnt, in die Wortsyntax und -semantik eindringt und zur Bremsung der automatisierten Wahrnehmung führt.

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Destatische Poesie

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Als destatische Poesie bezeichnet Kolář poetische Gebrauchs- und Regieanweisungen meist ungewöhnlichen, nichtalltäglichen Charakters. Die Realisierung des Textes, also die Ausführung der Anweisung in Gedanken oder in Aktion, bleibt dem Rezipienten überlassen. Hier geht es nicht mehr um die visuelle Gestalt der Texte, sondern um eine sprachlich vermittelte Idee, die prinzipiell auch in anderen Formen, Sprachen, Medien vermittelt werden könnte. Dergestalt rückt die kommunikativ-performative und soziale Funktion des Gedichts in den Vordergrund, was Winter als eine implizite Kritik Kolářs an der allgegenwärtigen Normierung und Manipulation der Kommunikation deutet. In Hinsicht auf die Ausgangsthese der Arbeit macht Winter plausibel, dass es sich hier keinesfalls um eine sich als ›Wortkunst‹ verstehende Dichtung handelt. Zwar kennzeichnet Kolář diese Texte immer noch durch ihre Gattungsbezeichnung, durch die Gliederung des Textes in Verse, durch syntaktische Parallelismen und semantische Klimaxe als Poesie. Doch kommt es mit dem aktionistischen Moment zu einer weiteren Verwandlung seiner Poesie – nach ihrer Desemantisierung und Visualisierung in den Typogrammgedichten werden die Gedichte nun konzeptualisiert und damit gewissermaßen auch dematerialisiert und nähern sich so verwandten Erscheinungen aus der Kunstgeschichte wie Happening, Performance, Event und Fluxus an.

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Evidente Poesie

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Mit dem Leitbegriff der ›evidenten Poesie‹ markiert Kolář die endgültig vollzogene Ablösung seiner ›Dichtung‹ von der verbalen Grundlage, vom Wort. In diese Kategorie fallen alle nonverbalen Gattungen wie Collagen, Rollagen und Assemblagen, »in denen Bilder und Objekte zum Ausdrucksmittel werden und unterschiedlichste Techniken zum Einsatz kommen« (S. 217). Trotzdem – an das Ausgangspostulat Kolářs sei hier erinnert – handelt es sich nach Meinung Kolářs um Dichtung, wenn auch um ›Dichtung ohne Worte‹.

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An diesen eindeutig bildkünstlerischen Phänomenen muss sich nun beweisen, ob es gerechtfertigt ist, das gesamte Œuvre unter einem vereinheitlichenden Blickwinkel zu betrachten und dabei eine »literaturwissenschaftlich fokussierte Betrachtung« (S. 429) zu favorisieren. Bedenken kommen auf, wenn diese Herangehensweise damit begründet wird, dass Kolář selbst allen seinen Werken eine gewisse Poetizität zuschreibt und dass zudem seine Metatexte einen literarischen Charakter aufwiesen (vgl. S. 429). Zwar hinterfragt Winter vorsichtig die Tragfähigkeit mancher Vergleiche aus der Sekundärliteratur, die in den Rollagen Kolářs ein dichterisches Metrum und gar ein Sonett erkennen, und diskutiert, ob Merkmale wie Rhythmus, Dynamik, Mehrstimmigkeit, Variation ausreichen, um Werke als literarische zu kennzeichnen (vgl. S. 535 f.). Doch neigt sie in ihrer Argumentation zum Beweis der Ausgangsthese der Arbeit stellenweise selbst zu einem allzu metaphorischen Begriffsgebrauch.

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Ein sehr weit gefasster Schriftbegriff, der sich vom traditionell sprachzentrierten Verständnis der Schrift lossagt, lässt sich zum einen mit Kolářs ausgeprägtem Interesse an Ideographien, zum anderen mit den Erkenntnissen der in den letzten Jahren stark in Bewegung geratenen Schriftforschung sehr gut begründen, denn erst dies erlaubt die Einbeziehung solch lange Zeit vernachlässigter Phänomene der Schrift, des Schriftgebrauchs und des Schreibens wie der Materialität, Medialität, Schriftbildlichkeit, Operativität, Schreibszene, Arabeske und Spur. 4 Im Fall der hybriden Kunstwerke Kolářs ist solche eine Revision und Erweiterung des Schriftbegriffs geradezu zwingend erforderlich. Doch scheint eine absolute Entgrenzung und Universalisierung des Schriftbegriffs, wie sie sich z.B. in folgender Formulierung zu einer Rollage mit anamorphotischem Effekt verbirgt, der Erkenntnis wenig dienlich:

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Abgesehen von der optischen Irritation werden neue Strukturen sichtbar, abstrakte Muster, die durch Wiederholung der Ausschnitte entstehen. Die willkürliche Segmentierung kontinuierlicher Linien und Farbflächen produziert auf diese Weise eine Ornamentik, ja man könnte fast sagen, eine bisher unbekannte Schrift, welche allein durch die dem Kunstwerk innewohnenden Wesenszüge hervortritt. (S. 525 f., Hervorh. A.G.)
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Auch an folgendem Beispiel aus einer Analyse einer Muchlage (dt. Zerknüllung) ließe sich diskutieren, welchen Erkenntnisgewinn hier der Begriff einer abstrakten Schrift bringt: »Die entstehenden Falten ergeben eine abstrakte Schrift, die aus der Vorlage zusätzliche Bedeutungsebenen hervortreten läßt.« (S. 481)

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Und doch: Abgesehen von einigen wenigen solcher allzu freien Formulierungen vermag es Winter, das Paradoxon einer ›Dichtung ohne Worte‹ an ausgesuchten Fallbeispielen plausibel zu machen und überzeugend nachzuweisen, dass die Schrifthaftigkeit letztlich in allen, selbst den nonverbalen Kunstwerken gewahrt bleibt.

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So wird gezeigt, wie bei den unleserlichen und asemantischen Schreibgedichten, die das Gekritzel Schriftunkundiger oder das Punkt-Strich-Relief der Brailleschrift nachahmen, die Handschrift und der Schreibakt oder die Faktur der Schrift in den Vordergrund rücken. Auch die Schriftgedichte und Schriftcollagen, die auf dem Zerschneiden und Zusammenkleben von Fertigteilen beruhen, werden als noch dem dichterischen Wort verpflichtete Werke dargestellt. Der Umgang mit Vorgefundenem tritt hier an die Stelle des Schreibens, der (Ein-)Schnitt wird zum zeichenhaften Akt, der Schreiber zum Bastler: »Er schreibt nunmehr mit Schere und Skalpell.« (S. 496) Und selbst bei den Bildcollagen und Rollagen, die ohne jedes Text-, Schrift- und Schreibelement auskommen, kann Winter beweisen, dass Kolář noch immer vom Umgang mit dem Wort geprägt ist, wenn er die Bilder und Fotos erstens in Zeilen mit einer regelmäßigen Metrik und Rhythmik anordnet und sie zweitens in diskrete Einheiten, wie sie die Schrift auszeichnet, zerschneidet: »Mit den Merkmalen der Substanz des visuellen Bildes erzielt Kolář visuell-poetische Wirkungen, ohne in die Bildkunst wirklich einzudringen oder sich ihren ästhetischen Bedingungen unterwerfen zu müssen.« (S. 536)

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Endpunkt dieser Entwicklung weg vom dichterischen Wort sind die Assemblagen und Objekte, in denen Kolář etwa ab 1962 nicht nur auf das referentielle Wort, sondern auch auf das repräsentierende Bild verzichtete: »Kolář ›verfaßte‹ nun dreidimensionale Gedichte« (S. 564). An anderer Stelle heißt es, Kolář nutze seine Objektgedichte, um »freie Verse mit Gegenständen zu ›schreiben‹« (S. 577 f.). Auch wenn Winter die Verben hier in Anführungszeichen setzt, handelt es sich im Gegensatz zu den o.g. Zitaten nicht um einen rein metaphorischen Sprachgebrauch, sondern um eine präzise Beschreibung der Kolářschen Arbeitsweise bzw. der Werkstruktur. Dies zeigt sich insbesondere in der differenzierten und begründeten Interpretation der Assemblage »Schwarzer Zucker«, die selbstbezüglich »Verlust und Gewinn des evidenten Schreibens« (S. 581) zur Sprache bringe. 5 Hier gilt in der Tat: »Daher kann man trotz der Nicht-Sprachlichkeit mit Fug und Recht von visueller Poesie sprechen.« (S. 577, Hervorh. A.G.)

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Herstellungstechniken

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Hervorhebenswert ist des Weiteren die bei literaturwissenschaftlich ausgerichteten Studien viel zu selten zu beobachtende Aufmerksamkeit, die Winter den technischen und medienästhetischen Bedingungen und Möglichkeiten der einzelnen Gattungen widmet. Dies gilt insbesondere für die Schreibmaschinenschrift der Typogrammpoesie, für die Schreibgeste und besondere Handschrift der Schreibgedichte und für die Schnitte und Montagen der Rollagen, deren spezifische, sowohl einschränkende als auch herausfordernde, Produktionsbedingungen und daraus hervorgehende Wirkungsmöglichkeiten en détail dargestellt werden. Dergestalt kann Winter zugleich mit weit verbreiteten Annahmen aufräumen, die aus der Nichtbeachtung der Produktionsbedingungen resultieren. So belegt sie luzide, dass

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vielen Typogrammen, die den Eindruck erwecken, Produkt eines spontanen Schreibakts zu sein, ein längerer, umständlicher Herstellungsprozeß vorausgegangen sein kann, der nicht unbedingt ausdrucksmäßig mit dem erzielten Ergebnis korrespondiert, ihm unter Umständen sogar entgegengesetzt ist. So dürfen pauschale Schlüsse, die sich aus der Feststellung einer écriture automatique ableiten und etwa die Darbietungsweise als visualisierte Spur psychischer Bewußtseinszustände annehmen, nur mit der Einschränkung bestätigt werden, daß entsprechende Texte oft mit dieser klar bestimmten Wirkungsintention rational komponiert wurden. Das Produkt muß durch den retardierten Akt der Hervorbringung keine direkten Rückschlüsse auf die tatsächliche Verfassung des Produzenten zulassen, selbst wenn dies vom Autor im Titel suggeriert wird. (S. 221, Hervorh. im Orig.)
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Fazit der Untersuchung des medienästhetischen Potentials der Schreibmaschinenschrift ist, dass diese letztlich zwischen Typographie und Handschrift anzusiedeln sei: »Mit jener verbindet sie die Gleichförmigkeit der gedruckten Typen und die Vermitteltheit der mechanischen Erzeugung. Mit dieser teilt sie die komplizierte Verknüpfung automatisierter kognitiver und motorischer Prozesse.« (S. 223) Diese anregende Erkenntnis – bei der man sich fragt, wieso in den bisherigen Arbeiten zur konkreten Poesie noch kaum jemand dem Produktionsprozess Beachtung geschenkt hat – fordert weitere Untersuchungen regelrecht heraus.

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Auf ähnlich selbstverständliche Weise lenkt Winter auch bei den anderen besprochenen Kunstwerken immer wieder das Augenmerk auf die Herstellungstechniken. So wird bei den Rollagen der Akt und die Logik des (Zer-)Schneidens explizit hervorgekehrt: »Die folgenden Überlegungen zur Rollage gehen nicht von der bildsemantischen Einzelanalyse aus […], sondern in erster Linie von der technischen Seite, da sie die Grundlage der im Anschluß zu bestimmenden Semantik der dichterischen Geste bildet.« (S. 517) Dies mag eine, sowohl für Literatur- als auch für KunstwissenschaftlerInnen, gewöhnungsbedürftige Herangehensweise sein. Sie liefert der Autorin aber immer wieder fundierte Argumente für die These einer ›Dichtung ohne Worte‹, da gerade die Produktionsbedingungen in nuce zeigen, dass der Bezug zur Schrift und zum Schreiben immer gewahrt bleibt und sich bei aller Unterschiedlichkeit der Produkte doch konstante Konstruktionsprinzipien herauskristallieren lassen, und zwar: Selektion (in den Worten Kolářs: »Verhör«, S. 277), Destruktion und Kombination des Materials.

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Synthesen

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Damit wurde nun bereits mehrfach deutlich, worin die Einzelanalysen münden: in einer Bestimmung der Kolářschen Poetik insgesamt. Winter belegt »konstante poetologische Grundsätze in einem trotz aller Divergenzen einheitlichen Gesamtwerk« (S. 602, Hervorh. im Orig.). Absolut zentral sind die Zusammenführung heterogener Elemente, seien sie verbaler oder visueller Natur, und die daraus erwachsene Polyphonie der einzelnen Werke, wobei dies nicht »harmonisierende Kombination des selektierten Materials, sondern Konfrontation und Reibung« (S. 645) und »Differierung des Ähnlichen« (S. 651) bedeutet und von Anfang an auch mit Ideologiekritik verbunden war. Resultierend aus diesen Prinzipien der »Differenz, Ambivalenz und Bedeutungsoffenheit« (S. 675) ist das Werk Kolářs grundlegend geprägt durch Dichotomien (Dynamik vs. Statik, Fragmentarität vs. Ganzheit, Chaos vs. Ordnung, Konkretion vs. Abstraktion, Prozess vs. Produkt, Form vs. Inhalt), wobei Kolářs Leistung nach Winters Ansicht v.a. »in der Entfaltung des Zwischen« (S. 675) besteht. Damit ist Kolářs Œuvre ein weiterer Beweis dafür, wie sehr die künstlerische Praxis des 20. Jahrhunderts von der Grenzüberschreitung, der Expansion und dem Dazwischen geprägt ist. Winters interdisziplinäre Arbeit wiederum ist ein Beweis dafür, dass die theoretische Aneignung hinter der künstlerischen Praxis nicht zurückbleiben muss, sondern dass auch Theorie und Wissenschaft ihre Grenzen fließend gestalten können und vom Ineinander der Disziplinen profitieren können.

 
 

Anmerkungen

»In der individuellen, nicht gruppenspezifischen Genese aus moralischer Notwendigkeit, teils aus oppositioneller Haltung, teils aus der organischen Entwicklung individueller Poetiken, offenbart sich somit eine Differenzqualität gegenüber anderen nationalen Spielarten.« (S. 156, Hervorh. A.G.)   zurück
Während beispielsweise Hiršal von der Staatssicherheit verhört und Kolář in Haft war, erwog etwa Reinhard Döhl die Übersiedlung nach Prag, »weil er der Meinung war, in Deutschland nicht frei arbeiten zu können. Ludwig Harig und Schuldt hielten die Tschechoslowakei für ›ein Land mit tausend und einer Möglichkeit‹, Timm Ulrichs gar für das ›Paradies der Konkretisten‹« (S. 157).   zurück
Vgl. unten stehender Abschnitt dazu.   zurück
Aus dem deutschsprachigen Raum allein wären beispielsweise zu nennen: Wolfgang Raible: Die Semiotik der Textgestalt. Erscheinungsformen und Folgen eines kulturellen Evolutionsprozesses. Heidelberg 1991; Hans Ulrich Gumbrecht / Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Schrift. München 1993; Susi Kotzinger / Gabriele Rippl (Hg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske. Amsterdam 1994; Sabine Gross: Lese-Zeichen. Kognition, Medium und Materialität im Leseprozeß. Darmstadt 1994; Hans Ulrich Gumbrecht / Karl Ludwig Pfeiffer: Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M. 1995; Peter Koch / Sybille Krämer (Hg.): Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes. Tübingen 1997; Erika Greber / Konrad Ehlich / Jan-Dirk Müller (Hg.): Materialität und Medialität von Schrift. Bielefeld 2002; Horst Bredekamp / Sybille Krämer (Hg.): Bild, Schrift, Zahl. München 2003; Martin Stingelin (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«: Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München 2004; Susanne Strätling / Georg Witte (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift. München 2005; Davide Giuriato / Martin Stingelin / Sandro Zanetti (Hg.): »Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen«: Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. München 2005; Grube und Werner Kogge (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. München 2005.    zurück
»Als ein Substanz gewordenes Oxymoron konnotiert der Zucker […] die bittere Süße des poetischen Gewinns, der mit dem Verlust des dichterischen Wortes einherging. In seiner verdichteten Schwärze ist er im Gedicht durchsichtiger Ausdruck einer neuen Evidenz, die mit der ursprünglichen Bestimmung erkauft wurde.« (S. 580)   zurück