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Systemtheorie für den Alltag?

  • Fritz B. Simon: Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. 2. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer 2007. 120 S. Kartoniert. EUR (D) 12,95.
    ISBN: 978-3-89670-547-1.
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Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?

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Die Popularität der Systemtheorie ist aufgrund ihrer Wirkmächtigkeit nach wie vor ungebrochen. Nicht nur in den Geisteswissenschaften wird sie als ein Werkzeug geschätzt, mit dessen Hilfe sich Komplexes auf ein verständliches Niveau reduzieren lässt. Auch Pädagogen, Psychologen und Unternehmensberater bedienen sich systemtheoretischer Ansätze, um zu verstehen und zu erklären, was aufgrund großer Komplexität unerklärbar erscheint. Der Arzt, Psychoanalytiker und Organisationsberater Fritz B. Simon bereitet in seinem Band Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus unterschiedliche systemtheoretische und konstruktivistische Ansätze für soziale Praxisfelder auf. Der Klappentext verspricht dem Leser eine »kompakte und konsistente theoretische Basis für sein Handeln in nicht berechenbaren Umwelten« – Systemtheorie für den alltäglichen Gebrauch.

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›Warum Systemtheorie?‹

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Zunächst stellt Simon in seiner Einführung zahlreiche Theorieansätze der wichtigen Wegbereiter der Systemtheorie (unter anderem Humberto Maturana und Francisco J. Varela, Talcott Parsons, George Spencer-Brown, Niklas Luhmann) in unterschiedlicher Breite und Tiefe vor, die dann zu einem theoretischen Grundgerüst verflochten werden. Diese Plattform dient als Basis für das eigentliche Ziel des Bandes, (System-)Theorie für die (Alltags-)Praxis gangbar zu machen. Doch bevor Simon in die eigentliche Materie eintaucht, lädt er den Leser ein, ihm auf eine kurze Zeitreise durch die Wissenschaftsgeschichte zu folgen. Ausgehend von René Descartes zeigt der Autor anschaulich die Grenzen zweiwertiger Logik und das Problem der Selbstbezüglichkeit der Erkenntnis auf. So schafft er eine Berechtigungsgrundlage für die ›Wunderwaffe Systemtheorie‹.

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Anhand der grundlegenden Überlegungen von Ludwig von Bertalanffy legt Simon dar, wie sich die Systemtheorie in ihren Grundzügen entwickelt hat. In drei Schritten beschreibt er den Weg von geschlossenen Systemen mit begrenzter Anzahl vorgegebener Elemente hin zu autopoietischen Systemen, die ihre Einheiten selbst erzeugen und spezifische Probleme der Analyse und Beschreibung solcher Organisationsformen aufwerfen. Mittels eines Abstechers in die Kybernetik veranschaulicht Simon anhand klassischer Beispiele, wie paradox anmutende Organisationsformen durch eine Theorie von der Dynamik selbstreferenzieller Prozesse erklärt werden können.

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›Quellennähe und Ausführlichkeit‹

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Leider wird bereits hier eine der wesentlichen Schwachstellen von Simons Einführung deutlich: Immer wieder zitiert er in epischer Breite, bisweilen über mehrere Seiten hinweg, die Primärliteratur. Eingedenk der Klage vieler Systemtheorie-Novizen, der Gegenstand sei auf dem Weg über die Originalwerke nur schwer zugänglich, wirkt sich dieses Verfahren im Rahmen einer Einführung in die Systemtheorie kontraproduktiv aus. Auch muss die Frage erlaubt sein, ob die ausführliche und sehr abstrakte Behandlung von ›dissipativen Strukturen‹ (Ilya Prigogine) und ›Synergetik‹ (Hermann Haken) in einer Einführung, die sich eine praktische und alltägliche Anwendung zum Ziel gesetzt hat, zielführend ist – zumal da Autopoiesis und Selbstorganisation bereits an anderer Stelle anschaulich erklärt werden.

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›Der Mensch als ›black box‹‹

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Ein Exkurs über »triviale und nicht-triviale Maschinen« (S. 35 ff.) verdeutlicht das Konzept der ›black box‹, das scheinbare Nicht-Zusammenhängen von Eingabe und Ausgabe bei einer Maschine beziehungsweise einem System. Nach einem guten Drittel des Bandes kommt Simon zu dem Schluss: »Menschen sind nichttriviale Systeme« (S. 39), also analytisch unbestimmbar, vergangenheitsabhängig und unvoraussagbar. Diese den Leser wenig überraschende Erkenntnis ist charakteristisch für diesen Einführungsband, an dessen Ende der Leser feststellen wird, dass sich Systemtheorie und Konstruktivismus hervorragend dazu eignen, Einfaches und Alltägliches kompliziert zu umschreiben.

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Durch das Aufwerfen der Frage, wie sich der Umstand, dass ein Beobachter sich selbst innerhalb des beobachteten Systems befindet, auf seine Beobachtungen auswirkt, leitet Simon auf den Konstruktivismus über. Die Ausführungen hierzu sind ebenso wie die zur ›Kybernetik der Kybernetik‹ (Heinz von Foerster) auch für den Laien gut nachvollziehbar. Mit Kapiteln über operationale Schließung und Strukturdeterminiertheit beschließt Simon den Grundlagenteil seines Bandes. Unter Rückgriff auf die Studien George Spencer Browns und Gregory Batesons definiert er den Informationsbegriff im Rahmen menschlicher Kommunikation und Kognition auf der Grundlage von Wahrnehmung. Simon lässt in diesem Zusammenhang auch konstruktivistische Überlegungen mit einfließen, um den alltäglichen Wahrheitsbegriff zu relativieren. Nach zahlreichen anschaulichen Alltagsbeispielen kommt er zu dem Schluss, dass »Weltbilder und Realitäten […] stets von einem Beobachter errechnet und konstruiert« (S. 77) sind.

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›Das Element und seine Umwelt im alltäglichen Gebrauch‹

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Im anschließenden Kapitel über deterministische Veränderung und evolutionären Wandel wird das wechselseitige Kopplungsverhältnis von System und Umwelt plausibilisiert. System und Umwelt werden als Einheit evolutionärer Entwicklungen definiert, was für Simon einen (alltags‑)praktischen Vorteil mit sich bringt: »Man kann sich auf beide Seiten der Unterscheidung ›einmischen‹, d. h. in das System oder aber in eine seiner Umwelten intervenieren« (S. 82 f.). Es folgen Anwendungsbeispiele für die alltägliche Nutzung der dargelegten Konzepte: »Wer […] Leitungsverantwortung für ein Unternehmen hat, Kinder erziehen will oder als Therapeut arbeitet, der muss evolutionäre Mechanismen als Hintergrundfolie seiner Entscheidungen mitdenken« (S. 84).

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Im abschließenden Kapitel »Vom ›ganzen‹ Menschen zur Kommunikation als Element sozialer Systeme« (S. 85 ff.) entfernt sich Simon dann wieder ein Stück von der Praxis und geht unter Bezug auf Niklas Luhmann auf die soziologische Systemtheorie und ihre Eigenart ein, nicht Menschen, sondern Kommunikationen als Elemente von Systemen anzusehen. In enger Anlehnung an die Primärliteratur erläutert der Autor die Begriffe ›Kommunikation‹ und ›Sinn‹ und den Luhmannschen Gesellschaftsbegriff. Simon beschließt seinen Band mit »Zehn Gebote[n] des systemischen Denkens«, die als ein »roter Faden […] oder als Quintessenz der Theorie[n] in die Praxis mitgenommen« (S. 112) werden sollen. An dieser Stelle betont Simon noch einmal, dass ›Praxis‹ im engeren Sinn die »Komplexitätsreduktion innerhalb des täglichen Lebens« (ebd.) meint.

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›Resümee und Abschlusskritik – Vom
Verkleiden und Entkleiden‹

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Fritz B. Simon versteht sich als systemischer Praktiker »der mit sozialen Systemen arbeitet« (S. 7). Dies bedeutet, dass er sich verschiedener Elemente und unterschiedlicher Ansätze der Systemtheorie bedient, um diese für den alltäglichen Gebrauch verwendbar zu machen. Das Ergebnis ist leider unbefriedigend: Simons Gebote (»Unterscheide stets das, was über ein Phänomen gesagt wird, von dem Phänomen, über das es gesagt wird!« [S. 113]) sind meist nichts weiter als systemtheoretisch verklausulierte Allgemeinplätze; stellenweise mutet es so an, als stülpe Simon Alltagsphänomenen systemtheoretische Kleider nur deshalb über, um sie dann mittels Systemtheorie wieder zu entkleiden.

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Neben der bereits angeführten Kritik ist dem Band leider auch eine gewisse Lieblosigkeit zu unterstellen. Dies ist sehr bedauerlich, handelt es sich doch um einen Einführungsband. Abbildungen sind spärlich gesät und im Regelfall nicht mit erklärenden Unterschriften versehen. Auf ein Stichwortregister ebenso wie auf die in diesem Fall durchaus hilfreichen Textkästen mit kurzen Zusammenfassungen wurde gänzlich verzichtet. Simons stellenweise bemüht lockerer Stil (der Verlag attestiert seiner Sprache an anderer Stelle »bittere Witzigkeit«) steht im Gegensatz zur nüchternen und klaren Sprache der zitierten Primärliteratur. Der Umgang mit selbiger mutet bisweilen befremdlich an; wird aus anderen Werken als den eigenen zitiert, dann häufig indirekt und unnachvollziehbar (so wird nach einem Absatz auf insgesamt vier Werke Jean Piagets aus den Jahren 1937 bis 1975 verwiesen) oder exzessiv (der überwiegende Teil des sechsten Kapitels des Bandes besteht aus direkten Luhmann-Zitaten). Da er mit indirekten Zitaten derart großzügig umgeht, wird ein Weiterlesen in der Primärliteratur unnötig erschwert.

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Lesern, die daran interessiert sind, Alltägliches durch die systemtheoretische Brille zu betrachten, können zweifelsohne ihren Nutzen aus dem Band ziehen, jedoch erreicht der Band sein Ziel, Systemtheorie alltagstauglich zu machen, leider nicht.

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Wer sich für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Systemtheorie interessiert, sollte zu den bewährten Einführungsbänden von Margot Berghaus und Georg Kneer und Armin Nassehi greifen. 1

 
 

Anmerkungen

Margot Berghaus: Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie. (UTB 2360) Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2003. Vgl. die Kurzrezension in IASLonline von Christoph Reinfandt: Luhmann statt Buhmann: Systemtheorie tiefergelegt! (05.12.2003) URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=2340; Georg Kneer / Armin Nassehi: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung. [1993] (UTB 1751) 4. unveränd. Aufl. München: Fink 2000.   zurück