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Nationalisierte Landschaften

Eine erhellende Studie über den Zusammenhang von Topographie und Nation-building im 19. Jahrhundert

  • Wolfgang Behschnitt: Wanderungen mit der Wünschelrute. Landesbeschreibende Literatur und die vorgestellte Geographie Deutschlands und Dänemarks im 19. Jahrhundert. (Identitäten und Alteritäten 23) Würzburg: Ergon 2006. 531 S. Kartoniert. EUR (D) 65,00.
    ISBN: 978-3-89913-496-4.
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Wer sich als Wanderer mit einer Wünschelrute versieht (das Bild entstammt einer Rezension von Fontane), wird sich nicht mit einer statistischen Bestandsaufnahme, mit dem Registrieren des ohne weiteres Sichtbaren und Zählbaren begnügen; vielmehr geht es ihm darum, der Landschaft sinnstiftende Erinnerungen und Geschichten zu entlocken – eine Form der literarischen Raumerfahrung und -erschließung, die im 19. Jahrhundert große Bedeutung erlangt. Die Habilitationsschrift des Germanisten und Skandinavisten Wolfgang Behschnitt hat sich zum Ziel gesetzt, diese Erfahrung bzw. ihre textuellen Fixierungen aus literatur- wie auch aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu rekonstruieren. Zu diesem Zweck werden eine Reihe von landesbeschreibenden Texten aus Deutschland und Dänemark in den Blick genommen, an denen aufgezeigt werden soll, dass diese Literatur, die sich oftmals einer definitiven Kategorisierung als Sachliteratur oder Belletristik entzieht, als »Ausdruck eines krisenhaften Wandels des Raumbewußtseins« (S. 12) verstanden werden müsse. Gründe für das Bedürfnis nach topographischer Selbstvergewisserung sind die Neuordnung Europas in der postnapoleonischen Ära im Zeichen der Herausbildung der modernen Nationen, aber auch der allenthalben zu beobachtende Strukturwandel im Gefolge von Industrialisierung und Urbanisierung.

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Die Auswahl von deutschen und dänischen Texten, die Behschnitt in seiner Studie trifft, wird mit den jeweils unterschiedlichen politischen Voraussetzungen motiviert, unter denen in beiden Ländern die ›Nationalisierung‹ voranschritt, in Deutschland die tendenzielle Überwindung der ›Kleinstaaterei‹ zugunsten des preußisch dominierten Deutschen Reichs, in Dänemark der gegenläufige Prozess der Dezimierung der Norwegen einschließenden Großmacht »auf ein kulturell vergleichsweise homogenes Kleindänemark« (S. 17). Deutschland und Dänemark repräsentieren hier also zwei kontrastierende und somit einander erhellende Nationalisierungskonzepte, die sich in dem ausgesprochen heterogenen Textmaterial überraschend deutlich widerspiegeln. Der dänische Zentralismus manifestiert sich in der hauptstädtischen Perspektive, von der aus die einzelnen Regionen in der Regel konzipiert werden, wohingegen in den deutschen Texten eine solche ›Zentralperspektive‹ fehlt.

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Zum Aufbau der Arbeit

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Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert, wobei der erste Abschnitt »Literatur, Identität, Vorgestellte Geographie« zunächst die »Funktion von Literatur im Diskurs kollektiver Identität« behandelt, um dann die literarischen »Formen der Aneignung des nationalen Territoriums« im Zusammenhang mit dem im 19. Jahrhundert zu beobachtenden Nationalisierungsprozess zu diskutieren.

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Der zweite Teil der Abhandlung appliziert die im Einleitungsteil formulierten Thesen auf die zwischen 1836 und 1842 erschienene Reihe Das malerische und romantische Deutschland, ferner auf Annette von Droste-Hülshoffs Westfalen, wie es sich in dem Roman Bei uns zu Lande auf dem Lande sowie in den Westphälischen Schilderungen aus einer westphälischen Feder manifestiert, und schließlich auf Theodor Fontanes voluminöse Wanderungen durch die Mark Brandenburg, die zu den wenigen heute noch gelesenen topographischen Texten des 19. Jahrhunderts rechnen. Die dänischen Beispiele, die im dritten Teil der Arbeit nach einer längeren Einführung in die landesbeschreibenden und reiseliterarischen Traditionen diskutiert werden, umfassen Texte von Steen Steensen Blicher, Hans Christian Andersen und Meïr Aron Goldschmidt.

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Emphatischer Blick auf die Landschaft

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Wolfgang Behschnitt geht von der Prämisse aus, dass das von ihm bearbeitete topographische Textmaterial ein »typisches Begleitphänomen des Nationalisierungsprozesses« im 19. Jahrhundert sei und somit ein wichtiges Moment der kollektiven Identität bilde (eine Begrifflichkeit, deren Problematik vom Autor sehr zurecht diskutiert wird). Mit dieser politischen Indienstnahme sei gleichzeitig eine Transformation der imaginären Geographie verbunden. Damit Literatur in einem Kontext der kollektiven Identitätsbildung funktionieren kann, muss sie entsprechend emphatisch, ›aktiv‹ und identifikatorisch rezipiert werden, wie dies im 19. Jahrhundert Friedrich Kittlers Aufschreibesystemen zufolge der Fall war. So erweist sich denn auch die Aneignung der nationalen Räume in manchen der behandelten Texte, am deutlichsten in Das malerische und romantische Deutschland, wesentlich als ein Appell an die Emotionsfähigkeit des Rezipienten. Auch wo einzelnen Regionen mit ihren unverwechselbaren Spezifika gehuldigt wird, wie dies vor allem in Deutschland naturgemäß durchweg der Fall ist, geht es de facto um nichts Geringeres als um das Vaterland und dessen emotionale Aneignung.

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Die Beschreibung der Räume, die in den Texten literarisch erkundet werden, beginnt denn auch – im Unterschied etwa zur Vermessung der Kolonien in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts – nicht etwa bei ›Null‹, also ohne ein Vorwissen (oder auch eine gewisse emotionale Grundgestimmtheit) beim Leser vorauszusetzen, sondern die Texte bilden – weitgehend unabhängig von ihrer Gattungszugehörigkeit – von vornherein den Schnittpunkt verschiedenster, etwa politischer, geographischer oder historischer Diskurse, die im einzelnen Text eine jeweils spezifische Formierung oder Akzentuierung erhalten.

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Provinzielle und hauptstädtische Perspektiven

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Die besondere Qualität der vorliegenden Arbeit liegt nicht zuletzt darin, dass sie sich nicht damit bescheidet, die eingangs formulierte These von der Funktion landesbeschreibender Literatur für die Genese des modernen Nationalstaats zu belegen, was bei einer entsprechenden Textauswahl wohl leicht zu bewerkstelligen gewesen wäre. Vielmehr wird an den komplexeren der ausgewählten Texte deutlich, wie diese das Konzept eines homogenen und transparenten, mit einfachen und positiven Gefühlswerten aufgeladenen ›Nationalraums‹ durchaus problematisieren bzw. poetisch transformieren, letztlich aber doch ebenso dem hier in Rede stehenden Diskursfeld zuzuordnen sind wie die ›schlichten‹ Beispiele. Besonders augenfällig wird dies an der Analyse der Westfalen-Texte Annette von Droste-Hülshoffs, die in Bei uns zu Lande auf dem Lande mit Hilfe von Distanzierung, Ironisierung und Reflexion, mit der Etablierung verschiedener Erzählebenen und –perspektiven das Genre der Landesbeschreibung transzendiert in ein »intrikates poetisches Konstrukt – ein[en] Roman« (S. 210).

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Bei der Lektüre des Kapitels über die deutschsprachigen Landesbeschreibungen wird man trotz der breiten Kontextualisierung und der eingehenden Analysen das Gefühl nicht ganz los, die drei ausgewählten Textgruppen könnten das diskursive Spektrum der literarischen Topographie Deutschlands im 19. Jahrhundert nicht befriedigend abdecken; so vermisst man etwa jeglichen Hinweis auf Adalbert Stifter, dessen ›vorgestellte Geographie‹ Böhmens zweifellos ein besonders signifikantes Beispiel darstellt für die ›Verräumlichungstendenzen‹ der Literatur des 19. Jahrhunderts. Hingegen liefert der Dänemark-Abschnitt eine glänzende Analyse der Sinnstrukturen topographisch orientierter Literatur im Zeitraum zwischen etwa 1840 und 1870, wobei diese Strukturen freilich einfacher zu identifizieren sind als bei dem ›polyperspektivischen‹ deutschen Material. Gegenstand der literarischen Aneignung ist hier Jütland, insbesondere die jütländische Westküsten-Wildnis. Anders als in Deutschland ist in Dänemark auch ein weitgehend unverrückbarer Standpunkt zu konstatieren, nämlich der hauptstädtische, von dem aus die Provinz im Westen oszilliert zwischen der elementaren und exotischen, ja bisweilen unheimlichen Grenzlandschaft und dem Refugium urtümlicher und wesenhafter dänischer Qualitäten. Eine zentrale Position in diesem Diskurs nimmt naturgemäß Steen Steensen Blicher ein, der als der wohl wichtigste Regionalist und als Begründer des Realismus in Dänemark ein Jütlandbild geprägt hat, das auch späteren Autorengenerationen als Bezugspunkt dienen sollte. Die namentlich das Frühwerk prägenden Heideschilderungen, mit denen man den Namen Blicher vornehmlich assoziiert, bilden ein wesentliches Element in der Exotisierung Jütlands. Erhellend ist in diesem Zusammenhang auch die vom Autor anhand verschiedener Texte aufgezeigte imaginäre dreigeteilte Landkarte von Dänemark, die dem idyllisch-gartenartigen Osten und dem zentralen Insel-Dänemark die düsteren Dünen- und Heidelandschaften des Westens gegenüberstellt, ein topographisches Konzept, das erst von Meïr Aron Goldschmidt konterkariert wird durch eine Betrachtungsweise, die auf diese »großmaßstäblichen Einordnungen« (S. 476) verzichtet und die Schilderungen in medias regiones beginnen lässt.

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Fazit

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Mit den Wanderungen mit der Wünschelrute ist Wolfgang Behschnitt eine anregende Studie gelungen, die nicht nur von der höchst beachtlichen literatur- und kulturtheoretischen Belesenheit des Autors profitiert, sondern auch in den Textlektüren überzeugt. Mag auch manche Erkenntnis für sich genommen nicht neu sein, wie etwa die literarische Jütland-Konstruktion Blichers und deren Rezeption, so gewinnt Behschnitt doch durch die diskursive Kontextualisierung seiner Beispieltexte selbst intensiv erforschten Autoren wie Theodor Fontane oder H. C. Andersen bislang kaum beachtete Aspekte ab.

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Dass in dem umfangreichen Literaturverzeichnis einige grundlegende Arbeiten fehlen, wie etwa Aleida Assmanns Erinnerungsräume 1 oder die im Hinblick auf die Rekonstruktion sozialer und kultureller Räume klassische Studie Topophilia 2 des amerikanisch-chinesischen Geosoziologen Yi-Fu Tuan, fällt dem gegenüber kaum ins Gewicht. Die Arbeit ist auch in ihren theoretischen Teilen stilsicher und gut lesbar formuliert, wenngleich etwa mit Kittlers »Aufschreibesystem« ohne Not ein verzichtbares Modewort des vergangenen Jahrhunderts reaktiviert wird. Ein wenig störend ist ferner die rekurrente Verwendung des hässlichen, glücklicherweise bislang auch nicht in den Duden aufgenommenen Neologismus »Schönliteratur« bzw. »schönliterarisch«, für den Skandinavisten eine besondere Anfälligkeit zeigen. Die Qualität der Abhandlung soll durch solche marginalen Kritikpunkte indessen keineswegs relativiert werden.

 
 

Anmerkungen

Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999.   zurück
Yi-Fu Tuan: Topophilia. A Study of Environmental Perception, Attitudes, and Values. Englewood Cliffs (New Jersey): Prentice-Hall 1974.   zurück