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Ein Jedermann für jedermann

Eine Hecastus-Edition für Forschung und Lehre

  • Raphael Dammer / Benedikt Jeßing: Der Jedermann im 16. Jahrhundert. Die Hecastus-Dramen von Georgius Macropedius und Hans Sachs. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 42) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2007. IV, 231 S. Gebunden. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 978-3-11-019944-4.
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Zum Aufbau des Buches

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Die Hecastus-Dramen von Georgius Macropedius und Hans Sachs sind zumal der älteren Literaturgeschichtsschreibung zum 16. Jahrhundert nicht unbekannt. Deswegen verzichten Raphael Dammer und Benedikt Jeßing in der Einleitung zu ihrer sehr überzeugenden Edition dieser beiden Dramen samt Übersetzung, Varianten und Kommentar wohlweißlich auf den Entdeckergestus, mit dem so manche Darstellung oder Edition unangemessen gerechtfertigt wird.

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Entdeckergestus wäre hier tatsächlich fehl am Platz gewesen. Man muss sich vielmehr, und dieser Eindruck verfestigt sich nach der Lektüre des Buches noch einmal, deutlich wundern, dass nicht schon früher die Idee entstanden ist, insbesondere Macropedius’ Hecastus in einer modernen Edition vorzulegen. Denn wenn man einmal von wenigen löblichen Ausnahmen absieht, 1 so gibt es kaum Editionen oder Studien zur Ordensdramatik aus der Zeit vor dem Jesuitentheater.

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Die Besonderheit der vorliegenden Edition liegt darin, dass Dammer und Jeßing die lateinische erste Fassung von Macropedius (von 1539) und den Sachsschen Hecastus (nach der Ausgabe letzter Hand von 1560) parallel abdrucken. Der Grund dafür ist, dass Sachs’ Spiel ein frühes und bemerkenswertes Beispiel produktiver Rezeption innerhalb der deutschen Dramatik ist. Durch den Paralleldruck ergeben sich mühelos faszinierende Einblicke, welche Partien Sachs übernommen, welche er gestrichen und wo er Text hinzu gefügt hat. Wie zu erwarten, betreffen etwa die Ergänzungen vor allem Sprechpartien, die für die Sachssche Dramatik nachgerade konstitutiv sind. So beschließt bei Macropedius – deutlich der Tradition der humanistischen Schuldramatik verpflichtet – eine in die Haupthandlung integrierte Figur das Stück mit der Bitte um Schlussapplaus. Bei Sachs dagegen tritt eine Ehrenhold auf, der noch einmal die Moral des Spiels zusammenfasst.

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Eine Edition für Forschung und Lehre

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Vorbildlich ergänzt wird diese Edition dadurch, dass im Anschluss an den Paralleldruck zunächst die Zusätze von Macropedius für die Ausgabe 1552 abgedruckt werden, so dass beide zu Lebzeiten erschienene Fassungen hiermit in der Edition vorliegen. Es folgt die Übersetzung des Erstdrucks und der Zusätze von 1552 in ein modernes, unprätentiöses Deutsch. Dadurch eignet sich die Edition auch hervorragend für den Einsatz im universitären Unterricht und etwa als Basis für Hausarbeiten oder Examensarbeiten, weswegen nur zu hoffen ist, dass das Buch von möglichst vielen Universitäts- und Institutsbibliotheken angeschafft wird.

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Für den Universitätsunterricht bietet sich die Ausgabe zudem deswegen an, weil abschließend ein Kommentar folgt, der vorbildlich eingerichtet ist. Hier wird zunächst in Sprache und Verstechnik eingeführt. Sodann folgt ein Stellenkommentar, in dem das manchmal für Studierende schwer verständliche Frühneuhochdeutsch übersetzt wird.

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Dem Paralleldruck geht eine Einführung voraus, in der auf die Stoffgeschichte und die Vorgeschichte durch Hinweise auf die humanistischen Schuldramatik und das Reformationsdrama eingegangen wird. Diese Hinweise fallen im Vergleich zum ausführlichen Kommentar knapp aus, was deswegen überzeugt, weil davon ausgegangen werden darf, dass man eine solche Edition nicht ohne Vorkenntnisse zur Hand nimmt.

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Zwischen dieser Einführung und dem Paralleldruck sind noch einige biographische und werkgeschichtliche Hinweise eingeschaltet, die abermals wohltuend prägnant sind und trotzdem insbesondere im Hinblick auf Macropedius wichtige Informationen liefern, die für das Verständnis des Stücks unerlässlich sind.

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Aber nicht nur der Aufbau der Edition kann überzeugen. Ein wichtiger Impuls geht darüber hinaus von dem Buch deswegen aus, weil es die Bedeutung der Jedermann-Dramatik für die Frühe Neuzeit insgesamt in Erinnerung ruft. Während die übrige Dramatik der Zeit – vor allem das Fastnachtspiel, dann aber auch die biblische Schuldramatik (Rebhuhns Susanna oder Bircks Judith) – immer wieder Forschungsgegenstand sind, findet die Jedermann-Dramatik kaum mehr das Interesse der Forschung. Das steht im krassen Widerspruch zur Bedeutung dieser Spielform im 16. und auch 17. Jahrhundert. Dabei eignet sich insbesondere die Jedermann-Dramatik gerade für konfessionsvergleichende Untersuchungen. Das diese durch den Paralleldruck mit Hilfe dieser Edition ermöglicht werden, ist ein weiterer Pluspunkt der Ausgabe.

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Doch so sehr die gepflegte Prägnanz zu begrüßen ist, drei Punkte hätten vielleicht ein wenig ausführlicher ausfallen dürfen:

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1. Dammer und Jeßing ordnen die Jedermann-Dramatik in die Moralitäten-Tradition ein und verweisen etwa auf Bidermanns Cenodoxus (S. 6). Für Leser, die mit der Moralitäten-Dramatik nicht vertraut sind, mag dieser Hinweise überraschend sein, da die Jedermann-Dramen wegen ihres erbaulich-optimistischen Endes eine Ausnahme innerhalb der meist auf Furchteinflößung setzenden Moralitäten sind.

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2. Die beiden Verfasser und Editoren betonen die ›konfessionelle Instrumentalisierung‹ (S. 3) der Dramatik dieser Zeit. Von Instrumentalisierung zu sprechen, ist sehr berechtigt. Nur sollte die Lagerbildung für diese Zeit nicht zu schematisch dargestellt werden; zum einen weil zumindest die Papstkirche noch keine neuzeitliche Konfessionskirche war und dementsprechend besser noch nicht katholisch genannt werden sollte; zum anderen weil man eben an der ersten Fassung von Macropedius’ Hecastus hervorragend sehen kann, wie nahe humanistisch geprägte Mitglieder der Reformorden einzelnen reformatorischen Positionen stehen konnten, ohne mit dem Bischof von Rom zu brechen.

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3. Gleich zu Beginn gehen Dammer und Jeßing einmal über den engen Rahmen, den sie sich selbst geben, hinaus und postulieren »versuchsweise« einen »Nürnberger Klassizismus« (S. 2) für Sachs. Das klingt ein wenig nach historischer Vorverlegung von Alewyns Konzept des Vorbarocken Klassizismus (1926 und dann erneut 1962). Vor dem Hintergrund, dass in den letzten Jahren die Bemühungen um Verstechnik und Prosodie gerade in der protestantischen Dramatik des 16. Jahrhunderts wiederholt erörtert wurden, ist dieser Vorschlag durchaus bedenkenswert. Nur leider bleibt es beim Postulat, eine eindeutige Position wäre hier wünschenswert gewesen, auch auf die Gefahr hin, dadurch Widerstand zu provozieren.

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Zusammenfassung

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Die hier vorgestellte Edition eignet sich aus den dargelegten Gründen hervorragend, um weitere Forschungen zur Jedermann-Dramatik der Frühen Neuzeit anzuregen. Das gilt zumal auch deswegen, weil sich Raphael Dammer und Benedikt Jeßing vorbildlich auf das editorische Kerngeschäft inklusive Kommentierung konzentriert haben. Doch nicht nur für weitere Forschungen bietet das Buch viel. Auch für den Universitätsunterricht eignet es sich. Dass am Einleitungsteil einige Details kritisiert werden können, dürfte dabei kaum stören. Das kann im Seminar knapp thematisiert werden. Dadurch kann mit Hilfe des Buchs gleich noch ein wenig kritische Distanznahme eingeübt werden. Und für die Forschung fällt das ohnehin nicht ins Gewicht. Sie darf dankbar sein für diese überzeugende Ausgabe.

 
 

Anmerkungen

Eine solche Ausnahme ist etwa die Ausgabe von Fidel Rädle (Lateinisches Ordensdrama des XVI. Jahrhunderts. Berlin, New York: de Gruyter 1979), die den für das Jesuitentheater so wichtigen Euripus des Minoriten Levin Brecht enthält.   zurück