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Wolfgang Koeppen

Lebenslabyrinth als ästhetische Erfahrung

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    Einleitung

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    Anlässlich des 100. Geburtstages und des 10. Todestages Wolfgang Koeppens (1906–1996) haben Hiltrud und Günter Häntzschel unter dem Titel Wolfgang Koeppen. Leben Werk Wirkung eine Basisbiographie vorgelegt, die in besonderer Weise zur Wiederentdeckung eines ungewöhnlichen Schriftstellers anregt, der im gegenwärtigen literarischen Bewusstsein nur bedingt präsent ist – zu Unrecht, so die zusammenfassende These der Autoren, die Koeppen als einen der bedeutendsten und in vieler Hinsicht schillerndsten Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts porträtieren, aus dessen Werk »noch heute Reiz und Faszination« (S.92) ausgingen.

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    Wie bereits am Untertitel abzulesen ist, orientiert sich der kenntnisreich und spannend gestaltete Band an der um die Bereiche Leben Werk Wirkung gebildeten Triade, die die klare Struktur des Bandes bestimmt. Mit dieser Annäherung beabsichtigen die Autoren, den Blick frei zu machen für eine bisher wenig belichtete Wechselwirkung verschiedener biographisch-gesellschaftlicher und ästhetischer Momente, die nicht nur den Menschen, sondern auch den Schriftsteller und Intellektuellen Wolfgang Koeppen maßgeblich geprägt haben.

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    Leben als Abenteuer

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    Schon im ersten Teil des Bandes, der dem Leben des Dichters gewidmet ist, kristallisiert sich die für die gesamte Abhandlung zentrale Erkenntnis heraus, dass Koeppens Leben, Werk und Wirkung eine Einheit bilden, die durch das Leiden des Dichters an den gesellschaftlichen Umständen und an sich selbst gekennzeichnet ist. Sodann wird der Lebensweg Koeppens wie ein Puzzle rekonstruiert. Anhand zahlreicher Zeugnisse wird die Erkenntnis augenfällig, dass der 1906 in Greifswald geborene Dichter ein unbeständiges, durch chronische, vielfach ausgeprägte existentielle Bedrohung gekennzeichnetes Leben führte, das einen entscheidenden Einfluss auf sein literarisches Schaffen ausüben sollte.

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    Das literarische Werk

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    An Koeppens Biographie knüpft der Teil des Bandes, in dem Koeppens literarisches Schaffen chronologisch vorgestellt wird, sinnvoll an. Zunächst werden die beiden in den 30er Jahren erschienenen, lange aus dem literarischen Bewusstsein verschwundenen Erstlingsromane Eine unglückliche Liebe (1934) und Die Mauer schwankt (1935) in ihrem historischen und biographischen Entstehungskontext kurz charakterisiert, wobei in beiden Werken ein starker biographischer Impetus konstatiert wird: »Nur wenige fiktionale Elemente umranken das authentische Erlebnis« (S. 79). Nahtlos wendet sich die Darstellung – wenn auch mit anderer Akzentsetzung – den Nachkriegsromanen Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus (1953) und Der Tod in Rom (1954) zu, durch die Koeppen, der wie ein Meteor in der deutschen Literatur der frühen Bundesrepublik erschien, sich einen bisher unumstrittenen Platz in der deutschen Nachkriegsliteratur sicherte.

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    Zwar berufen sich Günter und Hiltrud Häntzschel auf Koeppens Nachkriegstrilogie als »ein Panorama des deutschen Verhängnisses ab 1933 bis zu seinen Nachwirkungen in der frühen Bundesrepublik« (S.99), stellen diese Auffassung zugleich in Frage, indem sie das innovative Potential der Koeppenschen Dichtung in dem Thomas Mann entliehenen Begriff »Durchheiterung« (S.90) verorten, womit die weithin verbreitete Leseart der Nachkriegsromane als »Zeitdiagnose« (S.91) hinterfragt wird. Dieser Ansatz wird jedoch in seiner verharmlosenden Simplizität weder den früheren Romanen noch der Nachkriegstrilogie gerecht, in der eine unbestreitbare Zeitkritik als eine der Legitimationsgründe für die schriftstellerische Tätigkeit vorgetragen wird. Letzteres bleibt jenseits der von Koeppen selbst reklamierten »poetischen Wahrheit« konstitutiv und muss deshalb auch dann gelten, wenn die Erneuerung des »deutschsprachigen Romans der Moderne« (S.90) durch Koeppen mit der »von ihm hergestellte[n] Simultaneität von Gegenwart und Vergangenheit in den zur Sprache gebrachten Schicksalen« (S. 90) begründet wird.

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    Neben den Nachkriegsromanen, die Koeppens dichterischen Höhepunkt markieren, betonen die Autoren die »literarische Qualität der Reisebücher« (S.112) und distanzieren sich damit von der insbesondere von Marcel Reich-Ranicki vertretenen früheren Einschätzung der Reisebücher als »Seitensprung des Romanciers« (Die Zeit 8.9.1961). Durch die Erkenntnis, dass die Reisetexte »nicht zuletzt in Koeppens eigene Romane und Biographie« (S.108) zurückführen, wird auch bei der Besprechung weiterer Prosaarbeiten betont, dass Koeppen »die Grenzen der literarischen Gattungen überschreitet« (S.109), was allerdings nur im Ansatz aufgezeigt wird.

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    Wirkung

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    Im dritten und letzten Teil des Bandes wird die »Wirkung« des Menschen und Schriftstellers Koeppen thematisiert, wobei der Akzent auf dem »Rätsel um den schweigenden Autor« (S.123) liegt. Ausgehend von der Diskrepanz zwischen Koeppens Status als »Schriftsteller von höchstem Rang« (S. 123) und seiner insgesamt geringen Wirkung auf die deutsche Literatur wird versucht, die von Marcel Reich-Ranicki Anfang der 1960er Jahre aufgestellte These vom »Fall Koeppen« zu dekonstruieren. Der Legende um Koeppens Verstummen wird die Erkenntnis über einen schleichenden Prozess entgegengesetzt, der zum einen als Koeppens stille Auflehnung gegen das Konventionelle und zum anderen als Ausdruck einer chronischen Schreibhemmung gedeutet wird, die an der Selbststilisierung des Schriftstellers zur »Romanfigur« abzulesen sei. Sodann kommen die Autoren zu dem überraschenden, in jedem Fall aber bedenkenswerten Ergebnis, dass Koeppen gar nicht verstummt sei, nur seien seine Texte, zumal in ihrer fragmentarischen Gestaltung, seit Koeppens Abwendung vom Roman nicht mehr entsprechend gewürdigt worden.

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    Fazit

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    Die Bedeutung der von Hiltrud und Günter Häntzschel vorgelegten Basisbiographie resultiert zweifelsohne aus dem erkennbaren Bemühen darum, die gegenwärtige literarische Öffentlichkeit für eine längst überfällige differenzierte Auseinandersetzung mit dem Autor Koeppen zu sensibilisieren, wobei die gelungene Charakterisierung seines Werkes als eines »facettenreichen poetischen Kosmos« (S.119) als wichtiger Erkenntnisgewinn anzusehen ist. Außerdem werden Spannungsfelder und Übergänge zwischen Koeppens Leben und seinem literarischen Schaffen beleuchtet. Mehr noch: Der Band macht aufschlussreiche Verbindungen und Analogien zwischen den Romanen der 30er und denen der 50er Jahre sowie den weniger bekannten Arbeiten Koeppens ebenso sichtbar wie die ästhetischen Qualitäten seiner innovativen und in mancher Hinsicht eigenwilligen Prosa insgesamt. Durch wertvolle Hinweise auf Ergebnisse neuerer Arbeiten wird die etwa zu skizzenhafte Behandlung wichtiger Themen kompensiert, so dass der Leser auf den aktuellen Stand der Forschung gebracht wird. Vor diesem Hintergrund macht der überschaubar gegliederte und flüssig geschriebene Band sowohl den Wissenschaftler als auch den Laien auf Koeppen neugierig und stellt nicht zuletzt deshalb einen wichtigen Beitrag in der Koeppen-Forschung dar.