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Von Zeugen und Zeichen des Opfers

Dialog über das Unaussprechliche

  • Bernhard Greiner / Bernd Janowski / Hermann Lichtenberger (Hg.): Opfere deinen Sohn! Das 'Isaak-Opfer' in Judentum, Christentum und Islam. Tübingen: Francke 2007. VIII, 337 S., S. zahlr. Abb. Kartoniert. EUR (D) 68,00.
    ISBN: 978-3-7720-8126-2.
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Da sprach Isaak zu Abraham, seinem Vater, er sagte: Mein Vater! Der sagte: Siehe hier bin ich, mein Sohn. Er sagte: Da ist Feuer und Holz. Wo aber ist das Schaf für das Brandopfer? Abraham sprach: Gott wird sich ein Schaf zum Brandopfer ersehen, mein Sohn. (Gen 22,7–8)
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Das Opfer erscheint immer mehr ausgesprochener Fokus aktueller Religionsdebatten und kulturwissenschaftlicher Erörterung. Gerade in der Erzählung von Abraham und Isaak ist es jedoch mehr von Unausgesprochenem begleitet. Insofern stellt sich der vom Tübinger Trio Bernd Janowski (Altes Testament), Bernhard Greiner (Neuere deutsche Literaturgeschichte) und Hermann Lichtenberger (Evangelische Theologie) herausgegebene Band als ambitionierter Dialog über das Unaussprechliche dar. Denn die Dokumentation des Anfang 2003 1 in Tübingen veranstalteten Internationalen Symposions über »Genesis 22 in Judentum, Christentum und Islam« versucht den kulturwissenschaftlichen Dialog auch über die Fächergrenzen hinweg. Die Tagung, die vom Tübinger Graduiertenkolleg »Die Bibel – ihre Entstehung und ihre Wirkung« initiiert wurde, versammelte Stimmen von Theologen, Religionsphilosophen, Psychologen, Vertretern der Judaistik und der Islamwissenschaft, der Kunst- und Literaturwissenschaft aus Israel, England und Deutschland. Begleitet wurde sie von einer Ausstellung über die künstlerische Wirkungsgeschichte der »Bindung Isaaks« (Aqedah). In dieser am Ende des Bandes durch kurze Essays dokumentierten Ausstellung kommentieren die Kollegiatinnen und Kollegiaten des Graduiertenkollegs Inszenierungen der Aqedah von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert. Das unterstreicht nach dem Durchlauf durch die zwölf Aufsätze des Bandes noch einmal, welches Faszinosum das mysterium tremendum der Aqedah über die Kultur- und Zeitgrenzen hinweg darstellt.

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Aber die Stimmen der Kulturwissenschaftler sprechen oft doch verschiedene Sprachen. Das merkt der Leser schnell, wenn er von religionsphilosophisch-kritischer zu jüdischer Lektüre, von kunstgeschichtlicher zu literaturwissenschaftlicher Analyse springen soll. Der Dialog der unterschiedlichen Beiträge scheint in seinem facettenreichen Auftreten als Gleichberechtigung dieser Stimmen; allerdings wäre eine Unterteilung in Einzelbereiche durchaus hilfreich gewesen. So erschließen sich Schwerpunkte oft erst im Nachhinein, weshalb hier versucht wird, die vielleicht dominantesten Tendenzen inhaltlich (und nicht allein nach Disziplinen) voneinander zu unterscheiden. Die Verknüpfung exemplarischer Artikel soll so religiös-theologische Exegesen der Aqedah, politische Dimensionen dieses geteilten Mythos, die philosophisch-ethischen Debatten und schließlich Textur und poetische ›Nachwirkung‹ der Abraham-und-Isaak-Perikope aufschlüsseln.

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»Da prüfte Gott den Abraham.« (Gen 22,1)
Das (Nicht-)Opfer als Basis und Wasserscheide der
monotheistischen Religionen

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Judentum, Islam und Christentum teilen sich die Geschichte des geprüften Abrahams, allerdings mit jeweils eigener Stoßrichtung. Während die jüdische Tradition in Isaak den bereits verkündeten (und neben Abraham und Jakob dritten) Erzvater des Volkes Israels personifiziert und in dessen existenzieller Bedrohung das jüdische Martyrium figuriert sieht, der es mit Glaubensgewissheit und Gottvertrauen zu begegnen gilt, deutet das Christentum die Szene typologisch als Urbild des Kreuzestodes und der Erlösung. 2 In der Bibel steht, wie Thomas Naumann eindrücklich nachweist, die Perikope der Aqedah im Kontext der gesamten Abrahamerzählung (»Die Preisgabe Isaaks. Genesis 22 im Kontext der biblischen Abraham-Sara-Erzählung«, S. 19–50). Ihr gehen andere Prüfungen und Verheißungen voraus: das Versprechen der späten Geburt eines Nachkommen aus dem Schoße der siebzigjährigen Sara und dessen eigenen unzähligen Nachkommen, die Verstoßung seines Erstgeborenen Ismael und dessen Mutter Hagar, deren Rettung und schließlich: die Forderung des der gerade gemachten Verheißung widersprechenden Opfers »des einzigartigen, den du lieb hast, de[s] Isaak« (Gen 22,1). Das Skandalon dieser Forderung bringt Stéphane Mosès auf den Punkt (»Die Opferung Isaaks in der jüdischen Tradition«, S. 51–72):

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Wie konnte [Abraham] akzeptieren, daß der Gott, der ihm eine Nachkommenschaft, so zahlreich »wie die Sterne am Himmel und de[r] Sand am Meeresstrand« versprochen hatte, ihm plötzlich befiehlt, den Sohn, der zur Erfüllung dieser Verheißung bestimmt ist, zu opfern? (S. 61)
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Mosès führt aus, wie die jüdische Tradition diese Frage mit dem Entwurf einer ambivalenten göttlichen Stimme beantwortet hat, und weist dazu auf den Namenswechsel Gottes innerhalb der Perikope hin: Fordert zu Beginn »der Gott« (Ha-Elohim), der Gott der Strenge in der jüdischen Überlieferung, das Opfer, so verhindert am Höhepunkt der Engel »des Herrn« dessen Durchführung. Die eigentliche Prüfung wäre es demnach, diese Ambivalenz nicht als Macht des Bösen zu deuten, sondern in der Stimme der eingreifenden Instanz die »Stimme des liebenden Gottes, der [Abraham] bis dahin geleitet hatte« (Mosès, S. 58) hindurchzuhören. Dieses paradoxe Gottesbild als Gottesfinsternis des zugleich feindlichen und rettenden Gottes ist – so Naumann – nur aus der Perspektive der (israelitischen) Leser und Nachkommen Isaaks auflösbar: durch die Gewissheit der Verheißung und das Eingestehen der mangelnden, da menschlichen Einsicht in ihren göttlichen Weg. Das Opfer verschiebt sich so von Isaak auf Abraham selbst, der – wie es der Psychiater Gunther Klosinski ausdrückt – seine »Größenphantasien« aufgeben muss, um aus der »narzißtischen Verletztheit« in die Demut gegenüber Gott zurück zu finden (»Abrahams Infantizidversuch. Psychodynamische und interpretative Annäherungen aus der Sicht eines Kinder- und Jugendpsychiaters«, S. 185–195, hier: S. 192 und S. 193).

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Bei Luther findet diese exemplarische Niederschlagung der menschlichen ratio im Namen der »Kontrafaktizität des Glaubens« ihren stärksten Widerhall (Johann Anselm Steiger: »Ad Deum contra Deum. Zur Exegese von Genesis 22 bei Luther und im Luthertum der Barockzeit«, S. 135–154, hier: S. 140): Steiger referiert, wie Luthers Auslegung der tentatio auf eine der oboedientia-Tradition der Kirchenväter widerstrebende Betonung der fides hinausläuft. Als wahrhaft Glaubender und deshalb Versuchter ist Abraham prominentes exemplum: Gerade die Menschlichkeit des Leidens Abrahams werde dabei von Luther für die Hörer hervorgehoben. Die Lehre dieser affektiven Lesart lautet nach Steiger: Für den Gläubigen gilt es, den logisch nicht auflösbaren Widerspruch des Gottes, der »widder sich selbst redet« (Luther, WA 24, 382,13), im und durch den Glauben – den Glauben an die »theo-logische« (S. 148) Durchkreuzung jedes Widerspruchs durch die Menschwerdung Gottes – zu durchbrechen. Die Theo-Logik der Aqedah wird also als Präfiguration von Menschwerdung, Opfer, Tod und Auferstehung Christi deutbar. Der Widerruf der promissio in der Konfrontation Gottes mit Abraham werde dabei (zumindest bei Luther selbst) als bewusster Selbstwiderspruch Gottes ausgelegt, dem der Gläubige seinerseits – so Steiger – im Streit contra Deum widersprechen müsse. Erst der Streit gegen die zweite Stimme macht es möglich, aus der Logik des Empirischen (dieser Stimme) aus- und in den wahren, kontrafaktischen Glauben einzutreten.

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Im Islam spielt die Episode der Aqedah durch ihre Kontextualisierung innerhalb des Korans ebenfalls eine exemplarische Rolle: Lutz Richter-Bernburg schildert, wie Abraham hier in einer Reihe mit Anderen, die von Gott gerettet und belohnt wurden, als einer der »Rechtschaffenen« figuriert (»Göttliche gegen menschliche Gerechtigkeit. Abrahams Opferwilligkeit in der islamischen Tradition«, S. 243–255). Im Koran stellt Gott Ibrahim in der Sure 37,102–113 mit einem »Traumgesicht« (37,105) auf die Probe: Gemeinsam mit dem Sohn fügt sich der Geprüfte in das von Gott dort Verlangte. Im Koran wird allerdings anders als im Bibeltext der zu opfernde Sohn nicht beim Namen genannt. Daran anknüpfend arbeitet Richter-Bernburg Positionen prominenter Exegeten des Koran heraus, die zeigen, zu welchen Interpretationskonflikten die Frage führte, ob tatsächlich Isaak bzw. Ishak (der Sohn Saras und Zweitgeborene Abrahams) oder nicht vielmehr Ismael bzw. Ismail (Sohn Hagars und Erstgeborene Abrahams) von Gott als Opfer bestimmt sei. Der Unterschied ist nicht unwesentlich: Trennen sich doch in den rivalisierenden Brüdern die israelitischen und arabischen Stämme aus einem gemeinsamen, väterlichen Ursprung. Eine Rivalität, die – wie Mosès in seinem Beitrag betont (S. 53) – im Lande Israels weiter lodere.

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Das ›Isaak-Opfer‹ als offene Wunde.
Politische Dimensionen eines geteilten Mythos

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Die Brisanz der Konfrontation jüdischer, christlicher und islamischer Auslegungen wird gerade in Hinblick auf die heutige Situation sichtbar: Insofern vermisst man eine genuin dialogische Auseinandersetzung der religionswissenschaftlichen Beiträge des Bandes. Die Andeutungen auf den zumindest denkbaren Zusammenhang zwischen religiöser Interpretation der Ibrahim-Figur als gehorsamen Vollzieher im Islam und der religiös motivierten Gewalt der ›Selbstaufopferung‹ im 21. Jahrhundert, auf anti-islamische, anti-christliche und anti-jüdische Propaganda bleiben vage. Auch die Rivalität der (in der Geschichte zahlreichen) ›feindlichen Brüder‹ auf dem Boden Palästinas wird vor allem andernorts thematisiert.

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Historisch und kunsthistorisch relevant ist hier der Beitrag von Bianca Kühnel (»Abrahams Opfer als Chiffre des Tempels. Ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur jüdisch-christlichen Polemik«, S. 73–91). Sie untersucht die Ikonographie frühbyzantinischer Darstellungen der Aqedah unter anderem hinsichtlich der lokalen Marker, die der Szene beigegeben sind. Während im 5. Jahrhundert nach Christus die christliche Darstellung in Hinblick auf die typologische Ausdeutung den Berg Moriah als Golgatha stilisiere, werde in der jüdischen Gegenreaktion der locus der Bindung Isaaks laut Kühnel eindeutig als Tempelberg in Szene gesetzt. Kühnel schlussfolgert daraus eine künstlerische Gegenreaktion auf die räumliche, ideologische und topologische Usurpation Jerusalems, die einen Ursprungsmythos des Volkes Israels auch bildlich in den Mythos Christi einspeise. Die Brisanz der (politisierten) Bildersprache unterstreicht auch Monika E. Müllers Ausstellungskommentar zum Südportal von San Isidoro in León (»Kirchenportal und Propaganda. Isaaks ›Opferung‹ am Südportal von San Isidoro in León«, S. 273–277). Auch zur Zeit der spanischen Reconquista wurde ihr zufolge die Darstellung der (hier christlichen und moslemischen) ›feindlichen Brüder‹ Isaak und Ismael zu Propagandazwecken benutzt: Die Gegenüberstellung des kriegerischen Ismael, »durch einen Turban und das besondere Reitgeschirr offensichtlich als Moslem gekennzeichnet« (S. 274), und des als Christus symbolisierten Isaak, sowie der Mütter Hagar (als Personifikation des Lasters) und Sara (als Ecclesia), sei deutliches Zeichen für die ideologischen und militärischen Auseinandersetzungen zwischen Moslems und Christen auf spanischem Boden. Kunst im »sakralen Kontext« (so Teil 1 der Ausstellungskommentare) werde hier zum öffentlichen Politikum.

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Den Weg einer neuen Politisierung gehen schließlich israelische Dichterinnen der siebziger Jahre, die sich den männlichen Topos der Aqedah aneignen, um Schmerz über den Verlust ihrer Söhne auszudrücken – so Ruth Kartun-Blum über die »Political Mothers. Women’s Voice and the Binding of Isaac in Israeli Poetry« (S. 93–108). Die bemerkenswerte Abwesenheit Saras im Text der Bibel biete ihnen den Anknüpfungspunkt einer weiblichen relecture, die entweder eine neue Martyrologie oder die Ablehnung der Opferung zum Ausdruck bringen kann. Mit Jacques Derrida 3 betont Kartun-Blum abschließend, dass die Ausschließung Saras aus der biblischen Textur eine notwendige ›Opferung‹ der Frau darstelle, die den männlichen Mythos erst ermögliche. An diesem Punkt stellt sich die Frage: Wie lesen wir in Zeiten der Rebellion gegen diese männliche, aber auch gegen die göttliche Autorität das mangelnde Aufbegehren gegen das wie auch immer geartete Opfer?

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Bindung an die Ethik?
Abraham und die Ausnahme bei
Kierkegaard und Derrida

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Der Text Derridas zieht sich gemeinsam mit Kierkegaard wie ein subkutaner roter Faden durch eine Vielzahl der Beiträge. Diese Linie wird vom ersten Aufsatz des Bandes eröffnet, Hermann Deusers Lektüre von Genesis 22 aus »aufgeklärter Distanz« (»›Und hier hast du übrigens einen Widder.‹ Genesis 22 in aufgeklärter Distanz und religionsphilosophischer Metakritik«, S. 1–17). Derridas Auseinandersetzung mit Kierkegaards Furcht und Zittern dient darin als postmoderne Reflexionsstufe einer modernen Skepsis gegenüber der mangelnden Auflehnung des gottesfürchtigen Abraham.

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Deuser legt eine Filiation des skeptischen Aufbegehrens offen, die sich von Kant zu Kierkegaard und Derrida zieht. Im Streit der Fakultäten von 1798 pochte ersterer darauf, Abraham hätte Einspruch gegen die Göttlichkeit der ihm befehlenden Stimme einlegen müssen; damit erhebt er in »Distanz zur göttlichen Autoritätsprämisse [...] diesen Einwand menschlicher Vernunft zum modernen Standard« (S. 3). Daran anschließend zeigt Deuser mit Kierkegaard die Zusammenhänge zwischen Ausnahme und allgemeinmenschlicher, ethischer Verallgemeinerung bzw. die Verknüpfung von Paradox und Religiosität an den Grenzen der bloßen Vernunft (vgl. S. 6). Dagegen spiele in Derridas Kierkegaard-Lektüre gerade die Ausnahme, die keine allgemeine Ethik zu begründen scheint, die Rolle des ethischen Nukleus des Religiösen. Die auf die Resignation folgende Innerlichkeit des mysterium tremendum setzt Derrida zufolge den Einzelnen in ein neues Verhältnis zum Absoluten und macht ihn in einer Umkehrbewegung ›unvertretbar‹: »Ebenso wie niemand an meiner Stelle sterben kann, kann niemand eine Entscheidung, das, was man eine Entscheidung nennt, an meiner Stelle treffen.« (Jacques Derrida, »Den Tod geben«, S. 386) Diese Argumentation führt zu dem, was Deuser als die »teleologische Suspension des Ethisch-Allgemeinen« kritisiert. Damit werde ihm zufolge die Individualität der persönlichen Verantwortung »inkommensurabel für den philosophischen Begriff« (S. 8) und münde notgedrungen in eine Unkommunizierbarkeit des Glaubens, ein »Geheimnis, das Schweigen verlangt, weil Widersprüchliches keiner Verallgemeinerung zugänglich ist« (S. 11). Deuser schließt mit einer deutlichen Kritik an Derridas Verallgemeinerung der Ausnahmesituation, seiner Vereinheitlichung von Ethik und Religion. Demgegenüber führt er entschieden ins Feld, jeder Mensch sei nur dann wie Abraham, wenn es um einen religiösen Erfahrungshorizont gehe – nicht jede Erfahrung sei gleich paradox und mache jeden Menschen automatisch zum versuchten ›Freund Gottes‹.

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Die Textur eines Mythos.
Zeichen und Zeugen des Unaussprechlichen

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Am Anfang des Bandes wurde der Dialog hervorgehoben hinsichtlich der disziplinenübergreifenden Diskussion einer Szene, die auf ihrer Textoberfläche viel Schweigen, aber auch Dialog enthält. Mehrfach, so bei Thomas Naumann, wird darauf hingewiesen, dass Abraham den Großteil der dreitägigen Wegstrecke mit Isaak schweigend zurücklegt – und wie er das Faktum der »Bindung« gegenüber dem Sohn und den Knechten verschweigt. Bleibt Abraham stumm, weil das von ihm Verlangte schlicht unsäglich ist? Oder geht er in den wenigen Dialogen davon aus, dass Gott letzten Endes die Tat nicht von ihm verlangen wird – weiß er also an dieser Stelle des Textes so viel wie der (israelitische) Leser, dem der Ausgang der Geschichte bekannt ist? Naumann geht ausführlich auf diese Fragen ein.

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Der hermeneutische Fokus zeigt sich bei ihm als kritischer Blick auf die Textur der Erzählung: der Geschichte einer verhinderten Opferung. Dabei nehmen gerade Wissen, Nicht-Wissen und Mehr-Wissen, Schweigen und Zeigen eine zentrale Rolle ein. Aus dem Dialog der Aufsätze könnte man zusammenfassen: Das Mehr-Wissen des Lesers der Aqedah holt diesen automatisch in ein Geschehen hinein, das als exemplarische Glaubensprüfung oder Kernfigur christlicher Heilslehre gedeutet wird – was dabei nicht ausgesprochen werden kann, entfaltet sich im Rezipienten. Die Stilistik des Verschweigens schließt den Text nach jüdischem und christlichem Verständnis nicht automatisch gegen das Verstehen ab; sie provoziert vielmehr den »leidenschaftlichen« Nachvollzug, den innerlichen Entwurf des Glaubens. Die »Voyeure[ ]« der Aqedah – so Naumann – können sich dabei im Moment der Gefährdung gleichzeitig der Erlösung gewiss sein, und werden so zu Zeugen des göttlichen Ratschlusses. Das Sehen als »Begriff der Rettung« (S. 42) – Abraham nennt den Berg Moriah »Jhwh ersieht sich«, lässt sich sehen (Gen 22,14) – speise sich in seiner Bedeutung aus dem Bezug auf die vorangehende Szene von Probe und Rettung in Genesis 21: die Hagars und Ismaels in der Wüste, in der Gott Hagar im Moment tiefster Verzweiflung die Augen öffnet und sie einen Brunnen sehen lässt (Gen 21,19). Die narratologische Verknüpfung von Genesis 21 und Genesis 22 in diesem, dem zweiten Aufsatz des Bandes zeigt sich also im Nachhinein als hermeneutischer Schlüssel zu einer klimaktischen Gottesschau, die auf der Textoberfläche mit der Bedrohung Isaaks in das Motiv äußerster Gefährdung (auch der Zukunft des Volkes Israel) mündet und im Dialog von Text und Leser/Hörer das ins Innere des Rezipienten verlagerte »Sich-Sehen-Lassen« Gottes inszeniert.

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Diese Inszenierung ist dabei wesentlich an (angedeuteten, verweigerten oder echten, auf jeden Fall: inszenierten) Dialog, Stellvertretung und die Anwesenheit von Zeugen geknüpft. Dieser in sich bereits theatralische Entwurf begünstigt die Transponierung des Modells des stellvertretenden Opfers auf den Boden der Bühne. Insofern stellt sich Bernhard Greiners Beitrag schlüssig als Erweiterung des Aqedah-Motivs auf das allgemeine Motiv der Stellvertretung dar (»Die Stellvertretung im Opfer. Figurationen ihres Entwurfs und ihrer Rücknahme: Iphigenie (Euripides/Goethe) und Elektra (Hofmannsthal)«, S. 155–169). In dieser fundierten Analyse entschlüsselt Greiner die auf der Bühne zur Darstellung gebrachte Verschiebung vom Menschen- zum Ersatz- und Tieropfer (ihrerseits eine Stellvertretung), die als göttliche Reaktion auf die Uneinsichtigkeit der Menschen die menschliche Gewalt aussetze und in einen Zeichenprozess verwandle. In der Zeichenhaftigkeit des Opfers am Ende von Euripides’ Iphigenie auf Tauris sieht Greiner dann den wesensursprünglichen Zusammenhang von Theater und Opfer verwurzelt und die Tragödie als »in die Welt des Theaters verschobenes stellvertretendes Menschenopfer« (S. 161). In der Iphigenie auf Aulis bei Goethe schließlich gelingt nach Greiner die Heilung Orests durch ein »kathartisches Theater im Theater« (S. 162), eine metatheatrale Inszenierung Iphigenies, die den Muttermord des Bruders mit von Stellvertretern besetzten Positionen nachvollziehe.

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Mit der Erneuerung des Theaters um 1900 aber fällt dieses in den Gestus einer Neubegründung gerade aus dem Opfer (und nicht seiner Stellvertretung) zurück. Insofern deutet Greiner Hofmannsthals Elektra als Opfer des Theaters im Theater, das aus diesem wiederaufersteht. Maßgeblich ist hier der von Hofmannsthal hinzugefügte, enigmatische Tod Elektras am Ende des Stückes. Die ›Dienerin‹ von Zeichen und manipulative Rednerin falle am Ende in ein unlesbares Zeichen zurück, nachdem ihr Vorhaben scheitert, die Rücknahme des Mordes an Agamemnon in Form eines sühnenden Opfers zu erwirken. Die Tat des Bruders wird unmotiviertes Gemetzel, weder durch göttliche Bestimmung noch durch Elektras symbolische Rückbindung an die erste Tat initiiert. Gerade durch den Tod der Stellvertreterin Elektra sei jedoch eine Wiedergeburt des Theaters möglich: eine eigentümliche theoretische Aneignung der modernen Verschränkung von Dekadenz und Vitalismus.

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Dieser eindrücklichen Lesart ließe sich ein Detail hinzufügen: Das Opfer bei Hofmannsthal ist, wie David E. Wellbery gezeigt hat, gerade nicht unabdingbar an das Prinzip der Stellvertretung gebunden. Ganz im Gegenteil entwirft Hofmannsthal in dem vom Greiner zitierten »Gespräch über Gedichte« von 1903 eine Opferlogik der Partizipation und diese als Ursprung des dichterischen Symbols. Die Szene, die Hofmannsthal dort beschreibt, gründet gerade auf der Variation der konventionellen Opferer-Opfer-Stellvertreter-Triade – und nicht wie Greiner andeutet, auf ihrer Urform. Im Dunkel der Furcht vor den Göttern und entschlossen zum Selbstmord greift Hofmannsthals »erste[r], der opferte« 4 zum Tier und fühlt dessen Blut an der eigenen Brust hinab rinnen. Hier wird das Sterben nicht stellvertretend vom Tier übernommen, sondern vom Opferer, der sich selbst zum Opfer macht, »wirklich« (S. 41) erlebt. In dieser über das kultische ›Bindemittel‹ des Blutes inszenierten somatisierten Poetik verschmelzen Ich und triebhafte Welt, Individuum und ›Leben‹ im Symbol. 5 Als prosaische Inszenierung eines dramatischen Dialogs über das Wesen des Lyrischen kann das »Gespräch über Gedichte« so tatsächlich im Sinne der Neustiftung gelesen werden – nicht nur der Dichtung, sondern auch des Opfers: als Geburt eines modernen, vom Tod Gottes und der Lebensphilosophie tief beeindruckten Opferbegriffs.

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Grenzen eines
»Dialogs über das Unaussprechliche«

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Wie gelingt nun der »Dialog über das Unaussprechliche«? Im vorliegenden Band entpuppt sich der kulturwissenschaftliche Dialog als fruchtbarer Turmbau zu Babel, vor allem weil er nicht allein die direkte Transponierung eines Motivs und seiner Interpretation von einer Disziplin in die andere angeht, sondern die Beiträge zu den Inszenierungen der Aqedah auf ihrem eigenen Hoheitsgebiet wertvolle Schlüsse ziehen: wie über die Bindung des ethischen, das Opfer des weiblichen Subjekts; die ikonographische Stellvertretung in der bildlichen Formensprache oder das Wesen des Theaters. Damit ›partizipieren‹ sie alle an der strukturellen Matrix der Aqedah, um mit Hofmannsthal zu sprechen. In diesem Sinne zeigt sich kulturwissenschaftlicher Dialog von seiner besseren Seite, auch wenn die methodische und terminologische Inkorporierung des Opferbegriffes noch zu hinterfragen bliebe. Dass eine Kritik am Opfer und seiner propagandistischen Fortschreibung meist auf den Bereich der Kunst beschränkt bleibt, kommt dabei außerdem als problematische Verschiebung auf eine andere, z.B. literarische Stimme daher, welche die Abgründe des Dialogs vermeidet.

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Zuletzt noch ein Kommentar zur Gestaltung: Neben seiner fehlenden Gliederung vermisst man insbesondere den tatsächlichen Ertrag des Dialogs vor Ort, etwa in Gestalt von Diskussionsprotokollen. Sie könnten dem ansonsten in sich abgerundeten Band eine zusätzliche Tiefe und auch – zum Beispiel hinsichtlich der politischen Implikationen des Themas – ein deutlicheres Standing verleihen. Dies und auch die mangelnde Qualität der Bindung werden allerdings durch den Apparat am Ende des Bandes teilweise aufgewogen: In einem ausführlichen Register und der Versammlung der wichtigsten Materialen hat der Leser die einschlägigen Stichworte und Texte zur Aqedah immer parat. Dies in Verbindung mit den Ausstellungs-Kommentaren und den in den Band aufgenommen zahlreichen Abbildungen machen ihn trotz seiner Stolpersteine zu einer dichten Dokumentation und einem guten aktuellen Einstieg in ein weiterhin dialogfähiges Thema.

 
 

Anmerkungen

Hier verwirrt ein Lapsus in der Endredaktion: Der Buchrücken und diverse Verweise in einzelnen Artikeln geben das Datum korrekt an, an prominenter Stelle im Vorwort wird allerdings das Jahr 2002 als Jahr der Tagung bezeichnet.   zurück
Die ›Verwandlung‹ der Typologie wird im Band hervorragend ausgeführt in dem Beitrag von John Lowden zu »The Sacrifice of Isaac in the Bibles Moralisées«, S. 197–241.   zurück
Jacques Derrida: »Den Tod geben«. In: Anselm Haverkamp (Hrsg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 331–445.   zurück
Hugo von Hofmannsthal: »Das Gespräch über Gedichte« [1903]. In: Ders.: Der Brief des Lord Chandos. Erfundene Gespräche und Briefe. Frankfurt/M.: Fischer 2002, S. 33–47, hier: S. 40.   zurück
Vergleiche die Lektüre von David E. Wellbery: »Die Opfer-Vorstellung als Quelle der Faszination. Anmerkungen zum Chandos-Brief und zur frühen Poetik Hofmannsthals«. In: Hofmannsthal Jahrbuch. Zur europäischen Moderne 11 (2003), S. 281–310.   zurück