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Fortschritt durch Völkermord

Medardus Brehls verdienstvolle Studie
zur deutschen Kolonialliteratur

  • Medardus Brehl: Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur. (Genozid und Gedächtnis) Paderborn: Wilhelm Fink 2007. 256 S. 4 Abb. Kartoniert. EUR (D) 28,90.
    ISBN: 978-3-7705-4460-8.
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Die Arbeit im Kontext
der bisherigen Forschung

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Im Zentrum von Medardus Brehls kürzlich abgeschlossener Dissertation steht die Analyse der zeitgenössischen Belletristik über die deutsche Gewaltherrschaft in ›Südwest‹ und insbesondere über den Genozid an den Herero. Seine am Institut für Diaspora- und Genozidforschung der Bochumer Ruhr-Universität entstandene Studie stellt somit ein notwendiges Komplement zu den zahlreichen im Umfeld des Gedenkjahres 2004 publizierten historiographischen Arbeiten dar. 1 Überdies gelangt die Arbeit zu deutlich weiter reichenden Erkenntnissen als die drei grundlegenden, allesamt vor mehr denn zwanzig Jahren entstandenen Monographien zur deutschen Kolonialliteratur von Joachim Warmbold, Sibylle Benninghoff-Lühl und Amadou Booker Sadji. 2 Während diese grosso modo einer ideologiekritisch orientierten Forschungstradition zuzurechnen sind, nähert sich Brehl seinem Thema unter diskursanalytischer Perspektive und im Rekurs auf den ›New Historicism‹.

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Brehl ist es mithin keineswegs darum zu tun, den ›propagandistischen‹ Charakter der von ihm untersuchten Werke zu entlarven, indem er sie mit der ›historischen Realität‹ konfrontiert. Vielmehr erkundet er – wie es in der Einleitung heißt – die »sprachlichen Strategien, mit denen die Vernichtung der Herero […] in der Öffentlichkeit des Deutschen Kaiserreichs legitimiert wurde.« (S. 10) Dabei will er vorführen, wie die dem Völkermord vorgelagerte »Exklusion der Opfergruppe« (S. 18) aus dem Geltungsbereich bestimmter ethisch-moralischer Vorstellungen vonstatten ging und welche Rolle literarischen Texten in diesem Zusammenhang zufiel. Darüber hinaus strebt Brehl an, die Anschlussfähigkeit sozialdarwinistischer Theoreme an das Weltbild breiter Schichten der wilhelminischen Gesellschaft nachzuweisen.

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Nachdem er dieses Vorhaben erläutert hat, setzt sich Brehl zunächst souverän mit der älteren geschichts-, kultur- und literaturwissenschaftlichen Forschung zum Genozid an den Herero beziehungsweise seinen textuellen Repräsentationen auseinander (S. 19–42). Insgesamt gerät dieser Abriss sehr instruktiv, wenngleich es ein wenig pflichtschuldig wirkt, dass Brehl etwa auch die seit langem weithin diskutierten theoretischen Konzepte Edward Saids und Homi Bhabhas referiert, ohne sie für den eigenen Ansatz entsprechend fruchtbar zu machen.

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Der theoretische und
begriffliche Rahmen

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Im zweiten Kapitel der Studie wird der theoretische Ansatz spezifiziert. Im Einklang mit dem wissenschaftstheoretischen Mainstream bemerkt der Autor, »daß die eigentlichen Kontexte literarischer Codierungen historischer Erfahrungen nicht im realen Geschehen zu suchen sind, sondern in den sozio-kulturellen und diskursiven Rahmungen, die Wahrnehmung und Codierung dispositionieren« (S. 49), wobei die Literatur ihrerseits auf die Verfasstheit dieser »Rahmungen« wirke. Dabei wendet sich Brehl gegen die bisher zu enge Fassung des Terminus ›Kolonialliteratur‹. Mithilfe einschlägiger Beispiele gelingt es ihm, zu plausibilisieren, dass gerade die »Heterogenität der Genres und die Disparatheit der […] Hintergründe der Textproduzenten« (S. 71) als Merkmale der Gattung anzusehen seien. Der ›Kolonialdiskurs‹ wiederum müsse als »die Gesamtheit der zeitgenössischen Rede über die Kolonien« definiert werden, sofern diese »konventionalisiert[ ] und institutionell sanktioniert[ ]« worden sei (S. 64). Für zentral erachtet er es, »das Regelsystem« (S. 66) zu erschließen, dem diese Rede unterworfen war.

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Insgesamt gehen Brehls heuristische Ausführungen kaum über das hinaus, was als Konsens einer sich auf die Schriften Foucaults berufenden Literaturwissenschaft gelten kann. In Anbetracht dessen geraten sie etwas zu umfänglich, wenngleich das Bemühen um methodologische Transparenz grundsätzlich verdienstvoll ist.

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Konzeptionelle Inkonsequenz

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Im dritten Kapitel skizziert Brehl in chronologischer Ordnung die Politik des deutschen Kolonialismus, wobei er sowohl die Metropole als auch ›Südwest‹ im Auge behält. Die aktuelle geschichtswissenschaftliche Forschung fasst er ebenso kritisch wie kompetent zusammen, und dennoch ergibt sich ein Problem: Es wird nicht einsichtig, wie Brehls im Wesentlichen realhistorische Ereignisse referierende Darstellung sich in das theoretische Konzept einfügen soll, das er zuvor umrissen hat. Vor allem sein nachgerade positivistisches Operieren mit den Mitgliederzahlen der Kolonialverbände (vgl. S. 84–85) oder der Anzahl der deutschen Siedler in ›Südwest‹ (vgl. S. 92) verträgt sich schwerlich mit der zuvor vertretenen Ansicht, auf die ohnehin niemals zweifelsfrei zu rekonstruierenden tatsächlichen Ereignisse komme es weit weniger an als auf ihre »diskursiven Rahmungen«.

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Der ›Herero-Aufstand‹ als
Diskursereignis und literarisches Sujet

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Mit dem vierten Teil von Vernichtung der Herero setzen dann jene konkreten Textanalysen ein, die ausschlaggebend dafür sind, dass Brehls Arbeit ungeachtet der bislang vorgebrachten Einwände als äußerst wertvoll zu beurteilen ist. Der Autor gibt zunächst einen konzisen Überblick über die gewaltige Menge längst vergessener belletristischer wie autobiographischer Werke, die ab 1904 erschienen und den ›Hererokrieg‹ zu einem »regelrechte[n] Diskursereignis« (S. 102) werden ließen (vgl. S.102–123). Brehl weist nach, dass beide Textsorten fast durchgängig einem standardisierten Plot folgen: Eingangs berichten sie von der Überfahrt eines männlichen Protagonisten nach ›Südwest‹ und seiner Enttäuschung bei der Ankunft in der Hafenstadt Swakopmund, später erzählen sie von der ersten Begegnung mit ›den Schwarzen‹ sowie der »Bewährung in der Fremde« (S. 116), das heißt von der Teilnahme des Helden am Krieg gegen die Herero.

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Im Anschluss wendet sich Brehl dem von der Literaturwissenschaft sehr wohl intensiv wahrgenommenen Roman Peter Moors Fahrt nach Südwest (1906) von Gustav Frenssen zu, der »erfolgreichste[n] zeitgenössische[n] Publikation über den ›Herero-Aufstand‹« (S. 124). Überzeugend erörtert er die Authentifizierungsstrategien, auf die Frenssen zurückgreift, um seinen fiktionalen Text in den kolonialpolitischen Diskurs einzugliedern; zudem liefert Brehl erstmals eine präzise Beschreibung der komplexen Erzählsituation des Romans (vgl. S.129).

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Es folgt ein knapp gehaltener Exkurs über die nach dem Ende des wilhelminischen Reichs entstandene Literatur über den Kolonialkrieg (vgl. S.135–142). Manches kommt hier vielleicht ein wenig zu kurz. So erführe man gern mehr über Gerhard Seyfrieds 2003 erschienenen Roman Herero, insbesondere über die ihm inhärenten kolonialapologetischen Tendenzen. Denn immerhin hat Seyfrieds populäres Werk entscheidend dazu beigetragen, dass die Geschichte des ›Hererokriegs‹ in jüngster Zeit eine gewisse mediale Aufmerksamkeit erfahren hat.

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Der Genozid als
Fortschrittsprogramm

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Das fünfte Kapitel von Brehls Monographie ist nicht allein das umfangreichste, sondern auch das bemerkenswerteste. Beleuchtet werden die beiden zentralen Argumentationslinien, mittels derer die versuchte Annihilation der Herero legitimiert wurde. Der Autor kann belegen, dass der koloniale Diskurs – anders als es die ältere Forschung suggeriert – mitnichten ein ›reaktionärer‹ war, im Gegenteil: Der Völkermord wurde einerseits als Bedingung für historischen Fortschritt, andererseits als Weg zur Herstellung einer modernen nationalen Identität aufgefasst.

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An Peter Moors Fahrt nach Südwest zeigt Brehl, inwiefern Frenssens Roman sich von allen missionarisch-paternalistischen Rechtfertigungen kolonialer Expansion distanziert und stattdessen auf »ein allgemeines, dem teleologischen Verlauf der Geschichte inhärentes Gesetz von Rassenkampf und Zivilisationsprozeß« (S. 156) rekurriert. Damit wurde er stilbildend für eine ganze Reihe von Texten. Nur durch die Eliminierung ›minderwertigen Lebens‹, so deren Tenor, könne der Fortschritt der Menschheit erreicht und gesichert werden.

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Dem Aspekt der kollektiven Identitätskonstruktion nähert sich Brehl, indem er Entwürfe bipolarer »›Freund / Feind‹-Muster« (S. 166) als typisch für den deutschen Kolonialdiskurs herausstellt. Neben Bernhard Voigts Romantrilogie Der Südafrikanische Lederstrumpf (1932–36) und einigen nicht-fiktionalen Publikationen fungiert abermals Frenssens Roman als Demonstrationsobjekt. Die »Etablierung eines homogenen Volkskörpers in Identität mit sich selbst« (S. 189) werde dort durch die Herstellung einer ontologisch begründeten Opposition von Eigenem und Fremdem erreicht, also dadurch, dass den Figuren der Afrikaner »ein ›existentielles Anderssein‹« (S. 190) zugeschrieben wird. Frenssen konstelliere »Oppositionspaare[ ]« wie »›Wildnis / Kultur‹ und ›Ordnung / amorphe Masse‹« (S. 205), um die vollständige Überlegenheit des ›deutschen Wesens‹ zu markieren und zugleich die Auslöschung der ›rückständigen‹ Herero als nicht bloß legitim, sondern zwingend notwendig zu kennzeichnen: »Völkermord wird als Beitrag zur Generierung einer zukünftigen Menschheit stilisiert, zum moralischen Handeln und zu einem Moment sittlicher Reifung.« (S. 217)

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Als die größte Gefahr, die der kollektiven Identität der Usurpatoren droht, beschreibt Brehl folgerichtig das Phänomen der »Rassenmischung« (S. 190). Obwohl deutsche Kolonialpolitiker sie stets als ein zentrales Problem behandelt hätten, seien Figuren von ›Halbblütigen‹ in der Kolonialliteratur nur höchst selten anzutreffen. Doch verweise die daraus resultierende auffällige »Leerstelle« (S. 191) auf nichts anderes als die mit allen Mitteln zu verhindernde »›drohende‹ Anwesenheit« (S. 192) des ›Mischlings‹. Diese Argumentation klingt zweifellos plausibel, es drängt sich allerdings die Frage auf, ob sie auf einer zutreffenden Beobachtung basiert. Denn Brehl führt einzig Hans Grimms Wie Grete aufhörte ein Kind zu sein (1913) als »Ausnahme« (S. 191) an, eine Erzählung, die in aller Direktheit vor der ›Bastardisierung der weißen Rasse‹ warnt. Demgegenüber ließe sich unschwer eine Vielzahl weiterer Texte benennen, die das ›Mischlings‹-Problem zum Thema haben – etwa Grimms Novellen Dina (1913), Die Geschichte vom alten Blute und der ungeheuren Verlassenheit (1931) und Das Haus in der Steppe (1931) sowie sein berühmt-berüchtigter Bestseller Volk ohne Raum (1926). Das Gros der von Brehl untersuchten Veröffentlichungen mag somit ohne die Erwähnung von ›Halbblütigen‹ auskommen: Im Werk des mit Abstand auflagenstärksten deutschen Kolonialschriftstellers sind sie durchweg deutlich präsent – und damit auch im Bewusstsein der zeitgenössischen Rezipienten.

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Insofern entsteht der Eindruck, als sei Brehls Studie gelegentlich allzu stark auf das »Szenario […] unversöhnlicher Antagonismen« (S. 219) zwischen ›Schwarzen‹ und ›Weißen‹ fokussiert, die der Kolonialdiskurs produzierte. Spannend wäre es gewesen, etwas mehr Gewicht auf jene Momente zu legen, in denen die allgegenwärtigen binären Codierungen unterminiert werden. Angesprochen sind damit sowohl literarische Darstellungen von sexuellen Transgressionen der ›Rassengrenze‹ als auch von Formen der Mimikry, 3 wie sie sogar in Peter Moors Fahrt nach Südwest zu finden sind.

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Resümee

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Trotz einzelner Schwächen und Inkonsequenzen dürfte Brehls Studie Vernichtung der Herero zu einem Standardwerk der germanistischen Kolonialliteratur-Forschung werden. Theoretisch fundiert und auf der Grundlage eines umfangreichen Korpus werden die komplexen Interdependenzen von wissenschaftlichem, politischem und literarischem Diskurs in insgesamt vorbildlicher Weise veranschaulicht und die narrativen Strategien der zeitgenössischen Texte zum ›Hererokrieg‹ erschlossen. Speziell durch den Nachweis der breiten gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit der den analysierten Werken eigenen ›Weltanschauung‹ und die Betonung ihrer modernistischen und progressistischen Elemente fügt Brehls Monographie den Erträgen der bisherigen Forschung wichtige Ergebnisse hinzu. 4 Die lange vernachlässigte, inzwischen aber gründlicher geführte Debatte um den deutschen Genozid in ›Südwest‹ wird durch seine Arbeit entscheidend bereichert.

 
 

Anmerkungen

Vgl. exemplarisch die folgenden Sammelbände: Jürgen Zimmerer / Joachim Zeller (Hg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen. Berlin: Ch. Links 2003. – Larissa Förster / Dag Henrichsen / Michael Bollig (Hg.): Namibia – Deutschland. Eine geteilte Geschichte. Widerstand – Gewalt – Erinnerung. Publikation zur gleichnamigen Ausstellung. (Ethnologica 24) Wolfratshausen: Edition Minerva 2004. – Christof Hamann (Hg.): Afrika: Kultur und Gewalt. Hintergründe und Aktualität des Kolonialkriegs in Deutsch-Südwestafrika. Seine Rezeption in Literatur, Wissenschaft und Populärkultur (1904–2004). Tagung der Evangelischen Akademie Iserlohn vom 09.–11.07.2004. Iserlohn: Institut für Kirche und Gesellschaft 2005. Zudem sind verschiedene Bände zum deutschen Kolonialismus insgesamt publiziert worden.   zurück
Joachim Warmbold: »Ein Stückchen neudeutsche Erd‘ ...« Deutsche Kolonialliteratur. Aspekte ihrer Geschichte, Eigenart und Wirkung, dargestellt am Beispiel Afrikas. Frankfurt/M.: Haag & Herchen 1982. – Sibylle Benninghoff-Lühl: Deutsche Kolonialromane 1884–1914 in ihrem Entstehungs- und Wirkungszusammenhang. Bremen: Verlag des Übersee-Museums 1983. – Amadou Booker Sadji: Das Bild des Negro-Afrikaners in der Deutschen Kolonialliteratur (1884–1945). Ein Beitrag zur literarischen Imagologie Schwarzafrikas. Berlin: Reimer 1985.   zurück
Vgl. dazu Homi Bhabha: Von Mimikry und Menschen. Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses. In: H.B.: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. (Stauffenburg discussion 5) Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 125–136.   zurück
Dies gilt, obwohl einige Passagen der Dissertation bereits als Beiträge zu Sammelbänden veröffentlicht worden sind. Vgl. etwa die folgenden Aufsätze Brehls: M.B.: (Ein)Geborene Feinde. Der Entwurf existentieller Feindschaft im Kolonialdiskurs. In: M.B. / Kristin Platt (Hg.): Feindschaft. (Reihe Genozid und Gedächtnis) München: Fink 2003, S. 157–177. – »Diese Schwarzen haben vor Gott und Menschen den Tod verdient«. Der Völkermord an den Herero 1904 und seine zeitgenössische Legitimation. In: Irmtrud Wojak / Susanne Meinl (Hg.): Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M., New York: Campus 2004, S. 77–97. – M.B.: »Ich denke, ich habe ihnen zum Tode verholfen.« Koloniale Gewalt in kollektiver Rede. In: Mihran Dabag / Horst Gründer / Uwe-K. Ketelsen (Hg.): Kolonialismus, Kolonialdiskurs und Genozid. (Reihe Genozid und Gedächtnis) München: Fink 2004, S. 184–215. – M.B.: Rassenmischung als Indiskretion. Textliche Re-Präsentationen des ›Mischlings‹ in der Deutschen Kolonialliteratur über den ›Hererokrieg‹. In: Frank Becker (Hg.): Rassenmischehen, Mischlinge, Rassentrennung. Zur Politik der Rasse im deutschen Kolonialreich. Stuttgart: Steiner 2004, S. 254–268.   zurück